‹Garten oder Maschinenraum des Menschlichen? – Die Zukunft der Erziehung in der digitalen Kultur›. Unter diesem Titel sprach Peter Sloterdijk über den heutigen magischen Willen, über den Kreml in der Seele und den Weg zum Frieden.
Die Udo-Keller-Stiftung veranstaltet diesen Sommer in Köln ein Gedankenfestival, bei dem auch Peter Sloterdijk zum Gespräch eingeladen war. Udo Keller war ein Hamburger Kaufmann, der fernöstlicher Spiritualität nahestand und eine Stiftung zur Förderung des Dialogs von Natur- und Geisteswissenschaft ins Leben gerufen hat. Diese erwartet von ihren Partnern den «Mut, disziplinäre, konfessionelle und kulturelle Grenzen zu überschreiten». Mit dem Gast Peter Sloterdijk sollte das gelingen. Dafür sprach auch der Titel: ‹Garten oder Maschinenraum des Menschlichen?›. ‹Garten des Menschlichen› lautet eine Sammlung von Aufsätzen zur geschichtlichen Anthropologie des Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker, die der große Philosoph vor 50 Jahren herausgegeben hat. Das Buch zählt vermutlich zu den spirituellsten und gemütstiefsten Streifzügen durch die ‹Wissenschaft vom Menschen›. Da korrigiert Weizsäcker gleich: Die Wissenschaft vom Menschen sei die Wissenschaft vom Menschlichen. Diese sei, wenn man in die Geschichte gehe, kein ‹System›, sondern ein ‹Garten›, denn im Garten gibt es Wege und da sehe man von jedem Blickpunkt aus ein anderes sinnvolles Bild. Was für ein Bild! Wissenschaft als Gartenpflege!
Interessant sind der erste und der letzte Schritt in diesem Garten: Weizsäcker beginnt mit einem Essay zum Frieden. Darin der wundervolle Satz: «Ein Friede ist der Leib einer Wahrheit.» Dabei sei der Friede dreifaltig, es gehe um den «Frieden mit sich selbst, den Frieden vom Individuum zur Gesellschaft und den Frieden der Gesellschaften zueinander.»
Das ist Weizsäckers erster Schritt in seinem Garten, der letzte im 600-seitigen Buch geht dann über Meditation – den Frieden mit sich selbst. In platonischer Tradition ist das Buch ein Dialog. Der Radioredakteur Udo Reiter interviewte den Philosophen und fragt gleich zu Beginn nach der meditativen Erfahrung. Weizsäckers Antwort: «Wenn man jemandem von der Meditation erzählt, der selbst Erfahrung besitzt, dann versteht der andere ohne Worte. Hat der Zuhörende keine Erfahrung, wird er die Schilderung sonderbar finden.» Reiter bohrt dann weiter und Weizsäcker: «Man wird durch Meditation kein anderer, sondern man wird der, der man immer gewesen ist.» Reiter insistiert und fragt nach dem Substantiellen der Meditation und Weizsäcker erwidert: «Dass ich nicht sofort antworte, ist der wichtigste Teil der Antwort.» Und dann: «Meditation ist das ‹Ach so›.» Wohl selten hat sich ein so hoch ausgezeichneter akademischer Denker so offen über persönliche meditative Erfahrung offenbart wie in diesem Gespräch.
Wir sind Zauberlehrlinge
Das alles hat Sloterdijk vermutlich im Auge und auch, dass Weizsäcker das Institut für die Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt leitete, wenn er nun über die digitale Revolution mit Cai Werntgen ins Gespräch geht. Um unsere Zeit zu verstehen, so Sloterdijk, gehe es darum, die «archäologische Reihe, die sich hinter der Technik auftue, zu eröffnen». Es gebe nichts in der Technik, was nicht schon in der Metaphysik gewesen sei, und es gebe nichts, was in der Metaphysik zu finden sei, was nicht schon in der Magie vorhanden gewesen sei. Und was macht die Magie? Sloterdijk: «Die Magie dreht sich um die Frage, wie kann ich jenseits der einfachen Berührungskausalität Wirkung in die Ferne hervorrufen? Das eigentliche Zaubern geht dahin, dass man durch einen ganz kleinen Willensakt eine riesige Wirkung hervorruft.»
Dann erzählt er vom Kinderbuch ‹Der Schmetterling, der mit dem Fuß aufstampfte› von Rudyard Kipling. Der zarte ‹Held› der Geschichte konnte mit seinen Beinchen die ganze Welt wegzaubern und herbeizaubern. Wir alle, so Sloterdijk, werden wieder in die Position der Zauberlehrlinge zurückgeworfen worden. Die Technik heute sei nur verständlich als Antwort auf das archaische Verlangen eines Willens zur Macht: herbeizaubern, wegzaubern, haben wollen, entfernen wollen, Translokation, Television, Telefone, Teleskopie. Alles operationierte, magische Operationen. Dann beschreibt Sloterdijk, dass diese Fernwirkung mit der Erfindung des Hebels (griechisch: mechanae) beginne. An ihm sehe man, wie magische Wirkung in physische Wirkung überführt werde. Mit kleinerer Kraft vermag man das größere Gewicht zu bewegen. Als Waldorflehrer habe ich einmal mit einer 10. Klasse das Hebelgesetz auf die Spitze getrieben: Ein Profilstahl über eine Eichenbohle gelegt, und eine Schülerin drückte das lange Ende der Stange und hob einen Kleinwagen in die Luft. Magisch! Sloterdijk: «Die ganze Technik ist Hebelung.» Dabei sei das Feuer als «pyrotechnische Hebelung» der Hebel aller Hebel. «Wenn sich die pyrotechnische und die mechanische Seite treffen, dann heben wir wirklich die Welt aus den Angeln.»
Vom Willen zur Macht zum Willen zur Unbelehrbarkeit
Dann wechselt Sloterdijk zur Friedensfrage. Er erinnert an den Vorfall in Ida-Oberstein in einer Tankstelle während der Coronazeit. Ein Kassierer ermahnt einen Kunden, die Maske anzulegen. Dieser ist darüber so erbost, dass er nach Hause geht, mit einer Schusswaffe zurückkehrt und den Angestellten mit einem Kopfschuss tötet. Das «Schlüsselereignis», so Sloterdijk, manifestiere sich im Willen zur Unbelehrbarkeit. Eine kleine Lausbuberei wird in eine dämonische Dimension aufgeblasen. Es sei der absolute Unwille, sich irgendetwas sagen zu lassen, sich aus dieser ego-sphärischen Autokratie herauskatapultieren zu lassen. Dann zündet Sloterdijk seine sprachschöpferische Gabe. «Wir alle werden mehr oder weniger putinisiert. Das Modell der Autokratie findet nicht nur im Kreml statt.» Das meint Sloderdijk vermutlich geografisch: Es gibt nicht nur den einen Kreml. Und er meint es in der Skalierung: «Der autokratische Charakter ist der, der jede Intervention in seine egosphärische Vollkommenheit ablehnt.» Man positioniert sich, so Sloterdijk, im Unmöglichen und wird so unendlich verletzbar. Wenn man eine so kraftvolle Illusion ausgebildet hat, dann stößt man sich an jeder Kante.
Abhängigkeitserklärungen formulieren!
Die Autokratie beginne damit, dass das Individuum zum Kreml wird, das russische Wort für ‹Festung›. Wenn Festung zum Synonym für das Individuum wird dann müssen wir von Kreml zu Kreml kommunizieren – von SUV zu SUV – von Privatpanzer zu Privatpanzer. «Die Verkremelung der Existenzform ist außerordentlich weit fortgeschritten.» Dann folgt seine Antwort auf die Friedensfrage: «Wir müssen das Leben jenseits der Mauern erst wieder lernen.» Der Wille, uns unabhängig zu machen, stehe, so Sloterdijk, an der Quelle unserer Verhängnisse. Statt Unabhängigkeitserklärungen in die Welt zu senden, sollten wir Tag und Nacht Abhängigkeitserklärungen formulieren, die im guten Sinne ein Leben außerhalb der Festung ermöglichen würden. Damit war Sloterdijk, für die meisten Zuhörenden vermutlich unbemerkt, wie Friedrich von Weizsäcker in seinem Garten des Menschlichen bei der Meditation angelangt. Meditation ist der Ort der Abhängigkeitserklärungen – Meditation ist der Ort, an dem wir entdecken, erleiden, erkennen, dass alles aufeinander bezogen ist – wie im Garten.
Info Garten oder Maschinenraum des Menschlichen? – Die Zukunft der Erziehung im digitalen Zeitalter. Veranstaltet am 27. Juni in Köln auf der phil.COLOGNE mit Peter Sloterdijk und Cai Werntgen auf Youtube. Foto Screenshot aus dem Youtube-Video








