Zyklische Fülle

Schon immer pflegte ich eine innige Liebe zum Wort ‹Fülle›. Erst jetzt fange ich an zu begreifen, wie ich es eigentlich zu verstehen und zu lieben habe.


In meinem Gefühl hatte Fülle stets mit ‹voll› zu tun, und äußerlich betrachtet scheint dies ja nicht verkehrt: Bäume voller Obst, Blütenköpfe voll emsiger Bienen, schwer duftende Holunderblütendolden nach einem Sommerregen, das Herz voll mit Sommererinnerungen.

Fülle ist ein Sommerwort. Aber – was voll ist, wird einmal leer sein. Der Sommer ist noch immer dem Herbst gewichen.

Ich sitze vor dem Goetheanum und mir ist vor lauter Schönheit zum Weinen zumute. Mein Herz ist schwer, fülleschwer. Die Hagebutten leuchten in der Spätsommermorgensonne, die vor Kraft strotzenden Kühe schnaufen, der Weg hinauf war gesäumt von übervollen Quitten- und Apfelbäumen, die gestützt werden müssen und sich dennoch manchmal ihrer Fülle hingeben und die schwere Krone ins tauene Gras legen. Die Früchte, welche sich vor lauter Saft und Süße schon nicht mehr an ihren Zweigen zu halten vermochten, werden eifrig von Wespen besucht, und fast sind diese mir sympathisch in ihrer offensichtlichen Wertschätzung dieser Kostbarkeiten.

Ja, Fülle ist ein Sommerwort. Auch – aber nicht nur.

Denn langsam heilt etwas in mir und ich verstehe, dass Fülle nicht unweigerlich Trauer in sich birgt: Trauer über das Ersterbende und Entschwindende, wenn der Herbst kommt und all dieses Vollsein mit sich nimmt, sanft zwar, aber unbeirrbar – denn Fülle lebt in den wachsenden Ringen Rilkes.

Fülle ist zyklisch. Das Leben ist zyklisch. Ist das Leben also Fülle? Oder gibt es vielleicht gar nicht ‹das Leben›, sondern das Geheimnis liegt einfach – und doch so verborgen – im Verb, im Tun, im Sein? Im Erblühen und Reifen, süß werden und auch sauer, schwer und satt, Wurzeln schlagen und dem Himmel entgegenwachsen – um sich dann so selbstverständlich wie die Hagebutte und der Birnbaum selbst zu verschwenden, sich endlich hinzugeben und von strenger werdenden Winden verweht zu werden.

Und gelassen zu wissen: Die Fülle ist in mir angelegt, in Samen und Körnern und Wurzeln. Auch im kältesten Winter und in den dunkelsten Nächten strebt sie schon nach der neuen Sonne und trägt die Wärme der alten noch glimmend in sich. Sie ist angelegt in den Hagebutten und Birnen, die Fülle, und auch in mir – immer.

Und wenn die Zeit gekommen ist, wird sie auch im Außen sichtbar.


Illustration Gestaltungsteam der Wochenschrift

Letzte Kommentare