Alterskultur heute

Dialogabend der Medizinischen Sektion am 22. Oktober 2024.


Warum fällt es uns leicht, Kinder mit Freude und Wärme zu empfangen und zu begleiten, während wir alten Menschen gegenüber diese Empathie erst aktivieren müssen, wenn sie eigen, langsam, hilfebedürftig werden? Mit diesem Gedankenspiel leitete Karin Michael, Mitglied der Leitung der Medizinischen Sektion, den Dialogabend der Sektion ein, der sich mit ‹Fragen der Altersmedizin und Alterskultur heute› auseinandersetzte. Anlass der Veranstaltung am 22. Oktober war die neu gegründete Arbeitsgruppe zum Thema ‹Alterskultur und Altersmedizin› (care 6), die an der Medizinischen Sektion einen weiteren Schwerpunkt für interdisziplinären Austausch darstellt. Weder in der bestehenden Arbeitsgruppe zur Onkologie noch zur Palliativmedizin sei das Thema adäquat versorgt gewesen, sagte Karin Michael, «zumal das Leben mit dem alten Menschen mehr eine Kulturaufgabe ist als eine rein medizinische». Deshalb soll die neue Arbeitsgruppe Expertisen bündeln, um Empfehlungen für in der Alterspflege und -medizin Tätige zu erarbeiten und «eine neue Wärme zu entfalten für diesen besonderen Lebensabschnitt».

Dabei ist interessant, dass ‹Alter› in der Natur spezifisch menschlich ist. Der Biologe Jos Verhulst unterstreicht diesen Gedanken in seinem Buch ‹Der Erstgeborene – Mensch und höhere Tiere in der Evolution› mit der biologischen Tatsache, dass Vögel und Säugetiere bis zu ihrem Lebensende fortpflanzungsfähig bleiben. Es gehöre, so Verhulst, zum Menschen, dass diese Schöpfungskraft sich vom Leben dann für eine eigene Lebensphase zum Geistigen hebe. Die umgekehrte Alterspyramide in vielen Gesellschaften ruft dazu auf, diesem Lebensabschnitt neuen Sinn und Würde zu geben.

Der Leiter der Arbeitsgruppe, Christian Schikarski, war eingeladen, über seine Sichtweisen auf das Alter zu berichten (siehe Interview auf Seite 18). Er stellte dar, dass Psychosomatik im Alter wichtig sei. Denn «Seelenschmerz, der nicht auftauchen darf», manifestiere sich in physischem Schmerz, der oftmals mithilfe von Medikamenten zwar betäubt werde, aber an anderer Stelle wieder hochkomme. Aufgabe der pflegerisch-ärztlichen Begleitung alter Menschen sei es, Raum zu bieten für das Durchleben verdeckter Gefühle. Das gelinge durch geduldige Gespräche und künstlerisches Aufgreifen von Rhythmen und Stimmungen, die auch demente oder ‹sprachlose› alte Menschen ausdrückten, wie Sprachtherapeutin Ulrike Gerharz in der anschließenden Diskussion im Plenum ergänzte. Individuell zu gestaltende Lebensformen im Alter könnten helfen, Würde zu wahren, Wertschätzung zu zeigen und etwas von der Weisheit der Alten zu entdecken.


Die nächste Veranstaltung in diesem Format ist für den 11. März 2025 geplant.

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