Wenn Arbeit und Leben zusammengehen

Justus Wittich, Schatzmeister und Vorstand am Goetheanum, feiert am 10. September seinen 70. Geburtstag. Enno Schmidt spricht mit ihm über seinen Lebensweg, seine Gabe, Verantwortung lebendig zu machen, und seine Vision, wie sich Anthroposophie wirtschaftlich und spirituell auf den Weg bringen lässt.


‹Ein Leben für die Anthroposophische Bewegung und Gesellschaft›, so könnte man das Leben von Justus Wittich überschreiben. Schon als Jugendlicher und während seines Studiums der Ökonomie in Berlin war er aktiv in der Jugendarbeit und impulsierte eine Reihe von Schülertagungen. Das Internationale war ihm von Beginn an nicht Grenze, sondern offener Weltbezug. «Es war ein starkes Erlebnis, dass du überall Menschen triffst, die aus einem ähnlichen geistigen Impuls oder einer ähnlichen Haltung heraus an ihrer Stelle ganz anders arbeiten, aber doch geistig verbunden sind.»

Eine deutschlandweite Berliner Waldorfschülertagung 1978, die er maßgeblich mit vorbereitet hatte, trug den Titel: ‹Das alte Haus zerfällt, bauen wir ein neues.›

«In den 70er-Jahren gab es einen ganzen Generationsschub. Die Oberstufenschüler an Waldorf- und Rudolf-Steiner-Schulen wachten auf und organisierten sich überregional. Es gab internationale Schülertagungen, angefangen 1975 in Den Haag, dann 1976 in Basel, 1977 in Stockholm, 1978 in Berlin und 1979 in Bern. Sie wurden immer internationaler. Erst waren sie rein europäisch, dann kamen amerikanische Schülerinnen und Schüler dazu, später auch Brasilianer. Es entstand ein weltweiter Impuls. Aus diesen Schülerinitiativen entwickelten sich mit Andreas Büttner und Nana Göbel sowie dem Doyen der Waldorfschulen in Deutschland, Ernst Weißert, die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners in Stuttgart. Das war für mich eine logische Fortsetzung nach dem Studium.»

Justus Wittich baute einen internationalen Hilfsfonds dieser Vereinigung in Stuttgart auf, wurde deren Geschäftsführer und Redakteur der Zeitschrift ‹Erziehungskunst› als Assistent von Manfred Leist, «… obwohl ich von Pädagogik keine Ahnung hatte». Aber von Zeitschriften. Die hatte er schon als Oberstufenschüler herausgegeben. Und Geschäftsführung? «Nach der Schule wusste ich nicht, was ich studieren sollte. Es gab verschiedene Möglichkeiten. Zur Wirtschaft, zu Finanzen und zu Rechtsfragen hatte ich immer einen Bezug. Aber eigentlich ist das gar nicht meine gewollte Sache oder mein Ziel. Aber ich lande immer wieder da.» Einen eigenen Berufswunsch verband er mit dem Studium nicht, aber was er dort an ökonomischer Denkweise kennengelernt hatte, konnte er immer wieder nutzen, um anderen eine wirtschaftliche Gesellschaftsform zu schaffen, in der sie ihre Impulse umsetzen können.

Es muss anders werden

Auf den Schülertagungen hatte er zahlreiche der «interessanten Alternativdenker und die anthroposophische Prominenz jener Zeit» kennengelernt, wie beispielsweise Robert Jungk, John Davy, Heinz Buddemeier, Friedrich Benesch, Lex Bos oder Freimut Duve, Herausgeber der Rowohlt-Buchreihe ‹rororo-aktuell›, oder auch den damals 16-jährigen Otto Scharmer und andere in ihren jungen Jahren, die später bekannt wurden. In Stuttgart war sein Wirken ab 1979 mit dem Bund der Freien Waldorfschulen verbunden. «Da wirkten noch die alten ‹Recken› aus der Nachkriegszeit. Die habe ich noch erleben können.» An diese Generation konnte er anschließen und deren Arbeit mit seiner eigenen Intention weiterführen. «Aus der Schülerbewegung wuchsen wir in die Jugendsektion mit hinein.» Mit Beginn seiner Zeit in Stuttgart, 1979, zog er mit seiner Frau und Mitstreiterin, Claudia Grah, zusammen, und gemeinsam wurden sie sowohl in der Jugendsektion wie in der Christengemeinschafts-jugend aktiv. Ein entscheidendes Erlebnis war für beide zwischen den Jahren 1978/79 eine große anthroposophische Jugendtagung mit Jörgen Smit in Kings Langley. «Diese hat mich so erschüttert, dass ich dann in die Gesellschaft eingetreten bin. Sie hatte für mich ein Zuviel an mystischer Stimmung. Englische Nachkriegsgebäude, Winter, es war düster, Kerzenlicht, großer Kreis im Halbdunkeln, hohe geistige Reden. Einer drehte durch, hörte nicht mehr auf zu reden. Da war mir klar: Das geht so nicht, so was Mystisches. Das ist nicht Anthroposophie, wie sie im 20. Jahrhundert gebraucht wird! Jetzt trete ich in die Gesellschaft ein. Es muss anders werden!»

Jörgen Smit war anders. «Er war eine Bezugsperson für mich schon bei den Schülertagungen. Da war Klarheit, Direktheit und Erkenntnis.»

Du warst auf der Waldorfschule. Kommst du aus einer anthroposophischen Familie?

Wittich Nein. Die Waldorfschule habe ich letztlich einem Sprachfehler zu verdanken. Ich hatte mir früh eine eigene Kindersprache zugelegt, die die Umwelt nicht verstand. Als es um die Einschulung ging, gab es da einen Rektor, der war U-Boot-Kommandant im Weltkrieg. Der hat mich zur Schulaufnahme interviewt, hat mich ebenfalls nicht verstanden und hat gesagt: ‹Das gibt solche sozialen Schwierigkeiten, der Junge muss auf die Sprachsonderschule Charlottenburg-Nord.› Das wäre jeden Tag zweimal quer durch Berlin gewesen. Das gab für meine Mutter den Ausschlag: ‹Dann geht der Junge auf die Waldorfschule.›

Der U-Boot-Kapitän hat dich da hingelotst?

Wittich Der Sprachfehler war nach der 1. Klasse verschwunden. Ich habe nicht viel gesprochen. Es hat sich aus der Sozialität so ergeben. Ich war ein bisschen ein Spätentwickler. Erst in der Oberstufe bin ich so richtig wach geworden für meine Umgebung, habe eine Schülerzeitung gegründet und war sehr aktiv als Jugendhelfer in Freizeiten und in der Organisation von Tagungen. Als unsere Schule in Berlin-Dahlem in Nöte kam wegen der Finanzierung eines Schulneubaus, haben wir Schüler und Schülerinnen uns dafür mitverantwortlich gefühlt. Eine Gruppe von uns hat die Politiker im Abgeordnetenhaus aufgesucht. Da war ich nicht mit dabei. Aber mit der Schülerzeitung habe ich es journalistisch begleitet und so mitgearbeitet.

Du hast deinen Beruf früh begonnen. Zeitschriften, Tagungen, Menschen in Austausch bringen, Verantwortung übernehmen. Das ist ein Signum deines Lebens?

Wittich Das ist ein Motiv, das sich in Metamorphosen fortgesetzt hat. Das ist wahr.

Als Justus Wittich und seine Frau ihr erstes Kind erwarten, schauen sie nach einem Lebensort, wo Arbeit und Leben zusammengehen können. 1985 ziehen sie auf den ‹Hof› in Niederursel bei Frankfurt, einen alternativen Bildungs- und Lebensort. Hier wachsen ihre drei Kinder auf. Sechs Enkel sind mittlerweile hinzugekommen. Auf dem ‹Hof› beginnt Justus Wittich als Bildungsreferent, gibt Kurse zur ‹Philosophie der Freiheit›. Als die Schreinerei am ‹Hof› wirtschaftliche Probleme bekommt, steigt er in die GmbH der Schreinerei ein. «Da mussten wir eine Gesellschaftskonstruktion finden, wodurch sich das trägt – die Sache ordnen und als Gesamtinitiative vorangehen.» Bald wird er Geschäftsführer des ganzen ‹Hofs› mit Werkstätten, Tagungsräumen, einem Jugendseminar, Kindergarten und Naturkostladen. Zudem wird er Interims-Geschäftsführer einer am ‹Hof› neu gegründeten Waldorfschule, die zur heutigen Waldorfschule Oberursel herangewachsen ist.

Justus Wittich 1988 mit seinen Söhnen, Foto: Privat

1988 fragt ihn Frank Teichmann, ob er die Vierteljahreszeitschrift ‹Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit› der deutschen Landesgesellschaft übernehmen wolle. Als Redakteur dieser Zeitschrift ist er zunächst Gast im Arbeitskollegium, dem Vorstand der Landesgesellschaft, und wird bald Mitglied des Vorstandes. «Ich bin bewusst ohne Finanzverantwortung mit dem Schwerpunkt Öffentlichkeitsarbeit in den Vorstand gegangen. Aber dann habe ich an einem kleinen Geschäftsführungsausschuss teilgenommen und wurde so 2004 doch Schatzmeister – so, wie ich es jetzt hier am Goetheanum bin. Ich habe die Finanzverantwortung, und das bedeutet: Ich mache das Ganze mit. Denn Finanzen haben mit allem zu tun. Deswegen kann ich mich in allem mit einbringen.»

Finanzierungsfragen waren auch der Grund, warum er 2001 am ‹Hof› in Niederursel die Mercurial-Publikationsgesellschaft gründete. In ihr und unter seiner Herausgeberschaft kann die Zeitschrift ‹die Drei› weiter existieren, und in ihr gibt er auch die ‹Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit› heraus. Unabhängig davon ist er in den 80er- und 90er-Jahren Mitherausgeber der Zeitschrift ‹Info3› in Niederursel, «… aus Freundschaft zu Ramon Brüll».

Merkurial, das ist schon so ein Stichwort für dich?

Wittich Ich habe ein wenig ein sanguinisches Element, und ich habe schon etwas Merkuriales.

Ich meine nicht das Sanguinische. Bei dem Merkurialen kommt mir so als Bild ein Delta, wo Wasserläufe fließend lebendig alles durchdringen, Netzwerke bilden. Ein Eingehen, Verbinden, und darin beweglich selbst frei bleibend, weil man nicht an einem besonderen eigenen Inhalt klebt und sich nicht in eigener Wichtigkeit selbst verortet. Merkur ist im Griechischen der Gott Hermes, der Götterbote, Schutzpatron der Händler. Allerdings auch der Diebe. Austausch ist gemeint, Veränderung, Botschaft vermitteln, Geistiges und Irdisches vermitteln und Vorgänge dafür schaffen.

Wittich Genau das. Es war bei mir immer ein weit gestreutes Interesse. Der Weltbezug war auch immer mit dabei. Ich hatte recht früh schon dieses eigenartige Gefühl, mich für die Sache verantwortlich zu fühlen, obwohl ich die Verantwortung eigentlich gar nicht hatte. Schon damals als Schüler, wo ich mich für die Schule verantwortlich fühlte, obwohl ich nur Schüler der 12. Klasse war.

Wie kommt Verantwortung für dich zustande?

Wittich Es ist das Interesse an dem, was um mich herum vorgeht, und das Gefühl, dass das mit mir etwas zu tun hat. Und umgekehrt.

Du kommst in Gebilde oder bildest sie auch selbst, und in diesen Gebilden ergibt es sich, dass du diese Positionen des Redakteurs und Herausgebers hast oder dass du Geschäftsführer bist, Pressesprecher, Moderator, Schatzmeister. In der Regel ist es nicht so, dass du dein Ding durchsetzen willst, sondern dass du anderen ihres ermöglichst. Dafür deine Verantwortung. Du bist Ermöglicher?

Wittich Ja, das passt! Es war weder beim ‹Hof› noch bei den Zeitungen so, dass ich damit ein persönliches Ziel verfolgte. Nein, ich habe kein eigenes strategisches Ziel oder will etwas Bestimmtes für mich erreichen. Sondern: Was braucht die Sache? Was ergibt sich aus der Situation als richtige Entwicklung? Dies muss man abspüren.

Bei den Zeitschriften warst du Redakteur, nicht Autor.

Wittich Ja, nicht Schreiber, sondern Redakteur im Sinne von ‹Bearbeiten und Ermöglichen›. Ich habe beim Redigieren viel gelernt.

Ermöglichen, dass die Arbeit anderer zum Zuge kommen kann und wieder anderen zugänglich wird.

Wittich Genau.

Als Justus Wittich 1989 die ‹Mitteilungen› übernahm und allen Mitgliedern für ein Jahr gegen einen freiwilligen Beitrag zukommen ließ, überführte er sämtliche Mitgliederadressen der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland in die EDV. Das waren damals 22 000. Weltweit waren es 50 000. Heute gibt es in Deutschland noch 11 000 Mitglieder. In Deutschland ist das Durchschnittsalter der Mitglieder 70 Jahre. Weltweit sank die Mitgliederzahl auf 41 000. Aktuell steigt sie allmählich wieder durch neue Mitglieder, vor allem im nicht deutschsprachigen Ausland.

Im März 2012 wird Justus Wittich in den Vorstand am Goetheanum gewählt – nun gleich mit der Aufgabe des Schatzmeisters. In einer Krise am Goetheanum – zu deren Beilegung Justus Wittich mit der Moderation der entscheidenden Generalversammlung im Jahr zuvor beigetragen hatte – haben der Vorstand und die Sektionsleiter am Goetheanum mithilfe des Organisationsentwicklers Friedrich Glasl eine neue Form der Goetheanum-Leitung gefunden.

Wittich Die Goetheanum-Leitung ist ein Gremium, bei dem Vorstand und Hochschulleitung so zusammenarbeiten, dass sie gemeinsam nur Personalentscheidungen treffen, keine Sachentscheidungen. Sie kommen jede Woche zur Beratung zusammen. Die Sektionsleitenden geben ihre Hochschulfragen und der Vorstand seine Initiativen in die Goetheanum-Leitung mit ein. Es ist genau geklärt, wer wofür die Verantwortung hat. Es ist nicht so, dass die Goetheanum-Leitung als geistiges Primat bestimmt, sondern sie berät. Der Einzelne muss auf seinem Gebiet selbst entscheiden. Ich muss entscheiden, ob und wie ich mit den Finanzen durchkomme, und trage die Verantwortung. Das hat sich bis jetzt bewährt. Die Frage ist doch: Wie arbeiten geistige Stiftung und irdische Notwendigkeiten eigentlich zusammen? Es darf nicht eines das andere beherrschen. Nur geistiges Primat führt zur dogmatischen Sekte. Aber nur irdische Notwendigkeit, Primat der Finanzen, das geht auch gar nicht.

Geistige Stiftung, irdische Organisation; ich habe oft erlebt, wenn initiative Gruppen einen Verein bilden, sich institutionalisieren, dann geht die Luft raus. Und es kommt zu Spaltungen.

Wittich Das ist die Frage, die wir in Zukunft lösen müssen; gesamtmenschheitlich und biografisch. Es gibt eine geistige Intention, und jetzt musst du das mit der Wirklichkeit verbinden. Das ist Leben. Das wiederholt sich in jeder anthroposophischen Initiative. Es gibt eine Idee, man will zugreifen. Geist braucht Form. Aber Form tötet Geist. Der Geist muss wirken können. Er darf nicht von der Form erschlagen werden. Macht ist eines der gefährlichen Instrumente dabei. Gibt es eine Form, dass die geistige Stiftung mit der Wirklichkeit in Kontakt ist und die Individualität der Einzelnen erhalten bleibt? Rudolf Steiner hat früh und in verschiedener Art Hochschulbildungsversuche unternommen. Wobei Hochschule in diesem Sinne sowieso noch eine große Frage ist, weil wir gesagt haben: Wir versuchen Forschung an der Schwelle. Was sind das für Prozesse und Entscheidungen, die geistige Wesenheiten mit einbeziehen und einen Umgang mit geistigen Fragen ermöglichen, so, dass Geistiges wirklich Eingang finden kann ins Leben?

Leben ist das Ätherische. Forschung an der Schwelle hat auch mit dem Ätherischen zu tun, weil ein forschender Zugang zum Ätherischen beim Menschen über eine Schwelle geht, wo dir alles Wissen, Urteilen und Weiterwissen vergeht in ein Nichts, das intensiv ist. Schwelle ist da ein Teil des methodischen Vorgehens.

Wittich Ja, das ist interessant. Wenn man die Realität des sozialen Geschehens in der Hochschule beobachtet, dann ist es manchmal so – und das hat für mich mit dem Ätherischen zu tun –, dass eine Fragestellung im Raum lebt, und du nicht weiterkommst. Wenn diese zwölf Sektionen zusammen sprechen, dann taucht plötzlich aus der Medizin ein Gesichtspunkt auf. Dann ein Gesichtspunkt aus einem anderen Fachgebiet. Dadurch entsteht eine Offenheit, in die sich eine Intuition einsenken kann, die allen evident ist im Raum. Du kannst den Wärmeprozess beobachten. Es wird intensiv. Es kann auch krachen und funken dabei.

Die Situation ist: Wir wissen nicht weiter. Darin anwesend bleiben zu können, ist ein Vermögen mittels des Wärmeäthers. Dann aufnehmen zu können, was erscheint, ohne das Eigene gleich darüberzustülpen, das ist wiederum ein Vorgang, wo du loslassen und wahrnehmend beim anderen sein musst. Das ist Kräftewirken des Lichtäthers. Ich denke, das ist eine Wirklichkeitsebene, in die es als nächste Bewusstseinsstufe auch gesamtmenschheitlich hingeht.

Wittich Genau. Die Frage ist dann: Bleibst du bewusst als Beobachter?

Das wäre die neue Fähigkeit.

Wittich Was dabei schwerfällt, ist, diese Arbeitsmethode exakt zu beschreiben.

Ein Teil der Methodik ist: Vermeide nicht die Momente, in denen du nicht mehr weiterweißt. Vermeide nicht das Nichts, wo du kaum erträgst, dass jetzt nicht jemand sagt, wo’s langgeht. Die dafür nötige Selbstüberwindung öffnet Zugänge für geistige Wesen und bildet Substanz.

Wittich Das ist auch unsere Erfahrung. Die inhaltlichen Themen sind der Stoff, an dem das leichter passieren kann. Die Hälfte der Zeit beschäftigen wir uns in der Goetheanum-Leitung mit inhaltlichen Themen, dann gehen wir auf alltägliche Lebensfragen ein. Das ist der gleiche Prozess, dann umgekehrt gerichtet.

Vermeide nicht, Problematisches vermeiden zu wollen.

Wittich Das ist eine Frage der Konfliktfähigkeit.

Weil Konflikt nicht als Fehler genommen wird, sondern als Aufruf zur ichhaften Präsenz. Dann triffst du Menschen.

Wittich Wenn es auf Entscheidungen zugeht, kann der Prozess auch scheitern.

Immer. Und nun: Welche Rolle spielt das Ökonomische in diesem Gesamtbild?

Justus Wittich, Foto: Privat

Wittich Im Grunde genommen ist das eine Beziehungs- und Vertrauensfrage. Kann ich genügend Beziehungen zwischen den Mitgliedern aufbauen, dass daraus ein wirtschaftlicher Vorgang wird? Wir leben am Goetheanum letztendlich von der Hand in den Mund. Geld ist immer zu knapp. Und ich finde das bis zu einem gewissen Grad gesund. Das ist nicht aller Meinung. Denn es bleibt natürlich immer eine Unsicherheit dabei. Mit den Weleda-Aktien und den 40 Liegenschaften in Dornach haben wir ein Hintergrundvermögen, das aber nicht verflüssigt werden kann oder soll. Was wir im Falle der Weleda auch in keiner Weise wollen. Aus rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten müsste ich 10 Prozent runter mit den Ausgaben. Das hieße, 16 Menschen weniger beschäftigen, Stellen streichen. Aber ich fahre immer 10 Prozent über dem, was man vernünftig finden könnte, was vorherberechenbar ist, und weiß nicht, ob es aus der Zukunft dann kommt. Das kannst du natürlich auch nicht zur Methode machen, denn es kommt immer darauf an, ob es real ist, ob dahinter eine echte Intention steht. Dann kommt auch Hilfe von anderer Seite. Aber du kannst das nicht organisieren.

Das ist im Grunde das künstlerische Prinzip. Du setzt den Fuß vor, wo noch kein Boden ist, und der Boden zieht nach. So ist auch die Geburt Apollos beschrieben. Die Göttin Hera hatte der Erdgöttin Gaia verboten, der von Zeus schwangeren Leto auch nur irgendeinen Flecken Erde für ihre Niederkunft zu gewähren. Doch der Meeresgott Poseidon ließ die Insel Delos aus dem Meer aufsteigen, wo Apollon zur Welt kommen konnte. Eine gewisse existenzielle Unvorhersehbarkeit kann Entwicklung fördern.

Wittich Aber das ist durchaus gefährlich. Wenn du dann keine richtige Selbsteinschätzung hast über die vorhandenen Intentionen, dann schlägt das zurück und hat sofort Folgen.

Es bleibt aber im lebendigen Zusammenhang.

Wittich Es bleibt im lebendigen Zusammenhang, wenn du im Zusammenhang mit den anderen Menschen bist.

Götz Werner hat immer gesagt: Wenn es die geistige Welt interessiert, dann kommt auch das Geld, das es ermöglicht.

Wittich Das kann deutlich zeitversetzt sein. Denn bestehende Bilder bleiben lange stehen, bevor neue Eindrücke sich durchsetzen. Der Geldfluss kommt nicht sofort. Und er kommt oft aus einer anderen Ecke als gedacht. Manchmal ist es so, dass du eine Aktivität entwickelst an einer Stelle, wo es gar nichts mit Geld zu tun hat, und es kommt von einer anderen Seite dann Geld. Bei uns hängen gut 200 Menschen mit ihrem Lebensunterhalt davon ab. Ich kann damit nicht spielen.

Das ist für einen allein einfacher. Aber es ist doch eine echte Kraft, in einem größeren Zusammenhang dieses im Prinzip richtige Vorgehen mit dem Risiko beizubehalten. Das Bedürfnis ist natürlich, viel Geld zu haben, damit man sich viel leisten kann.

Wittich Ja, das ist eine große Gefährdung. Das Schwierigste für mich wäre, wenn jetzt plötzlich 40 Millionen Erbe auf das Goetheanum zukommen. Ob dann die Energie da ist, richtig damit umzugehen und daraus etwas zu machen? Oder ob es nur zu einem Verteilungsstreit kommt? Die Situation des leicht Unterfinanzierten halte ich für die richtige Ausgangslage.

Weil das leicht Unterfinanzierte dich in einem geistoffenen Weltbezug und im Lebendigen hält?

Wittich Nicht nur mich! Alle Beteiligten – es bekommen dies ja alle am Goetheanum mit.

Wären da auf einmal 40 Millionen, wäre das gefährlich, weil man in etwas hineinfallen könnte?

Wittich In Lethargie! Man müsste kein Risiko eingehen, sich nicht anstrengen. Es gibt aber auch Zwischenformen. So haben wir jetzt einen Freund, der für eine begrenzte Zeit die Parzivalaufführung am Goetheanum finanziell ermöglicht. Da haben wir ein anderes Risiko, nämlich, ob es künstlerisch gelingt, Eurythmie mit der Musik einer Wagner-Oper zu verbinden – und das auf Weltklasse-Niveau. Ich denke, es ist gelungen, weil drei Dinge zusammenkamen: eine Vision, ein Können und die fruchtbare Zusammenarbeit der Beteiligten. Es kommt immer darauf an, ob da dieser tastende Vorausschritt darin ist, dass der erforderlich ist.

Das heißt: nie völlige Sicherheit und nie ein System. Was du jetzt gesagt hast, das ist ein Wirtschaftsverständnis, das ich sehr anthroposophisch finde. Könntest du auch noch etwas zur Wirtschaft in der Anthroposophischen Gesellschaft sagen?

Wittich Ja, was meint man mit Wirtschaft? Die Eigenwirtschaft der Anthroposophischen Gesellschaft besteht im Beitragswesen. Unsere Unabhängigkeit entsteht dadurch, dass die Mitglieder als Gemeinschaft das finanzieren. Mit den Beiträgen tun sie das zu einem Viertel des Haushalts von etwa 16 Millionen CHF. Rechnet man Spenden und andere Mittel, die aus dem Freundeskreis kommen, hinzu, dann ist es mehr als ein Drittel. Ein weiteres Drittel verdienen wir selbst. Und noch etwa ein Drittel müssen wir als Drittmittel einwerben. Vielleicht meint Wirtschaft auch, wie das wirtschaftliche Feld mit der Gesellschaft zu tun hat. Auf einer Weltkonferenz 2016 am Goetheanum gab es einen Kreis von Unternehmern und Unternehmerinnen und anderen, die aus anthroposophischen Impulsen wirtschaftlich arbeiten, wo sich uns das Bild zeigte: Wir haben heute weltweit vielleicht 40 000 Institutionen – wenn du alle Höfe, Arztpraxen, Kanzleien, pädagogische Institutionen und so weiter mitzählst – und gut 40 000 Mitglieder. Wir wollen eine Verbindung zu den Institutionen herstellen. Das darf nicht bedeuten, dass die Betriebe und Institutionen plötzlich Geld aufbringen sollen für das Goetheanum. Das geht so nicht. Sondern wir sollten auf Augenhöhe ins Gespräch und in Beziehung kommen. Dafür ist die World Goetheanum Association gegründet worden mit dem Bild: Wir haben das kleine Goetheanum hier physisch vor Ort, und wir haben ein großes Goetheanum; das sind alle Menschen, die aus dem geistigen Impuls der Anthroposophie irgendwie praktisch und wirtschaftlich tätig sind. Die bilden das große Goetheanum. Wie kann man sich diese Bewusstseinsform erschließen? Das ist eigentlich keine Ausbreitungsbewegung, sondern wie ein fortlaufender Willensimpuls, der bei Rudolf Steiner angefangen hat und sich fortsetzt, wo Menschen ihr Schicksal treffen, wo sie im sozialen Bezug in der Begegnung eine Aufgabe in der Welt sehen und anpacken und Anthroposophie anwenden.

Ich käme als Erstes darauf, zu sagen: Ihr habt einen wirtschaftlichen Betrieb, zahlt mal Geld ans Goetheanum. Aber das ist es nicht. Was ist es dann?

Wittich Es sind erst mal die Anerkennung und das Interesse, dass Menschen aus einem geistigen Impuls zum Beispiel Reinigungsmittel herstellen oder eine Bank betreiben oder eine Institution begründen. Sie haben bisher wenig Dialog mit dem Goetheanum gehabt in ihrer geistigen Haltung und Intention. Da liegt noch viel Potenzial!

Der Bezug zum Goetheanum ist ein Bewusstseinsbezug. Die Intention ist nicht als Erstes Geld. Auch nicht als Zweites?

Wittich Das mussten wir uns abgewöhnen. Als das Erste Goetheanum abgebrannt war, da hat Rudolf Steiner gesagt: «Wir treffen uns morgen am Goetheanum.» Ätherisch war das Goetheanum vorhanden. Es war nur abgebrannt. So ist dieses große Goetheanum auch vorhanden. Wir haben es nur zu wenig im Bewusstsein. Wo es dann nachher einen wirtschaftlichen Ausdruck findet, das kommt eventuell an einer ganz anderen Stelle. Letztlich ist der einzelne Mensch das Verbindungsglied. Die Frage ist: Wie assoziiert er sich?

Ein Leben für die Anthroposophische Gesellschaft könnte man bei dir sagen. Aber ein Leben für die Anthroposophie? Wie ist das für dich?

Wittich Da frage ich mich, ob das nicht umgekehrt ist, ob man nicht aus der Anthroposophie lebt. Die Anthroposophie ist für mich kein Gedankengebäude. In der ‹Philosophie der Freiheit› heißt es, es ist hier ein bestimmter Weg gegangen worden durch die Philosophie der Freiheit, der ist niedergeschrieben, und es kommt nun darauf an, ob du bei Lebensfragen in der eigenen Seele das Feld entdeckst, aus dem du Antworten findest für alles andere. Gelingt das, dann fühle ich mich auf dem Weg zur Identität mit Anthroposophie. Insofern ist für mich auch der Schulungsweg einer, der im Leben verläuft. Ich habe auch immer die Neigung, wenn Ideen auftreten, sie praktisch zu denken, ob ich sie umsetzen kann. Das ist für mich die Prüfungsstelle, ob das im Leben stimmig ist.

Das ist ein Signum deines Tuns, dass es ins irdische Geschehen kommen kann?

Wittich Ja. Dazu gehört, Probleme anzusprechen, die da sind.

Bräuchte es das auch mehr in anthroposophischen Zeitschriften? Probleme als Probleme anzusprechen und nicht gleich wieder auf der Seite der hoffnungsvollen Lösungen zu sein? Mehr kritischer Journalismus?

Wittich Das ist nicht einfach. Es muss immer um den Kern der Sache gehen, nicht um Parteimeinungen, sondern um die Frage: Wo liegt das Problem wirklich.

Das kann krass sein.

Wittich Das kann krass sein. Also: Erkenne die Wunde. Das ist dann kein Kritikerverhalten, sondern dient dazu, aufmerksam zu werden auf das, was real die Wunde ist.

Wo ist in der Anthroposophischen Gesellschaft eine Wunde?

Wittich Die Wunde ist schon, dass es eine lange Tendenz gab und vielleicht auch noch gibt, die Anthroposophie als Methode für den egoistischen Eigenfortschritt anzusehen und nicht als Hilfe für die Welt. Und dass als Nebenerscheinung eines geistigen Schulungsweges ein kräftiger Egoismus auftreten kann in Bezug auf die eigene Persönlichkeit.

Die eigene Entwicklung und die Hilfe für die Welt – in meinen Augen ist das Geschehen in der Welt seit Covid offensichtlich ein Angriff auf die Menschheit. Wir haben Zeit gehabt für die eigene Entwicklung. Wir sollten in der Lage sein, das Geschehen bis in seine Intention hinein zu durchschauen. Was mache ich nun angesichts dieses Angriffs auf die Menschheitskultur? Anthroposophische Gesellschaft, Goetheanum, wie ist da für dich das Verhältnis zum Zeitgeschehen?

Wittich Ich bin überrascht über die Geschwindigkeit, mit der das eintritt. Das ganze Pressewesen und die Medien führten doch Orwells Roman ‹1984› vor.

Jetzt ist es ernst. Jetzt kannst du nicht mehr dasitzen und sagen: Ich bereite mich noch ein bisschen vor. Es ist jetzt. Was machst du?

Wittich Wenn der Rhein immer schmutziger wird und du an der Mündung anfängst, ihn zu säubern – reine Ohnmacht. Sondern du musst eine neue Quelle schlagen. Es versuchen. Du verschwendest sonst sinnlos Kraft und Zeit.

Und was wäre das, eine neue Quelle schlagen?

Wittich Für den Einzelnen: seiner Intention so geradlinig wie möglich zu folgen und sich nicht ablenken zu lassen. Für die Gesellschaft? Wir haben ständig abgewogen, eine Balance versucht zwischen Verfolgung des eigenen Weges und einer Schädigung des Sozialen, auch der Anthroposophischen Gesellschaft. Schließen wir das Goetheanum? Veranstaltungen nur noch mit Testnachweis? Wo sind rote Linien? Es war ein ständiges Ringen.

Wo erlebst du das Anschlagen einer neuen Quelle in der Vorstandarbeit und in der Anthroposophischen Gesellschaft?

Wittich Ich finde bei Rudolf Steiner eine Gesellschaftsform beschrieben, in der das Zusammenleben im Kern aus der Initiative der Einzelnen lebt und wächst. Es hat gar keinen Sinn, dass der Vorstand von den Mitgliedern etwas fordert oder die Mitglieder vom Vorstand. Sondern es geht darum, ob du einen menschlichen Zusammenhang bildest und für alle darin Initiative ermöglichst, die du mitmachst, selbst machst – aber nicht, dass du von anderen etwas forderst. Wie kann ich eine Methode oder ein Statut finden, die das erzeugen? Wenn ich eine Weltgemeinschaft bilde, dann ist es irrwitzig, über Finanzen vom Goetheanum abzustimmen, sondern ich muss einen menschlichen Zusammenhang schaffen und ein gemeinsames Bewusstsein. Ich wünsche mir, dass es uns gelingt, aus dieser Überzeugung eine Konstitution, ein Miteinander für die Jetztzeit zu beschreiben und zu bauen, mit dem und aus dem wir die nächsten zehn Jahre in der Gesellschaft leben können.

Einschließlich des Unsicheren?

Wittich Und nicht auf ewig.


Titelbild Justus Wittich, Foto: Enno Schmidt

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