USA-China: Komplementäre Humanismen

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Am 12. August 2025 veröffentlichte das US-Außenministerium seinen Bericht über die Menschenrechts­praktiken in China im Jahr 2024. Fünf Tage später, am 17. August, veröffentlichte das Informationsbüro des Staatsrats der Volksrepublik China seinen eigenen Bericht über die Menschenrechte in den Vereinigten Staaten im Jahr 2024. Was ergibt sich aus einem Vergleich dieser Dokumente?


Wir kennen die Kritik, die die Amerikaner an China üben1: fehlende politische Opposition, Einparteiensystem, fehlende kompetitive Wahlen, fehlende bürgerliche Freiheiten, Begrenzung des Internets und der Presse, Einschränkung der Meinungsfreiheit, undurchsichtige Justiz, technologische Überwachung, digitale Kontrolle, Unterdrückung von Minderheiten und Unterdrückung von Unabhängigkeitsbestrebungen in Xinjiang, Tibet oder Hongkong. Weniger bekannt sind hingegen die Kritikpunkte, die China an den USA vorbringt2: die zentrale Rolle des Geldes in der Politik, Gewalt in der öffentlichen Debatte, zunehmende Armut, steigende Obdachlosenzahlen, Ernährungsunsicherheit von Familien, soziale Polarisierung, drogenbedingte Gesundheitskrise, Waffengewalt, Polizeibrutalität, systemischer Rassismus, mangelnder Kinderschutz, Misshandlung von Einwanderern, militärische Interventionen, einseitige Sanktionen, Aufrechterhaltung des Gefängnisses von Guantánamo.

Die USA kritisieren grundsätzlich den Mangel an Freiheit und den übermäßigen Einfluss des Staates. Umgekehrt kritisiert China den Mangel an sozialer Harmonie und die fehlende staatliche Regulierung. Während die USA China vorwerfen, eine autoritäre Ideokratie zu sein, wirft China den Vereinigten Staaten vor, eine räuberische Plutokratie zu sein. Diese beiden Perspektiven haben ihre Wurzeln in sehr unterschiedlichen Geschichten. China basiert auf einer jahrtausendealten Kultur, die in einem stabilen geografischen Raum verankert ist und die älteste bis heute erhaltene Zivilisation aufrechterhält: eine ‹alte Welt›. Umgekehrt entstand die amerikanische Kultur vor einigen Jahrhunderten aus der Eroberung und Kolonisierung eines Kontinents, um eine ‹neue Welt› zu gründen.

Zwei Humanismen

Westler neigen dazu, zu glauben, dass nur das Abendland eine humanistische Kultur hat. Sie werfen Europa und die Vereinigten Staaten in einen Topf: die ‹freie Welt›, die allein humanistische Werte verteidigt. Diese Sichtweise ist stark vereinfacht und übersieht zwei wesentliche Dinge: Erstens unterscheidet sich der europäische Humanismus vom amerikanischen Humanismus, zweitens beschränkt sich der Humanismus nicht auf die westliche Welt. Wie bedeutende Denkerinnen und Denker in den letzten Jahren gezeigt haben, ist es heute unerlässlich, unseren Horizont zu erweitern und die Vielfalt humanistischer Traditionen anzuerkennen.3

Der chinesische Humanismus begann vor 2500 Jahren. Konfuzius begründete damals die Menschenwürde in ‹Ren› (仁), der Güte, der Mitmenschlichkeit, und ‹Junzi› (君子), dem edelherzigen Menschen, und verwandelte so den Geburtsadel in den moralischen Adel des Individuums. Der Buddhismus, der Taoismus und weitere Denker trugen dann zu dieser Tradition bei. Sie betont die soziale Dimension, die Achtung von Riten, Bräuchen und Gesetzen, die Nächstenliebe, den Respekt vor den Alten und die Harmonie mit dem Kosmos. Konfuzius definiert ‹Ren›: «Wer sich selbst setzen will, versucht auch, die anderen zu setzen; wer sich selbst steigern will, versucht auch, die anderen zu steigern.»4 Diese Tradition kann den Menschen nicht ohne seine Verbindung zu anderen Menschen und zum Kosmos denken. Sie hat die Jahrhunderte überdauert und wird von zeitgenössischen chinesischen Philosophen in neuen Formen weitergepflegt, wie zum Beispiel von Zhao Tingyang, dem Denker der Tianxia-Theorie, dem neokonservativen Konfuzianer Gan Yang oder Jiang Shigong, einem regierungsnahen Legitimisten, der sich ebenfalls auf Konfuzius stützt. Der Philosoph Tu Wei-ming ist sicherlich der derzeit bedeutendste Vertreter eines konfuzianistischen Humanismus, den er als ‹spirituellen Humanismus› bezeichnet und der auf der Verwirklichung des wahren Selbst basiert: «Spiritueller Humanismus unterstreicht Dialog, Versöhnung und Harmonie. Das Gegenteil von Harmonie ist Uniformität und Gleichheit, doch die Voraussetzung für Harmonie ist Unterschiedlichkeit und Respekt für den anderen. Die Entstehung eines ökumenischen und kosmischen Weltbürgerbewusstseins ist Voraussetzung für die Entwicklung einer wirklich authentischen Kultur des ewigen Friedens.»5 Diese Worte, die vor etwa zehn Jahren gesprochen wurden, führen eindeutig diese Tradition fort, in der das Schlüsselwort ‹Harmonie› lautet.

Der amerikanische Humanismus ist viel jünger. Die ersten Humanisten der Neuen Welt erhoben ihre Stimme vor vier Jahrhunderten mit Bartolomé de Las Casas, Verteidiger der Ureinwohner, später dann durch den liberalen Republikanismus der Gründerväter und Thomas Jefferson. Freiheit und Individualität werden hier zu den Schlüsselbegriffen. Im 19. Jahrhundert zeigen die Philosophien von Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau deutlich diesen Fokus auf das individuelle Bewusstsein, das sich im gesamten amerikanischen Humanismus wiederfindet. «Wer ein Mensch sein will, muss ein Nonkonformist sein. […] Letztendlich ist nichts heilig außer der Integrität des eigenen Geistes.»6, schrieb Emerson, während Thoreau seinen Anarchismus in seiner ‹Civil Disobedience› in radikalen Worten formulierte: «Die einzige Verpflichtung, zu der ich berechtigt bin, ist, jederzeit das zu tun, was ich für richtig halte.»7 Worte, die diesen Schwerpunkt auf das individuelle Bewusstsein, aber auch die Dynamik der ‹Konfrontation› und des ‹Kampfes›, die darin enthalten ist, gut veranschaulichen.

Europa am Scheideweg

Wo die amerikanische Tradition eine Kontrolle des Bewusstseins sieht, sieht die chinesische Tradition Harmonie, und wo die chinesische Tradition die Gewalt des Chaos sieht, sieht die amerikanische Tradition Freiheit. Ein Antagonismus zwischen Zentrum und Peripherie, Fusion und Fragmentierung, Harmonie und Freiheit, der als Ausdruck der Ost-West-Polarität gelesen werden kann. Doch trotz dieser Gegensätze spürt man, wenn man sich in diese beiden Traditionen vertieft, eine Art Zusammenfluss, eine notwendige Komplementarität, als ob diese Humanismen im Grunde nur konvergieren könnten.

Europa ist heute an seiner Ostflanke verwundet. Hin- und hergerissen zwischen Ost und West, scheint es unfähig, ein Gleichgewicht zu finden. Es ist Zeit, innezuhalten, um keine oberflächlichen Urteile zu fällen. Wenn Europa dazu aufgerufen ist, ein Äquilibrium zwischen diesen zwei Polen zu finden, darf dies kein passives sein. Es kann nicht darauf verzichten, die Vielfalt der Humanismen tiefgreifend zu erfassen. Dazu bedarf es eines inneren Antikolonialismus. Es muss den Anspruch aufgeben, alleiniger Vertreter des wahren Humanismus zu sein. Es gilt, Wege zur Vereinigung von Freiheit und Liebe zu finden. Im Gegensatz zu Misstrauen oder Konfrontation sollte es sich von dieser Vielfalt der Humanismen befruchten lassen, um seine eigene Kreativität hervorzubringen. Eine friedensstiftende Kreativität.


Bild Ying und Yang

Fußnoten

  1. United States Department of State, 2024 Country Reports on Human Rights Practices: China (Includes Hong Kong, Macau, and Tibet). Washington, D.C. 2025.
  2. The Report on Human Rights Violations in the United States 2024. Beijing 2025, veröffentlicht am 17. August 2025.
  3. Siehe François Jullien, Martha C. Nussbaum, Abdennour Bidar.
  4. De l’importance du Ren chez Confucius. Insidetaiwan.net, abgerufen am 17. Oktober 2025.
  5. Tu Weiming, Spiritual Humanism: An Emerging Global Discourse. Youtube, veröffentlicht am 17. Dezember 2015.
  6. Ralph Waldo Emerson, Self-Reliance and Other Essays, Seedbox Press, 2012.
  7. Henry David Thoreau, Civil Disobedience. Zuerst veröffentlicht als Resistance to Civil Government, 1849.

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