Last updated:

Zwischen Wolken, Licht, Berggraten und meditativer Beschäftigung mit Rudolf Steiners mantrischen Texten entstand für 65 Menschen ein konzentrierter Raum. In ihm verdichteten sich persönliches Ringen, aufeinander Hören und künstlerische Gesten zu einer gemeinsamen Erfahrung. Was hier geschah, war Übung am Schwellenort. Impulsiert und organisiert wurde das Mantren-Retreat von Mitgliedern des Public-Secrets-Ensembles, eine Initative, meditative Kultur und öffentliches Leben zu verbinden.


Wenn man mit spirituellen Texten arbeitet, ist man auf Höhe der Wolken. In diesem konkreten Fall in einem der höchstgelegenen Bergdörfer Europas auf 1900 Metern Höhe: in Chandolin. Adenauer war wohl öfter hier, wie Fotos und Briefe im Hotelflur bezeugen. Das Grandhotel ist seitdem in die Jahre gekommen. Und man kann für einen Aufenthalt auch nur noch das ganze Haus buchen. Eine Gruppe von 65 Menschen sind wir, die im September hier für eine Woche zusammen bleiben wollen – auf Augenhöhe mit den Bergketten, im Auge des Matterhorns, das wie eine Sphinx zu uns herüberblickt, wie jemand sagt. Es ist ein Wiedersehen von Freunden. Es ist ein Kennenlernen von neuen Menschen. Und es ist auch ein Aufeinandertreffen von Menschen, die Spannungen miteinander haben und haben werden in dieser Woche. Also ganz so wie im gewöhnlichen Leben. Der Unterschied speist sich aus der Tatsache, dass wir uns hier versammelt haben, weil wir mit den Mantren der 19 Klassenstunden arbeiten wollen. Wir alle haben unterschiedliche Voraussetzungen, was den Umgang mit den Mantren betrifft, was das Alter betrifft, die Lebensart und den anthroposophischen Hintergrund. Die Absicht, hier gemeinsam etwas Neues zu suchen, in der nötigen Demut und der nötigen Leichtigkeit, ist wie ein Schutzschild gegen ein gewöhnliches Bewusstsein, eine alltägliche Seelenverfasstheit und ein schlichtes Urteilen. Wir leben hier nun eine Woche miteinander und mit den Mantren, herausgehoben aus dem Alltag. Wer hier ist, hat sich Zeit dafür genommen. Manche mit einer Förderung, wenn er oder sie sich den finanziellen Aufwand nicht leisten konnte. Die Fördernden wollten nicht genannt sein. Deshalb geht auch der Dank dafür stellvertretend an die Berge.

Beim Ankommen ist der Himmel wolkenverhangen. Die anfängliche Scheu gegenüber diesem Unterfangen – was wird hier eigentlich geschehen? – legt sich genau in dem Moment, in dem am ersten gemeinsamen Morgen das erste Mal alle 19 Mantren gelesen werden. Im konkreten Vollzug der kommenden Woche hören 65 Menschen jeden Tag gemeinsam etwa eine Stunde lang diesen Gesamtbogen. Die meisten von ihnen haben die Mantren als Ganzes noch nicht gehört, sondern bisher nur einzeln mit ihnen gearbeitet. Am ersten Nachmittag werden wir alle noch durch eine weitere gemeinsame Aktion zusammengeführt. Es ist eine Initiative, die jemand schon im Vorhinein geplant und dazu aufgefordert hat: jede und jeder sollte Wasser mitbringen von dort, wo wir leben oder gerade herkommen. Von ein paar Sätzen zur Herkunft begleitet, füllen wir am ersten Nachmittag die Inhalte unserer Flaschen, Gläser, Phiolen nach und nach in eine große silberne Schale. Dieses Wasser wird am Ende der Woche seinen Weg zurück zu den Wolken finden. Wir werden es im gemeinsamen Vollzug über einem Feuer verdampfen lassen. Der Bogen wird sich gerundet haben.

Tatsächlich klart der Himmel an Tag zwei auf. Die Höhensonne wird unerwartet stark, obwohl Regen angesagt war. Die Suche nach Sonnencreme beginnt, als die erste Wanderung am Nachmittag ansteht. Auf ihr wird mein Körper begreifen, was ihn stützt. Allmählich bekommen alle Farbe. Und die Berge leuchten gletscherüberzogen ringsum. Die Zeit dehnt sich. Langsam und durch den Gang der Tage kommen wir unserem Menschsein näher. Auch den Tieren kommen wir näher – jenen Wesen, die wir erst überwinden müssen, wenn wir über den Abgrund zur wirklichen Erkenntnis gelangen wollen. Hier ist jemand, der schon seit acht Jahren diese Tiere immer wieder zeichnet, mit geschlossenen Augen und der linken Hand. Zur Selbsterfahrung auf die Wiese eingeladen, versuchen wir das auch und teilen unsere Auffassung von ihnen, unsere Fragen und Nöte. Ich denke, das könnte Teil einer anthroposophischen Psychotherapie sein. Wir lachen auch, springen bei Nacht auf dem Weg zum Observatorium über Schwellen und fragen uns, was bewusste Unschuld ist. Manche meditieren am Morgen ein Mantram Zeile für Zeile. Andere untersuchen, was geschieht, wenn man Mantram 1, 2 und 3 auf Schweizerdeutsch liest. Es gibt Bildbetrachtungen zu Licht und Schatten. Jemand teilt seine Arbeit an den Planetensiegeln. Manche machen noch vor dem Frühstück Yoga. Und immer wieder kleine Gruppen, die zwischen dem Dorfladen und dem etwas abseitigen Hotel auf den Wanderwegen anzutreffen sind. In Gespräche vertieft, wirft man sich im Vorübergehen ein Lächeln zu. Die Gesichter sind weich, die Herzen auch, trotz Reibereien. Es entsteht eine klare Dichte, die nicht beengt, aber schärft. Dramatisch wird es, als jemand fragt, ob wir uns hier einen Luxus erlauben.

Allmählich frage ich mich, wie ich von diesem Berg je wieder runterkommen soll, ob meine Bremsen die 24 Kilometer der Serpentinenschwelle nehmen werden, wie ich überhaupt wieder landen soll in der Welt da unten? Schwellen umfassen mindestens zwei Seiten. Und als Schwellen fasse ich die Mantren auf. Sie bringen etwas miteinander in Berührung, und etwas in Erscheinung. So flüchtig und doch tiefgreifend, dass es dem Bewusstsein immer wieder entschwindet. Aber ihre Wirkung ist wahrnehmbar. Sie entfaltet sich in der Arbeit mit ihnen. Und ihre Wirkung entfaltet uns. In uns verbinden sich die Vertikale des Seins im Geist und die Horizontale des Lebens im Herzen. Sie gemeinsam bilden und öffnen meinen Erdenraum, mein Menschsein und meinen Himmel. Und zugleich auch die Wahrnehmungshaut für diese drei. Ich bin dankbar. Gilda Bartel, Deutschland


Der Saum

Wenn wir uns begegnen, spüren wir, ob etwas zwischen uns ist. Dieses Etwas kann einen Rand haben, aber auch eine Zerbrechlichkeit und Fluidität, denn es kann vollständig verschwinden. Anonyme Neugierde auf meinem Weg in die Berge: Für mich war es ein unbekannter Ort, an den ich keine Erwartungen stellte. Unser Treffen hielt viele Überraschungen bereit.

Der Saum des Dazwischen kann überraschen. Wenn ich allein bin, sind die anderen scharf von mir getrennt. Die Einsamkeit zu überwinden, bedeutet, auf den Saum zu achten. Ihn nicht auflösen oder wachsen lassen, sondern ihn integrieren. Das braucht Zeit und hängt nicht nur von mir ab. Es erfordert meine Aktivität, mein Interesse für das Neue zwischen uns.

Es gab sich überschneidende Gruppen unterschiedlicher Größe, die sich kannten, wobei die Grenzen oft verwischt oder integriert waren oder gar nicht existierten. Verschiedene Sprachen, Neugier und Offenheit, eine gemeinsame Vergangenheit oder Zukunft oder beides. Für mich war die größte Überraschung, dass ich nicht wusste, dass einige dieser anderen existierten. Diese Entdeckung erfüllt mich mit Wärme und Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft, auch wenn diese unregelmäßig sein mag.

Die Sprache hat mir auch einen Rand gezeigt. In der dritten Tafel, im mittleren Teil – ich dachte, das liegt nur an mir, dass ich an diese raumlose Stelle gelange und nicht weiterlesen kann. Aber in Chandolin habe ich gesehen, dass ich nicht allein bin. Es gibt mehr von uns. Wenn wir dort hingelangen, brauchen wir Zeit. Es ist nicht möglich, sofort weiterzulesen. Das Wesen meiner Seele spüren zu wollen und gleichzeitig weiterzulesen – das kann ich nicht. Ich möchte diese Quelle des Neuen integrieren, dann könnte ich wiedergeboren werden und womöglich weitergehen. Peter Neurath arbeitet in Bratislava und beschäftigt sich mit ‹Philosophie der Freiheit›, Grundsteinmeditation und mit der Ersten Klasse. Slowakei


Der freie Platz

Zu Beginn der Woche, draußen vor dem Grandhotel, von frischer Bergluft geküsst und von der verschwindenden spätsommerlichen Abendsonne umhüllt, beobachte ich am Ende des Tages, wie sich an diesem beeindruckenden Stück unserer Erde ‹Farb’ an Farbe, Form an Form› die sinnliche Welt offenbart. In freudiger Erwartung hebe ich den Kopf, suche nach Sternen am sich ankündigenden Nachthimmel.

Ich werde mir bewusst, dass einige Tausend Kilometer entfernt – doch seit zwei Jahren jeden Tag in der Nähe des Bildschirms in meiner Hand – jemand anderes fürchtet, was aus demselben Nachthimmel fallen kann. Ich werde mir bewusst, dass – umgeben von uralten Bergketten, mit 65 freundlichen Gesichtern unter demselben Dach und drei liebevoll zubereiteten Mahlzeiten am Tag – die sinnliche Welt um mich herum Freiheit und Frieden offenbart. Ich werde mir bewusst, dass – umgeben von Bergen aus zerbombtem Beton, ausgehöhlten Städten und unerreichbaren Lebensmitteln – die sinnliche Welt eines anderen Vertreibung und Krieg offenbart.

Es ist ein Wissen, ein Bewusstsein, ohne Verstehen, ohne Begreifen. Wie kann das Existenzrecht des Menschen jenseits der Schwelle in göttlicher Gleichheit erstrahlen, während es diesseits seit Jahrhunderten vom Schatten ungerechter Unterschiede verdunkelt wird? Wie verhalten sich esoterische Freiheit und Verantwortung im Licht der dramatisch ungleichen Zustände der sinnlichen Welt?

Am Ende der Woche, im Innern des Grandhotels, versammelt sich eine Gruppe in einem fast geschlossenen Kreis. Ein leerer Platz in unserer Mitte gibt Anlass zu der für mich wichtigsten Frage unserer gemeinsamen Arbeit mit den Mantren: «Wer sitzt auf dem freien Platz?» Ein leerer Platz, freigehalten für die Gegenwart des abwesenden anderen. Das Freihalten eines leeren Platzes – in einem physischen wie in einem meditativen Raum; mit der Zeit ist es mir geworden wie die kleinste Form der Verantwortung, die ich auf Erdengründen diesseits der Schwelle übernehmen kann. Janne Bierens hat in Järna das YIP mit geleitet und arbeitet im Moment für die Iona-Stiftung in Amsterdam.


Die Geheimwissenschaft bleibt geheim – bis sie in der Seele zum Leben erwacht

Seitdem die Menschen den Gedanken in dem physischen Leib und nicht mehr in ihren höheren Leibern erleben, reicht es nicht mehr, nur die Gedanken der Geheimwissenschaft zu lesen oder zu hören. Früher hat es gereicht, da die Menschen den Urgedanken durch den einfachen Gedanken aufgreifen konnten. Sie konnten die Geheimwissenschaft in sich erleben, indem sie ihnen einfach mitgeteilt wurde. Damals wurde die Geheimwissenschaft nicht veröffentlicht. Sie wurde nur an auszubildende Geheimschülerinnen und -schüler weitergegeben. In dem Aufsatz ‹Frühere Geheimhaltung und jetzige Veröffentlichung der Geheimwissenschaft›, in GA 178 und in verschiedenen anderen Vorträgen, erwähnte Rudolf Steiner, dass es Menschen in geheimen Orden gab, die begannen, die Geheimwissenschaft für egoistische Zwecke – etwa zur Machterlangung – zu missbrauchen. Die Veröffentlichung der Geheimwissenschaft durch Rudolf Steiner sollte demzufolge die Menschen vor diesem Missbrauch schützen. Das heißt aber nicht, dass die Kenntnisnahme der Geheimwissenschaft ausreicht. Sie heißt GEHEIMwissenschaft. Und sie bleibt uns geheim, solange wir sie in uns nicht entdecken. Für mich sind die Mitteilungen Rudolf Steiners wie ein Schlüssel zur Geheimwissenschaft. So wie der Mensch den Schlüssel benutzen kann, um eine Tür zu öffnen, so kann man die Mitteilungen Rudolf Steiners, sei es in Schriften, Vorträgen oder in den Mantren, im Denken beleben. Ja, wir müssen sie eigentlich mit einer richtigen Seelenstimmung aufnehmen und in uns zum Klingen bringen. Erfüllt sich unser Seelenleben mit diesen Inhalten, dass es so klingt wie sie, dann entfalten sie in uns – so wie ein gesätes Samenkorn – ein eigenes Leben. Dieses Erfüllen des Seelenlebens geht durch die möglichst genauen Vorstellungen, die anhand der Texte in uns von uns selbst erzeugt werden. Sie müssen so in uns geschaffen werden, wie Gott die Welt erschaffen hat. Die Mitteilungen müssen innerlich von ihrem Tod auferstehen. Dies können sie erst durch eine schaffende Kraft. In der Schrift ‹Das Christentum als mystische Tatsache› schrieb Rudolf Steiner: «Gott ist in der Welt verzaubert. Und der Mensch braucht seine eigene Kraft, um ihn zu finden. Diese Kraft musst du in dir erwecken. […] Er lebt im Menschen. Und der Mensch kann das Leben des Gottes in sich erfahren. Soll er ihn in die Erkenntnis kommen lassen, muss er diese Erkenntnis schaffend erlösen.» Ich würde auch behaupten, dass die geistigen Zustände eines Mantrams in dem Mantram wie verzaubert sind und erst durch schaffende, innerlich erzeugende Kraft auferstehen können. Dies gilt für mich für alle geistigen Mitteilungen Rudolf Steiners.

Die geistige Welt offenbart sich dem Menschen nicht durch passives Beobachten, sondern erst, wenn er sich innerlich mit ihr vereint und ihre Wirkungen aktiv in seiner vom Leib emanzipierten Seele ausdrückt. Erst wenn der Mensch das Geistige aktiv in seiner Seele nachbildet und es durch lebendige innere Bewegung ausdrückt, beginnt die geistige Welt zu sprechen. Anhand der Mitteilungen Rudolf Steiners, vor allem anhand seines mantrischen Werkes, soll die Seele sich aktiv in die Mitteilungen durch eine innere Erzeugung der Inhalte im Vorstellungs- und Gefühlsleben einleben und dadurch aktiv ein inneres, übersinnliches Mienenspiel entfalten. Dieses Nacherleben entsteht durch die Loslösung des Denkens vom physischen Gehirn. Vorstellungen, die mit der richtigen inneren Seelenstimmung erzeugt werden, entfalten in der Seele ein eigenes Leben; sie entfalten innerlich ein Schwingen, das mit der geistigen Welt in Resonanz tritt – ähnlich wie zwei gleich gestimmte Stimmgabeln. Meditieren gleicht dem Singen: Erst wenn die inneren ‹Töne› richtig getroffen werden, beginnt die geistige Welt mitzuschwingen und sich zu offenbaren. Fedaa Aldebal, Mitglied der Akanthos Akademie Stuttgart und Leiter der Zentralbibliothek der AGiD in Stuttgart.


Die Skulptur des Dazwischen

Die Fahrt die Bergstraße hinauf war ein Eintauchen. Die Gipfel streckten sich wie Säulen und stützten einen Himmel, der von Wolken umhüllt war, schimmernd in kaltem, goldenem Licht. Selbst die Luft war anders – dünn und kross, eine Klarheit, die um Aufmerksamkeit bat. Ich wurde daran erinnert, als der Wanderführer mir riet: «Geh langsamer.» Also tat ich das. Ich verlangsamte mein Tempo und regulierte meinen Atem. Das Geschenk für diese Hingabe war eine tiefgreifende Präsenz. Diese Übung von Präsenz wurde mein Thema. Das Wort ‹Interesse› stammt vom lateinischen ‹inter esse›, erinnerte ich mich: ‹zwischen sein›. Meine Zeit in Chandolin wurde zu einer bewussten Skulptur des ‹Dazwischen›: zwischen mir und dem anderen, der Natur, den Tieren, dem Kosmos. Die Form dieser Skulptur hing ganz von meiner Bereitschaft ab, zuzuhören, nicht nur mit meinen Ohren, sondern mit allen Sinnen. Ich fragte mich: Bin ich wirklich ein Wahrnehmungsorgan? Das ist die Wurzel der Verantwortung: die Fähigkeit, auf alles um mich herum und in mir zu antworten.

Diese innere Arbeit ist eine Reise, in mich selbst zu schauen und mich mit den kosmischen Kräften zu verbinden. Sie beginnt damit, zu lernen, auf den Fluss der Gefühle zu hören und zu erkennen, wo Illusion und wahres Sein miteinander verschmelzen. Die Herausforderung ist, mutig in diesen Schleier der alltäglichen Wahrnehmung einzutauchen, die kosmischen Strömungen in mir zu spüren und durch Beobachten die Kräfte meiner eigenen Seele zu wecken. Dieses ‹Hineintauchen› war meine tägliche Versenkung. Ich war mit den Worten der Michael-Schule und erlebte sie mit meinem ganzen Wesen, bevor ich wieder in den Alltag zurückkehrte. Diese Vervollständigung ist ein wechselseitiger Strom: Nach innen lauschend, spüre ich die aus den kosmischen Weiten strömenden göttlichen Kräfte. Ihr Licht ergießt sich in mein Wesen. Die Herausforderung besteht darin, ihm zu begegnen. Darin zu ruhen. Liebend. Vertrauend. Still.

Sich selbst im Kosmos wiederzufinden, bedeutet, eine neue Gefühlswelt zu betreten, in der ein spiritueller Kampf zwischen Wärme und Kälte tobt. Nur die Wärme zu lieben, bedeutet, das Selbst in geistiger Lust zerstreut zu sehen. Sich von der Kälte verhärten zu lassen, bedeutet, das Selbst im Leiden zu zerstäuben. Beides ist eine Flucht vor der wirklichen Begegnung. Es ist die Suche nach einem vereinigenden Prinzip. Diese Suche definiert eine wirkliche Begegnung. So oft begegnen wir der Kälte des anderen und reagieren verhärtend, leidend in unserer Isolation. Das Gegenteil ist, ihrer Wärme zu begegnen und so weich, so entrückt zu werden, dass wir unsere Wurzeln in der Gegenwart verlieren und in Illusionen verfallen. Das Gleichgewicht zwischen diesen Polen zu finden, die Begegnung wirklich zu erleben, ohne zu verhärten oder sich aufzulösen, bedeutet, die Essenz der Verbindung selbst zu berühren, ein so tiefgründiger Moment.

Das Gleichgewicht, der Mittelweg, nach dem ich immer suche, ist Liebe. Sich wieder mit der Gottheit zu verbinden, bedeutet, diesen zweigeteilten Strom durch Mitgefühl zu navigieren – sowohl Selbstmitgefühl als auch kosmisches Mitgefühl. Es ist die Art von Wärme, die nicht zerstreut, sondern vereint. Úa Sigrún Gunnarsdottir, Bildende Künstlerin, Lehrerin und Landesvertreterin der Anthroposophischen Gesellschaft in Island.


Umgekehrter Kultus

An jedem der sieben Tage wurde der Klang aller Mantren der 19 Stunden gemeinsam gehört. Am ersten Tag abwechselnd durch zwei Stimmen, dann durch eine Stimme, begleitet durch einen künstlerischen Prozess: Jede und jeder wärmte in seinen Händen Bienenwachs, dies führte zu einem gemeinsamen ‹Buntfenster›. An einem anderen Tag sprach ein Chor von Frauen die neunzehn Mantren. Wir haben sie auch einmal in sieben verschiedenen Sprachen gehört. Jeder Tag brachte eine neue künstlerische Erfahrung. Jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer brachte etwas Wasser aus seiner Umgebung mit, das in eine gemeinsame Schale gegossen wurde. Dieses Wasser bildete eine Resonanz von den täglich rezitierten Mantren. So wurde es zu einem Gedächtnis, das das Geschehene von der Gegenwart in die Zukunft trägt. Das Wasser wurde zum Zeugen: Es wurde zum ‹Wasserschiff›. Es war eine lebendig-schöpferisch durchdrungene Form von Wissenschaft, Kunst und Religion. Es war, wie wenn alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen in diesen sieben Tagen in Chandolin gemeinsam einen umgekehrten Kultus entstehen ließen. Chantal Werner-Wachter, Malerin und seit Langem mit den Schulungsskizzen für Maler von Rudolf Steiner beschäftigt. Frankreich


Zusammenwachsen auf 2000 Metern Höhe

Was für ein Privileg, so etwas mitmachen zu dürfen! Im Walliser Hochgebirge eine Woche lang jeden Tag alle 19 Mantren hören zu dürfen. Jede Lesung hatte ihren ganz eigenen Charakter. Dieses gemeinsame Hören, das Eintauchten in die Worte Michaels, in ‹das eine große Mantram› war in diesen Tagen das Herzstück unserer Gemeinschaft. Darum bildeten sich viele kleine Initiativen. Es gab die Möglichkeiten, in den Bergen wandern zu gehen und dabei die großen Fragen von Ich und Welt mitschwingen zu lassen, Zeit für intime Gespräche oder für einsame Momente, ganz nach den individuellen Bedürfnissen. Nicht unwesentlich für unsere gemeinsame Zeit waren auch die drei Mahlzeiten am Tage, mit ihren liebevoll zubereiteten Speisen und der herzlichen Bewirtung, die wechselnd von Teilnehmenden übernommen wurde. Bei den Tischgesprächen wurden interessante Erfahrungen ausgetauscht, private Themen fanden ihren Platz und neue Kontakte wurden geknüpft.

Am meisten hat mich in diesen Tagen berührt, teilhaben zu dürfen an dem tiefen Ringen der anderen mit den mantrischen Worten und der Suche nach ihrem eigenen Verhältnis von Ich und Welt. Jeder dieser individuellen Ansätze ein Geschenk! Aber auch Schmerzmomente waren dabei, eigene Grenzen wurden erlebbar. Das große Menschenvorbild wurde unter uns fühlbar, aber daran eben auch der Stand unseres augenblicklichen, unvollkommenen Seins. Die Bejahung und das Hineinstellen aller Anwesenden in dieses Spannungsverhältnis hat mich sehr beeindruckt. Daran habe ich erleben dürfen: Ich bin auf diesem Weg nicht allein. Ich muss zwar meine ganz individuelle Weise des Gehens finden, aber es gibt da diese Gemeinschaft und ich will ein Teil davon sein. Ein paar Menschen dieser Gemeinschaft waren in dieser Woche in Chandolin dabei, stellvertretend für eine sehr viel größere Gemeinschaft. Anke Steinmetz, Norddeutschland


Wanderndes Zentrum

«O Mensch, erkenne dich selbst!» Vielleicht war es diese altehrwürdige Aufforderung, welche uns zu dieser Woche zusammenführte. Freilich gingen dieser Woche vorherige Begegnungen und persönliche Kontakte voraus und nach ihr eröffnen sich neue Aussichten, Vorhaben und Freundschaften. Die Mantren aus dem Spätwerk Rudolf Steiners bildeten für mich das wandernde Zentrum dieser Woche. Um die Mantren eröffnete sich dadurch ein Gestaltungsraum, der von teils spontanen, teils länger vorbereiteten Initiativen der Teilnehmenden erfüllt wurde. Hierin schätzte ich die Gespräche mit einzelnen Menschen auf gemeinsamen Wanderungen durch die Berge, bei einer Bild- oder Nachthimmelbetrachtung und den Tischgesprächen. Dabei wurden die Anliegen von uns Einzelnen sichtbar in Bezug auf die Mantren, aber auch jenes, was im Leben generell bewegt. Diesen Austausch empfand ich als ebenso wertvoll wie die scheinbar kleinen, verbindenden Momente bei der Mithilfe in der Küche oder bei einem gemeinsamen Ausflug zum Dorfladen, um Schokolade zu besorgen. Auch hier war der Ruf zu vernehmen, der diese Woche für mich prägte: «O Mensch, erkenne dich selbst!» Andreas Blaser forschte mit einem Stipendium der AGiD zur Kontemplation und dem Menschsein. Schweiz


Fotos von Philipp Tok, Maike Meyer-Oldenburg, Herbert Dreiseitl, Simone Helmle, Janne Bierens

Titelbild Janne Biersen, Philipp Tok, Bildmontage: Fabian Roschka

Letzte Kommentare