Alles aus dem Dunkeln kommen lassen

Last updated:

Zu Weihnachten werden die Mysteriendramen von Rudolf Steiner zum letzten Mal im Goetheanum in dieser Inszenierung aufgeführt. Wir haben Gioia Falk gebeten, uns etwas über die Entstehung des künstlerischen Prozesses zu erzählen. Die Fragen stellte Louis Defèche.


Wie hat deine Arbeit an dieser Inszenierung der Mysteriendramen vor mehr als 15 Jahren begonnen?

Eine Gruppe von Eurythmisten und Eurythmistinnen, die im Jahr 2000 neu ans Goetheanum gekommen waren, fragte: «Kannst du mit uns ‹Farben› machen?» Ich habe gerne zugesagt. Wir haben einige Themen zur Bewegung der Farbe behandelt, und als Letztes kamen die Farben von den Mysteriendramen. In der Regieangabe zur Weltenmitternacht im vierten Drama beschreibt Rudolf Steiner, wie die Seelen erscheinen – die Köpfe immer mit Aura: blau mit orangen Sternen, rötlich, blau-gelb usw. Wir haben uns davon inspirieren lassen, weil das so ungewöhnliche Aufgaben waren. Und großartig, Rudolf Steiner macht Angaben, wie die bewegten Fluten hinten und vorn auf der Bühne das Geschehen einrahmen. Und dann noch ein Rätsel: Dieses «Blau-Gelb» – das ist ja nicht ein Gelb-Blau. Was ist da der Unterschied? Gibt es das überhaupt? Findet man das in der Natur?

Und habt ihr es in der Natur gefunden?

Es ist selten. Bei manchen Sonnenuntergängen ist die Sonne bereits verschwunden, aber das Sonnenlicht überlagert mit den letzten Strahlen noch den Himmel. Das Blau ist schon dahinter, und das Gelb schafft es nicht mehr, voll zu strahlen – es durchtränkt den Himmel nur noch. Das ist aber noch kein Grün. Manchmal gibt es bei Gewitter eine grüne Stimmung, aber hier ist es noch sauber getrennt. Es ist wie ein selbstloses Gelb, das nicht mehr richtig strahlen kann und den Himmel durchlässt. Vielleicht gibt es noch andere Momente, aber wir haben diesen gefunden: nach Sonnenuntergang. Und dann haben wir festgestellt, dass das genau die Angabe von Rudolf Steiner für Theodora ist. Theodora ist im Goethe-‹Märchen› der Vogel, der die letzten Sonnenstrahlen noch zurückstrahlt. Gerade in der Natur einen Moment als Charakterisierung einer ganzen Individualität zu nehmen – das ist bemerkenswert.

Wurde das mit den Farben auch konkret angewendet?

Einmal traf ich den Schauspieler Christiaan Stuten und habe gesagt: «Du, wir haben jetzt in dieser Gruppe die Aura von Capesius ausgearbeitet!» Er war interessiert und erstaunt, war er doch viele Jahre mit den Farben und der Sprache aktiv. Er war damals Regisseur der Mysteriendramen, hatte den Capesius oft gespielt und den Text parat. Die Aura ist blau, und von diesem Blau kommen immer wieder rote oder orange Impulse. Dann haben wir geübt mit ihm. Plötzlich sagte er: «Also, wenn man die Farbe wirklich um sich herum hat, spricht man ganz anders. Ich verstehe auch den Text ganz anders.» Nun waren wir allerdings sehr erstaunt.

Dieses Erlebnis hat mich nicht losgelassen, sodass es dabei nicht blieb: Steiner spricht davon, dass die ganze Weltenmitternacht ein «sinnvolles Farbenfluten» sein soll. «Farbenfluten» – das kann man sich noch abstrakt vorstellen. Die Farben sollen wechseln. Das kennen wir noch: ein neuer Gedanke, eine neue Stimmung. Doch es soll auch «sinnvoll» sein, so die Regieanweisung. Wäre da eine konkrete Gestaltung möglich?

Niemand dachte damals daran, das in die Gestaltung der Mysteriendramen aufzunehmen. Ich lebte in der Zeit als Eurythmistin in der Inszenierung von Christiaan Stuten. Als ich einige Jahre später (2008) die Aufgabe bekam, die Dramen «aus dem Geist der Eurythmie» neu zu inszenieren, habe ich wenig von dem, was wir als Farbqualitäten in die Bewegung umgesetzt hatten, so verwendet. Und doch hat es den Hintergrund des neuen Konzeptes wesentlich geprägt, insbesondere in den Geistgebieten.

Gab es beim Konzipieren weitere ‹Hintergründe› als die Farben?

Das, was den Dramen zugrunde liegt, ist unendlich. Und natürlich war für mich der gedruckte Text die äußere Grundlage. Aber besonders bei diesem Werk ist es die Aufgabe, sich dem Ort zu nähern, von dem es herkommt. Da, wo es lebte und entstand, ist auch die Zukunft, die ganze Anthroposophie ist dieser Weg. Und es gibt ja keinen Widerspruch zwischen den Dramen und der Anthroposophie, alles strebt zum Hintergrund, zum Schaffenden, und das wird dann neu Vordergrund, Offenbarung, wenn es gelingt. Rudolf Steiner beschreibt diesen Weg 1923 für das Künstlerische, wie man sich dem Innersten, dem Kern, der Intuition nähern kann, um dann ursprünglicher zur äußeren Gestaltung zu finden. So wie die Eurythmie versucht, dahin zu gehen, wo das Wort aktuell lebt, so können wir versuchen, dahin zu gehen, wo die Dramen herkommen und aktuell sind. Das ist voller Hintergrund und voller Untergrund.

Was heißt Untergrund?

Zum Beispiel das, was wir weitgehend unterbewusst aufnehmen durch das, was in die Sprache alles hereinkomponiert ist neben dem informellen Gedankengang. Wir sind dem nachgegangen, was wir die Konkordanzen nennen. Es schwingt ganz leise etwas mit bei jedem Vokal, was man musikalisch erfassen kann. Tief klingende und hell klingende Vokale, so wie wir dunkle und helle Farben haben.

Zum Beispiel?

Philia spricht zu zwei Seelen in der Weltenmitternacht, im fünften und sechsten Bild. Zu Johannes sagt sie: «so nütz den Augenblick». Es wird am Ende sehr hell im ‹I›. Denselben Gedanken sagt sie zu Capesius anders: «so nutz die Zeitengunst». Hier gehen wir in die Dunkelheit des ‹U›. Das war für mich ein unmittelbares Erleben. Johannes muss aufwachen. Er muss sich erhellen – wie es im ‹I› offenbar wird. Aber zu Capesius muss man sagen: Nein, du musst noch in dich selbst, du musst noch deine Wurzeln finden – in der Dunkelheit, im ‹U›. Der Gedanke ist derselbe: Sei aufmerksam auf den Moment. Doch Capesius soll in das ‹U› und Johannes in das ‹I›.

Oder Luzifer, der ‹Lichtbringer›, über sich selbst: «Die Wesen, die mich fliehen, lieben mich.»1 Das ist eine Meditation für sich: zehn helle Vokale, nur ‹E› und ‹I›. Versuch das mal eine Weile zu sprechen! Die Konkordanzen wirken aus dem ‹Untergrund› der Dichtung.

Sind so viele Aspekte und Wirkungen nicht verwirrend?

Das erlebe ich nicht. Es ist bei den Dramen gleichzeitig wie bei einem Orchester, das man hören und gut aufnehmen kann, ohne die Einzelheiten zu kennen. Das Drama hat viele Schichten. Mit der Zeit kann man finden, wie verschiedene Ebenen ineinanderwirken. Eine energetische, seelische Ebene, eine Synästhesie, wo Farbe und Klang zusammenkommen. Geistige Wesen sind ständig tätig, und es ist, als ob dieses Leben wie hereinkomponiert ist in die Zeilen, die wir in die Gegenwart zu bringen versuchen.

Wie erlebst du diese Dramen in unserer Zeit?

Mir war aufgefallen, dass gerade das vierte Drama sehr viel von Energien spricht. Das ist modern, aber es ist etwas anderes gemeint, als was wir normalerweise unter Energie verstehen. Unsere Technik hat sich rasant entwickelt seit der Entstehung dieser Dramen. Aber die Fähigkeiten der Hauptpersonen sind sehr viel weiter entwickelt als das, was wir heute allgemein vorweisen können. Zum Beispiel Strader, der da diese Flämmchen um Capesius und Felix sieht. Das sind – gemessen an unserer Zeit – sehr zukünftige Fähigkeiten der Wahrnehmung. Vom Thema her werden technische Fragen der Energiegewinnung, wirtschaftliche Fragen, Betriebsführung angesprochen. Die innere Entwicklung geht aber deutlich weiter als unsere Zeit, es sind Fähigkeiten, die bereits da und dort vorhanden sind, die aber noch eher verhalten erscheinen.

Im Allgemeinen sind wir heute vollgestopft mit Ahriman, und es ist die Frage, wie wir da herausfinden. Du hast in deinem Artikel2 den Vortrag3 erwähnt, der den Weg in die Zukunft aufzeigt; der Musiker als Vorreiter wird erwähnt. Zentral ist es, die Erlebnisse nachzuvollziehen, die mit der Einweihung einhergehen. Die Überwindungen, Befreiungen, die Widerstände und Erlösungen … Man kann es dort als allgemeine Beschreibung finden, in den Dramen wird es konkret vorgeführt.

Eure Inszenierung habe ich als ‹modern› erlebt. Wie ist es dazu gekommen?

Ich habe mich gefragt: Wie wäre es, wenn ich mich von alten Vorstellungen löse? Was sind die neuen Vorstellungen, wenn ich lese? Da kam dieses Bild, dass es immer aus der Stille kommt – immer wieder neu. Nicht Raumverwandlungen, sondern ein dunkler Raum, aus dem alles entstehen möchte. Das hat auch etwas Bedrohliches. Es ist nicht einfach da. Kein Bühnenbild ist einfach da. Wir haben alles immer aus dem Dunkeln kommen lassen. Finsternis ist uns aus der inneren meditativen Arbeit bekannt: Wenn ich die ganze äußere Schönheit weglasse und in diese Finsternis hineintauche, dann finde ich ein inneres Licht.

Ist die Eurythmie für dich ein Hintergrund?

Sie ist für mich Hintergrund und Vordergrund. Immer wieder haben wir in den letzten 15 Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass Rudolf Steiner die Eurythmie für das geeignete Mittel hielt, Übersinnliches in Erscheinung zu bringen. Das habe ich nun vermehrt in die Dramen aufgenommen, nach Anregungen von dem Autor, die wir gefunden haben. Und wir dürfen jetzt aus Erfahrung sagen, dass das auch vielfältig bestätigt wurde, sogar von Menschen aus dem Publikum, die weder die Dramen noch die Eurythmie kannten. Wenn es gelingt, ist es ganz natürlich, ganz ‹stimmig›, wenn die geistigen Wesen durch diese Art von Bewegung ‹sprechen›.

Was ist für dich am spannendsten, wenn du diese Dramen vor Publikum aufführst?

Es gab immer wieder Menschen, die die Dramen zum ersten Mal gesehen haben – Verwandte, Freunde oder ganz Unbekannte. Es interessiert mich ganz besonders, was da passiert. Und ich habe den Eindruck: Nicht nur die Darbietung, auch die Zuschauerinnen und Zuschauer haben sich verändert in den letzten Jahren. Sicher gibt es Verschlossenheit. Aber auch ganz im Gegenteil: immer mehr unvoreingenommene, aufgeschlossene Menschen im Publikum, die das wirken lassen möchten. Alle Zuschauenden bringen etwas Biografisches mit und auch Fähigkeiten, Gefühle und Wahrnehmungen zu haben. Und wir von der Bühnenseite bringen etwas; es braucht keine Vorkenntnis. Was passiert, ist individuell. Mir wurde berichtet: Jemand vermisst sein verstorbenes Kind. Und dann sitzt er in der Vorstellung und spürt: Jetzt ist es da.


Bilder Mysteriendramen 2023, Fotos: Georg Tedeschi

Fußnoten

  1. Rudolf Steiner, Der Hüter der Schwelle, in: Vier Mysteriendramen. GA 14, Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach 2011, 6. Bild.
  2. Louis Defèche, Lernen an der Kälte der Maschine. Das Goetheanum, Nr. 39-40, September 2025.
  3. Rudolf Steiner, Kunst im Lichte der Mysterienweisheit. Acht Vorträge über Kunst. GA 275, Dornach 1990.

Letzte Kommentare