Spiel und Form

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Im Westtreppenhaus des Goetheanum steht die Steinfigur, deren Antlitz zugleich hinein- und hinausspricht. Die Skulptur ist bei Führungen Anlaufpunkt, denn sie erklärt ohne Worte, was Rudolf Steiner 1924 der anthroposophischen Bewegung ins Stammbuch schrieb: «echte wahre Esoterik mit denkbar größter Öffentlichkeit zu verbinden». Dieses Wort spiegelt sich auch in der 2023 von Elke Schmitter, Christiane Leiste und Maike Meyer-Oldenburg, Daniel Häni, Bodo v. Plato und Stephan Nussbaum gegründeten Initiative Public Secrets bis in die Namensgebung. Der freie Zusammenschluss veranstaltet in Berlin, Witten und Basel für Eingeladene Meditationstage, zuletzt im Frühjahr im Unternehmen Mitte in Basel. Was die Mitgliedschaft in der Freien Hochschule an Verbindlichkeit und spirituellem Ernst im allgemein anthroposophisch organisierten Leben verspricht, das schafft hier ein Band von Freundschaft, und viele von Public Secrets sind auf beiden Feldern zu Hause, dem anthroposophischen Leben im experimentellen Spiel und in seinen geformten Bahnen.

In früher Zeit der anthroposophischen Entwicklung bildete sich um Einzelne eine Schülerschaft. So gehörte eine Gruppe junger Menschen zum Pädagogen und Goetheanumvorstand Jörgen Smit, und erst kürzlich traf sich dieser Kreis der heute 70-Jährigen am Goetheanum. Heute, ein oder zwei Generationen später, geschieht ein Zusammenschluss auf Augenhöhe und bildet seine Schicksalsfäden fluider. Jörgen Smit pflegte mit seinem Kreis innerhalb der Jugendsektion am Goetheanum in den 80er-Jahren in Studienwochenenden mit 100 bis 150 Teilnehmenden einen neuen Umgang mit Rudolf Steiners Mantren: Das bedetete, die esoterischen Klassenstunden Rudolf Steiners ins Leben zu holen, indem man sie frei hielt und sich darüber austauschte und sie künstlerisch erweiterte. Was damals nicht wenige irritierte, ist heute gängige Kultur in der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. 1990, als die Gruppe der Jugendsektion die 19 sogenannten Klassenstunden abgeschloss, hatte Rembert Biemond, Mitglied der Gruppe von Jörgen Smit und dessen damaliger Sekretär, die Idee, an einer Tagung den ganzen Bogen der Klassenstunden zu fassen. Jörgen Smit stimmte zu und empfahl, für dieses Experiment einen anderen Tagungsort als das Goetheanum zu finden.

So wählten sie das im Bau befindliche Kulturhaus in Järna als Ort für diese schnell mit 450 Plätzen ausgebuchte Sommertagung von 1991. Jörgen Smit verstarb allerdings am 10. Mai des Jahres und als sein Lebensende für ihn absehbar war, bat er Michaela Glöckler, Sergej Prokofieff, Arne Klingborg und Paul Mackay, die zur Tagung angemeldet waren, an seiner Stelle die esoterischen Stunden zu führen. Vier Minuten, so Rembert Biemond, habe am Krankenbett von Jörgen die Stabübergabe gedauert. Ist die Weihnachtstagung für die Anthroposophie eine Geburt, so ist diese Tagung in Järna 70 Jahre später womöglich eine Jugendweihe des anthroposophisch-esoterischen Lebens. Interessant ist, dass dieses Ereignis seine Impulskraft aus seiner menschlichen Nähe und seiner institutionellen Weite zum Goetheanum schöpft. Hier spiegelt sich das Bild der Befruchtung, bei dem Innen und Außen, Nah und Fern sich miteinander steigern. Mit der Neukonstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Sektion (siehe Gespräch mit Constanza Kaliks und Peter Selg), den Hochschulwochen mit allen 19 Klassenstunden am Goetheanum von der Goetheanumleitung und jetzt der roten Buchreihe wächst, was so in den 80er-Jahren begann, zum Lebensfeld. Die Initiative von Public Secrets vereint wieder beide Seiten, Form und Spiel, denn Verantwortliche der organisierten Anthroposophie sowie frei in ihr Tätige sind darin aktiv. Die Initiative gehört damit zu den Schritten und Sprüngen der Anthroposophie, erwachsen zu werden. Vielleicht ist es da nicht anders als in der eigenen Biografie, wo man plötzlich entdeckt, dass man längst erwachsen geworden ist und dieses Erwachsensein nun beginnt zu erfüllen.


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Foto Sofia Lismont, Philipp Tok, Bildmontage: Fabian Roschka

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