Ästhetik als spiritueller Weg

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In einem Gespräch über seine Forschungen zur Ästhetik erwähnte Bodo von Plato Polaritäten. Polaritäten, die die Welt konstituieren und die durch ästhetische Praxis auf eine höhere Ebene gehoben werden können. Er kam zu dem Schluss, dass ‹ästhetische Praxis› nichts anderes sei als Anthroposophie. Da wir diese Gedanken inspirierend fanden, haben wir Bodo von Plato zu einem weiteren Gespräch eingeladen, um näher zu erfahren, was er unter ästhetischer Praxis versteht und wie man sie entwickeln kann. Das Interview führte Louis Defèche.


Was verstehst du heute unter ‹ästhetischer Praxis›?

Als ästhetische Praxis sehe ich immer mehr die Fähigkeit, etwas zu verbinden, was getrennt oder einander entgegengesetzt ist. Das ist perspektivisch in meinen Augen die bedeutendste Eigenschaft ästhetischer Praxis. Im Altgriechischen schon bedeutet Ästhetik ja bekanntlich Wahrnehmen, das sinnliche Wahrnehmen und die daran anschließende Empfindung, die im Bewusstsein erscheint. Ja, das Bewusstsein realisiert die Empfindung, die an eine sinnliche Wahrnehmung anschließt. Ästhetik hat die Kraft, ein Sinnliches und ein Übersinnliches miteinander zu verbinden. Sie ist diese Verbindung. Eine sinnliche Wahrnehmung ruft im Menschen und in Tieren – vielleicht auch in Pflanzen? – etwas hervor, eine Antwort, eine Reaktion. Der Mensch hat die besondere Fähigkeit, diese Empfindung, die dann auftaucht, auch im Bewusstsein zu realisieren. Die Bearbeitung dieses Bewusstseins der auftauchenden Empfindung im Anschluss an eine sinnliche Wahrnehmung ist ästhetische Arbeit, ist das ästhetische Lebensfeld. Ästhetische Praxis besteht in Anschauung und Reflexion, in Aufarbeitung, Gestaltung und Weiterführung dessen, was wir an einer Empfindung individuell erleben, die durch eine Wahrnehmung ausgelöst wird.

Jetzt habe ich zunächst von einer sinnlichen Wahrnehmung als Ausgangspunkt gesprochen. Das schließt an die klassisch-griechische Begriffsbestimmung der Ästhetik an. Ich möchte aber weitergehen und die Wahrnehmung seelischer und geistiger Vorgänge miteinbeziehen. Auch nicht sinnliche Wahrnehmungen lösen in der Seele Empfindungen aus. Sie können im Bewusstsein realisiert, verarbeitet und zu einer ästhetischen Erfahrung werden, aus der möglicherweise eine entsprechende Praxis hervorgeht.

Ich glaube, es liegt auf der Hand, dass es viel verändern wird, wenn wir dieses wechselvolle Beziehungsgeschehen, diesen Dreischritt von sinnlicher und nicht sinnlicher Erscheinung, daran anschließender Empfindung und entsprechender Bewusstseinsbildung besser verstehen und beachten. Es wird viel verändern im persönlichen Leben, im Zwischenmenschlichen, vor allem aber im Anthropozän, wo alles an unserem menschlichen Bewusstsein, an unserem Tun und Lassen hängt.

In unserer Zeit – durch die Erfahrungen der Menschheit im 20. und 21. Jahrhundert – hat vielleicht eine Entwicklung des Begriffs stattgefunden?

Seit Platon schon hat eine erhebliche Entwicklung des Begriffs Ästhetik stattgefunden – und eine ganz wesentliche dann im späten 18. Jahrhundert. Dieses spätere 18. Jahrhundert ist ja für alles so entscheidend, was unsere entzauberte und globalisierte Welt betrifft. Ratio und Aufklärung gewinnen da ihre befreiende und auch zerstörerische, in jedem Fall bestimmende Macht, beginnen aber auch, sich selbst zu reflektieren, und dabei spielt Ästhetik eine entscheidende Rolle. Friedrich Schiller entdeckt ihre bis dahin unbekannte Potenz und beschreibt sie 1793 als eigentliches, individuelles und politisches Mittel der Menschen- und Gesellschaftsbildung. Erst im späteren 20. Jahrhundert wird an den existenziellen, menschengemachten sozialen und ökologischen Herausforderungen sichtbar, welche Perspektive möglicherweise in dieser Entdeckung liegt, die eine relevante Beziehung zwischen Wahrnehmung, Empfindung und Bewusstsein stiftet, zwischen Leben, Schönheit und Gestaltung.

Schillers Entdeckung hatte keine kulturell prägenden Folgen. Bis heute wird Ästhetik gewöhnlich und nicht zu Unrecht mit dem Schönen identifiziert; in der akademischen Welt hat sie vor allem in der Kunstwissenschaft ihr angestammtes Feld, auch wenn das seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts nicht mehr durchgängig zutrifft; tief verwurzelt im abendländischen Gefühl aber lebt ein idealistischer Begriff des Schönen: Schön ist, wenn etwas Höheres, etwas Göttliches, Geistiges oder Ideales anschaubar wird, sinnlich erscheint. Das Ideelle ist das Wichtige, das Sinnliche ist niederer Natur, untergeordnet, nur Ausdruck. In diesem Sinne und aus dieser Perspektive stellt und beantwortet eine idealistische Ästhetik die Frage: ‹Was ist schön?›

Ganz andere Verhältnisse tauchen auf, wenn die Frage einer realistischen Ästhetik gestellt und auf sie Antwort gesucht wird: ‹Was macht etwas schön?›

Yves Berger, ‹Eyes shut›, 38 × 46 cm, Kasein und Öl auf Leinwand, 2005–2024

Dann wird die Tätigkeit selbst zum Ausgangspunkt und Ziel ästhetischer Orientierung – Tätigkeit, die von vielen Möglichkeiten zu einer bestimmten Wirklichkeit führt; die Tätigkeit auch, die mich dazu führt, aus der Fülle möglicher Deutungen der Wirklichkeit eine zu wählen, die mein Urteil bestimmt und meine Tat motiviert. Goethe und Schiller vollziehen diese radikale Wende einer idealistisch-ästhetischen Bestimmung zur ästhetischen Erfahrung, beide realisieren sie in ihren schöpferischen Leben, Schiller bis in die methodische Begründung einer transformativen ästhetischen Praxis. Es bleibt weitgehend unbemerkt.

Hier im Goetheanum-Zusammenhang möchte ich gerne ergänzen, dass Rudolf Steiner die Bedeutung dieses fundamentalen Perspektivenwechsels sehr früh erkennt. Es ist wirklich erschütternd, mit welcher Klarheit und Einfachheit er 1888 dieses eigentlich recht komplexe Phänomen beschreibt: «Das Schöne ist nicht das Göttliche in einem sinnlich-wirklichen Gewande; nein, es ist das Sinnlich-Wirkliche in einem göttlichen Gewande. Der Künstler bringt das Göttliche nicht dadurch auf die Erde, dass er es in die Welt einfließen lässt, sondern dadurch, dass er die Welt in die Sphäre der Göttlichkeit erhebt.»1 Es geht um die Erfahrung, die wir hier in der physisch-sinnlichen Welt machen, ihre tätige Transformation und Gestaltung. Es gilt, dieses Sinnlich-Wirkliche so zu transformieren, dass die geistige Signifikanz des sinnlichen Daseins zum Ausdruck kommen kann. Da ist das Entscheidende, das im späten 18. Jahrhundert aufleuchtet und wohl im 19. Jahrhundert nirgends so ernsthaft aufgegriffen und weitergeführt wird wie in Steiners Anthroposophie – es durchzieht sein ganzes Werk bis zur Stiftung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, die für genau diese Aufgabe angelegt ist: die schöpferische Transformation der sinnlich-wirklichen Welt in einer Art und Weise, die ihre geistige Dimension zum Ausdruck bringt und wirksam werden lässt.

Im 20. und frühen 21. Jahrhundert folgen dann viele Denker und Denkerinnen, Künstlerinnen und Künstler, die diese Perspektive genuin, also ohne expliziten Bezug zu Goethe, Schiller oder Steiner verfolgen, etwa John Dewey, Ludwig Wittgenstein, Hannah Arendt oder Walter Benjamin, Simone Weil und Rainer Maria Rilke oder John Berger, später die Postkolonialen oder Bruno Latour, Gregory und Mary Bateson, Wolfgang Welsch, François Julien, Juliane Rebentisch und Byung Chul Han oder Arnold Berleant – um nur einige wenige zu nennen, die mich vielleicht besonders beeindrucken. Es ist auch gerade in diesem Kontext immer weniger sinnvoll, Zuordnungen zu versuchen, die qualifizieren, wer welchen Kriterien genügt, viel wesentlicher wird die Art und Weise ästhetischer Konsequenz.

Du hast zuvor gesagt, dass spirituelle und psychische Erfahrungen Teil der ‹Wahrnehmung› seien, aber die Dualität von Geist und Sinneswahrnehmung bleibt bestehen. Wie siehst du das?

In unserer bewussten Erfahrung gilt der Dualismus. Da draußen ist die Welt, hier innen bin ich, der Welt gegenüber. Das ist meine (ästhetische) Erfahrung der Getrenntheit. Die (ästhetische) Aktivität besteht darin, nicht etwa das eine oder andere gering zu schätzen oder isoliert zu favorisieren, sondern im monistischen Sinne daraus eine Einheit zu schaffen; nicht unbedingt symmetrisch, aber eigen; eine einheitliche Welt, deren Teil ich bin, die Teil meiner selbst ist. Für seelische und geistige Phänomene gilt das genauso: Mache ich eine Erfahrung, so bin ich es, der sie macht – die Erfahrung und ich sind zwei. Ob es dann beim Dualismus bleibt oder nicht, hängt von meinem Umgang damit ab, von meiner Vita activa, von meiner ästhetischen Praxis.

Du sagst Vita activa, aber wenn man über Ästhetik spricht, hat man auch stark eine Dimension der Vita contemplativa.

Die Erfahrung beschreibt den rezeptiven Teil, der in der Vita contemplativa zu einer Kultur werden kann. Wie lerne ich zu Empfangendes empfangen? Wie lerne ich ‹handelndes Nichthandeln› (Simone Weil)? ‹Handelndes Nichthandeln› – eine ästhetische Formulierung, die einen Gegensatz als ein Ganzes beschreibt und damit eine Frage aufwirft. Kern ist ein unvereinbarer Gegensatz. Handeln und Nichthandeln. Aber gerade das ‹handelnde Nichthandeln› beschreibt Weil als Vita contemplativa, und die Vita activa besteht darin, dass ich das überhaupt bemerke, annehme und ergebnisoffen weiter damit umgehe. Das ist eine ästhetische Erfahrung, die langsam zur ästhetischen Praxis wird, indem ich beginne, in dieser Haltung etwas hervorzubringen, ein Gefühl oder einen Begriff, eine Haltung, ein Urteil oder eine Tat.

Du hast kürzlich die Übereinstimmung von Ästhetik und Anthroposophie beschrieben. Inwiefern sind Anthroposophie und Ästhetik das Gleiche?

Yves Berger, ‹Blue face›, 106 × 89 cm, Kasein auf Leinwand, 2024–2025

Besteht die Originalität der Anthroposophie nicht darin, dass sie von der Realität geistiger Wirksamkeit ausgeht, deren Herkunft aber im gegenwärtigen, gewöhnlichen Bewusstsein nicht erscheint; dass sie Vorschläge zum bewussten Tätigwerden macht, um dieses Bewusstsein realistisch zu erweitern? Wir haben vergessen, dass Götter und Geister um uns und mit uns leben, und müssen ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass wir in einer entgöttlichten und entseelten Welt leben, die nach wesenlosen, vor allem mechanischen und chemischen Gesetzen funktioniert. Wir versuchen, dieses Funktionieren zu erkennen, es zu reproduzieren und zu optimieren, und schaffen eine entsprechende menschengemachte Welt – und finden uns bald menschlich immer fremder in ihr und in uns. Wir sehen und beginnen zu begreifen, dass auch die anderen Naturreiche, ja unsere ganze Erde so nicht überleben werden. Anthroposophie geht davon aus, dass es eine geistige Welt gibt, nimmt aber ernst, dass sie im normalen Bewusstsein des Menschen nicht vorkommt, und schlägt vor, tätig zu werden. Nehmen wir den Vorschlag auf, unser tätiges Bewusstsein tätig zu beobachten, um es entsprechend dieser Beobachtung selbsttätig weiterzuentwickeln, beginnt die Erfahrung von tätigen Wesen in diesem Bewusstseinsraum zu wachsen – Wesen, die nicht nur wir selbst und andere Menschen sind, mit denen Wechselseitigkeit und Kommunikation möglich werden. Wenn wir diese Praxis als maßgeblich für Anthroposophie annehmen, dann wäre sie der oben skizzierten realistischen Ästhetik ziemlich ähnlich, wenn nicht mit ihr identisch.

Oder noch einfacher: Ästhetik lebt in der Verbindung von Polaritäten wie Form und Stoff, Geist und Materie. Ihre Durchdringung, Wechselseitigkeit und schöpferische Wirksamkeit ist ihr Leben wie das der Anthroposophie.

Es gibt einen Unterschied zwischen Wahrheit und Schönheit. Bei der Anthroposophie ist man eher daran gewöhnt, sie in die Kategorie ‹Wahrheit› einzuordnen. Wenn man zum Beispiel ein anthroposophisches Buch liest, ist es nicht üblich, es als ästhetische Praxis zu betrachten.

Wenn wir die große metaphysische Trias Wahrheit, Schönheit und Güte anschauen, scheint das Verhältnis von Wahrheit und Schönheit wegen ihrer scheinbar unterschiedlichen Beziehung zum Objektiven und zum Subjektiven besonders interessant. Wir haben bei der Wahrheit wohl am meisten das Gefühl, dass sie an sich und für alle gilt, dass sie unabhängig davon ist, was Einzelne meinen. Heute wird gern ihre Vielfalt betont, jede und jeder möchte ihre oder seine eigene Wahrheit haben. Man will ihrem Absolutheitsanspruch aus dem Weg gehen und mehr noch denen, die ihn für sich in Anspruch nehmen. Bei der Schönheit geht man eher davon aus, dass sie mit Empfindung und Gefühl zu tun hat, wobei jede und jeder etwas anderes schön finden darf. Ob allerdings das Schöne vom persönlichen Gefühl bestimmbar ist, nur weil es im Empfinden auftaucht, ob es subjektiver oder objektiver Natur ist, gehört zu den grundlegenden Fragen der Ästhetik. Auf jeden Fall ist die Disposition zur Toleranz, zum Geltenlassen persönlicher Verhältnisse auf diesem Gebiet erheblich größer als auf dem der Wahrheit. Darin liegt eine Chance.

Und doch verschwindet damit nicht die Herausforderung, zu entscheiden, ob ich allein in meinen Vorstellungen leben, sie ausbauen oder beibehalten will, oder ob ich bereit bin, in ein Wechselverhältnis mit der Welt zu treten, mit allem, was mir von außen oder innen begegnet.

Schönheit und Kunst haben immer diese Doppelnatur: Sie lassen mich einerseits ganz individuell nach meinen Vorprägungen, nach meiner Sehnsucht und meinem Geschmack empfinden und urteilen, und zugleich erscheint in ihnen immer etwas, was über mich hinausführt. Ob und wie ich diesen Ebenen-Wechsel erfahre, qualifiziert meinen künstlerischen oder ästhetischen Sinn.

Mit der Wahrheit geht es auch ganz gut, solange wir wirklich wissenschaftlich vorgehen, wirklich ergebnisoffen die Dinge befragen und untersuchen. Wenn der Prozess des Erkennens im Vordergrund steht und nicht das Ergebnis, hat die Wahrheitsfrage fast genau dieselbe Chance, zwischen Subjekt und Objekt ein persönlich-sachlich angemessenes Gleichgewicht zu finden, wie die Schönheit. Allerding liegt es bei der Wahrheit näher, dass wir uns mit ihrem finalen Dasein identifizieren und nicht mit ihrem prozesshaften, bei der Schönheit scheint es mir eher umgekehrt.

Im Hinblick auf die Güte treffen wir auf andere Schwierigkeiten, weil wir durch Taten und ihre Folgen so verhältnismäßig viel stärker und konkreter betroffen sind. Auch in der Bewertung einer Handlung ist die Fixierung näherliegend – wenn ich gut handle und meine Handlung von anderen für gut gehalten wird, ist der Eindruck so mächtig, dass ich eigentlich kaum noch die Möglichkeiten habe, das Urteil über die Handlung in der Schwebe zu halten. So kann sich eine normative Moral oder Ethik leicht kristallisieren. Sie lässt im Hinblick auf das Gute oder die Güte wenig Freiheit – ja sie kann, sobald sie prinzipielle Züge annimmt, sogar schneller totalitär werden als die Wahrheit dogmatisch.

Yves Berger, ‹Ange›, 50 × 40cm, Kasein auf Tarlatan, maroufliert auf Leinwand, 2025

Wo Totalitarismus die Güte, wo Dogmatik die Wahrheit gefährdet, zieht sich die Schönheit still zurück. Und wo man sie nicht oder zu wenig achtet, erscheinen Kitsch und Karikatur an ihrer Stelle.

Zurück also zu deiner Frage: Eigentlich erscheint mir Anthroposophie aus dem Gesichtspunkt der Güte mindestens so interessant wie aus jenem der Wahrheit – als landwirtschaftliche, pädagogische oder medizinische Praxis hat sie ja auch viel mehr Zustimmung gefunden denn als philosophische. Ästhetisch aufgefasst ist sie sicherlich noch am wenigsten erschlossen, am unberührtesten – vielleicht sind Berührbarkeit und Unberührbarkeit auch gemeinsame Charakteristika des Ästhetischen und der Anthroposophie?

Jetzt, im 21. Jahrhundert, jetzt im Jahr 2025, mitten in den aktuellen Krisen und Kriegen, inwiefern kann ästhetische Praxis eine zentrale Rolle spielen?

Maja Göpel stellt in ihren öffentlichen Beiträgen gelegentlich die Frage, ob die Zuhörenden lieber in einer Gesellschaft leben wollen, die von Bezos, Zuckerberg, Musk und ihresgleichen geführt wird oder von Gandhi, dem Dalai Lama oder anderen ethisch und spirituell lebendigen Menschen.2 Natürlich ziehen alle Letztere vor, die Realität aber ist umgekehrt. Da sind wir, glaube ich, an einem entscheidenden Punkt. Wie gehe ich mit den wachsenden Widersprüchen der Existenz im 21. Jahrhundert um? Diese Widersprüchlichkeit hat viel damit zu tun, dass unser Bewusstsein, dass Interesse und Aufmerksamkeit der ganzen Menschheit für die materiellen Daseinsaspekte erheblich gewachsen sind. Und Macht gewinnen dadurch die, die darauf eingehen können, der Kapitalismus ist offensichtlich die beste Form dafür. Die anderen Aspekte, die dieses so rasch wachsende Bewusstsein berührt, werden weitgehend verdrängt oder idealistisch absorbiert. Wir und wohl die meisten Leserinnen und Leser des ‹Goetheanums› sehnen sich wie selbstverständlich nach diesen anderen Aspekten, nach Demokratie und Selbstbestimmung, nach Umweltschutz, Nachhaltigkeit und der Achtung natürlicher Lebenszusammenhänge, nach spiritueller Entwicklung und vor allem nach menschlich sensiblen und achtsamen Umgangsformen. Die Kluft zwischen dieser Sehnsucht und der in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer kriegerischer gewordenen Lebens- und Wirtschaftsweisen ist offensichtlich.

Leider wird es aber wohl kaum eine ästhetische Revolution geben, so nötig es auch wäre. Die ästhetische Dimension ist auf Entwicklung und Wechselwirkung angewiesen, Durchsetzung kennt sie nicht. Schillers Ansatz folgend würde ich angesichts der aktuellen ökonomischen, ökologischen und machtpolitischen Sackgassen alles auf Bildung setzen. Nicht auf ein bestimmtes Bildungsideal, sondern auf die Vielfalt konkreter Praxis in Bildung, Kunst und Kultur. Überall, wo ein bildnerisches Interesse, wo ein schöpferischer Eros bemerkbar wird, braucht es Offenheit, Ermutigung und Unterstützung statt Zweifel, Skepsis oder Besserwisserei. Ästhetische Orientierung rückt Bildungsinitiativen und -einrichtungen ins Zentrum. Humboldt beispielsweise hat das Bildungswesen weltweit geprägt, auch heute noch können seine genialen Ideen inspirieren; Dewey und Steiner sahen beide nicht nur philosophisch und spirituell komplexe Möglichkeiten und haben sie zur Geltung gebracht, sie engagierten sich konzeptionell und praktisch im Schulwesen und setzten sich für politische Veränderungen ein. Ja, vielleicht können überhaupt Beispiele mehr leisten als neue Systeme. Menschen sehen lernen, die uns gefallen oder beeindrucken; durch den eigenen bejahenden Blick etwas oder jemanden verstärken; durch die eigene bejahende Empfindung etwas oder jemanden ermutigen; durch die eigenen Unsicherheiten und Fragen etwas öffnen. Verstärkung, Ermutigung und Öffnung sind ästhetisch wirksame Qualitäten. Luisa Neubauer etwa scheint in dieser Weise segensreich zu wirken, menschlich, publizistisch, gesellschaftlich. Eine ästhetische Praxis nimmt konkrete Möglichkeiten ernst, macht keine großen Pläne, ist nicht erfolgsabhängig, lebt aus sich selbst, ohne um sich selbst zu kreisen.

Ein weiteres Feld ist das tägliche Leben und die Gestaltung der Gegenstände des täglichen Lebens. Design und Produktgestaltung haben das Leben tatsächlich revolutioniert. Allerdings bleibt eine wirklich ästhetische Gestaltung noch immer nur Eliten vorbehalten. Die Kernfrage scheint mir zu sein, ob und wie der Aspekt der Schönheit zu einem ernst zu nehmenden Gesichtspunkt im öffentlichen Diskurs, in der breiteren politischen und ökonomischen Praxis wird. Schönheit ist heute außer bei ausgesprochenen Luxusobjekten kein Wert, wie es Funktionalität und Machbarkeit, Effizienz, Rentabilität oder Nachhaltigkeit sind. Ein Beispiel ist die urbane Zukunft, die Zukunft unserer Städte. Aktuelle städtebauliche Ideen und Modelle integrieren natürliche und lebendige Elemente wie Wasser oder Pflanzen, um klimatischen Anforderungen zu genügen. Bei einer Ausstellung in Berlin über die Stadt der Zukunft zeigten neulich fast alle vorgestellten Entwürfe ein Bewusstsein für ökologische Dimensionen, die noch vor zehn Jahren in diesem Maße undenkbar waren. Sie sind insofern ästhetisch, als sie ein Zusammenspiel verschiedener Elemente und Gesichtspunkte so verbinden, dass eine lebenswerte, weil vielgestaltigere Umwelt entsteht. Dass die konkrete Formensprache dabei eintönig bleibt, ist rätselhaft; bedrückender ist, dass die normale tägliche Bauwirklichkeit weit von diesen Ideen entfernt bleibt – Schönheit und Lebensfreundlichkeit sind keine Referenz.

Gerade an den Begriffen ‹Nachhaltigkeit› und ‹Ökologie› aber können wir – wie übrigens an manchen anderen Begriffen des 20. Jahrhunderts – ablesen, dass ein zunächst irrelevanter oder belächelter Aspekt im Laufe von wenigen Jahrzehnten Einfluss gewinnen kann. Selbst wenn der Begriff der Nachhaltigkeit heute oft nur als Alibi dient, ist sein Einfluss doch erheblich gewachsen. So werden auch das Denken und Besprechen, Befragen und Untersuchen des Begriffs Ästhetik einen Beitrag dazu leisten, dass eines Tages seine Wirksamkeit die menschengemachte Lebenswirklichkeit mitbestimmen wird.

Zusammenfassend soll das vielleicht sagen, dass ästhetische Praxis – sei es durch Bildung, durch die Gestaltung unserer Umwelt oder schon allein durch die Begriffsbildung – mitten in die Herausforderungen der Gegenwart gehört. In diesem Sinne ist ästhetische Praxis eine politische Perspektive. Dass man durch sie laufende Kriege beenden kann, glaube ich zwar nicht. Ich glaube jedoch, dass wir im Kleinen wie im Großen umso weniger Krieg führen, je ästhetischer wir empfinden und handeln.

Die wachsende Bedeutung der Bildung in den Multikrisen der Gegenwart leuchtet mir ein – wie können wir Bildung und Ausbildung im ästhetischen Sinne verändern?

Ästhetische Praxis lebt ja vor allem in Wechselwirkung und Verbindung. Wechselseitigkeit meint, dass wir uns gemeinsam mit einem Gegenstand verbinden und zugleich mit ihm uns selbst befragen. Alle Mitwirkenden sind dabei in ihrer Verschiedenheit gleichermaßen von Bedeutung. Deine Art, zu fragen und zuzuhören, ermöglicht es mir, etwas zu entdecken und zu formulieren – und umgekehrt. Das ist so elementar wie wesentlich. Jede Forschungs-, Studien- oder Ausbildungssituation würde darauf achten und ein entsprechendes Gleichgewicht suchen – zwischen Reflexion und Tätigkeit, Naturbetrachtung und künstlerischem Schaffen, zwischen Sprechen und Zuhören und so weiter. Gleichgewicht meint nichts Statisches, meint dynamische Bewegung zwischen Gegensätzen. Ebenso rückt zwischen Lehrenden und Studierenden – ohne jede Ignoranz gegenüber den unterschiedlichen Erfahrungshorizonten und Lebenssituationen – das Miteinander in den Vordergrund, die Begegnung auf Augenhöhe. Der Begriff ‹Augenschein›, den Augustinus im Hinblick auf den Dialog schon im frühen 5. Jahrhundert einführt, beschreibt, was durch gleiche Augenhöhe sichtbar wird: dass wir immer werdende Menschen in einem gegenwärtigen Moment sind – im Angesicht Gottes. Wo dieses Bewusstsein realisiert wird, können Vermittlung von abfragbarem Wissen und Können Maßstab bleiben, die Qualität des gemeinsamen Tätigseins erweist sich aber als eigentliches Agens.

Yves Berger, ‹Immaculée conception›, 29 × 21 cm, Kasein auf Karton, 2025

Tatsachen bleiben wichtig, ohne sie gibt es keine Ausbildung, keine Lehre, keine Forschung. Doch immer entscheidender werden die Beziehungen zwischen den Tatsachen. Es geht nicht darum, das Gute oder Wahre zu vernachlässigen, wenn man das Schöne betont. Es braucht eine immer erneute Entscheidung, was wann in den Vordergrund der Aufmerksamkeit tritt, denn alles gleichzeitig geht nicht. Heute würde ich sagen: Tatsachen sind wichtig, aber die Beziehungen zwischen ihnen sind entscheidend. Eine ästhetische Haltung wird immer wieder neu nach der angemessenen Proportion zwischen den drei Elementen der metaphysischen Trias fragen, sie ist darin unermüdlich wie jede Kunst.

Und wie siehst du das Verhältnis zwischen Ästhetik und künstlicher Intelligenz?

Künstliche Intelligenz stellt Vergangenes in enormer Komplexität bereit. Dadurch verlieren Sammlung, Konservierung und Abfragbarkeit von Wissen an Bedeutung. Das sehe ich als große Chance, besonders im Bildungswesen. Früher waren Erwerb und persönlicher Besitz von Wissen so wichtig wie heute die Qualität der Beziehung, die wir zu Wissen und Können etablieren.

Künstliche oder vielleicht zutreffender: simulierte Intelligenz verändert die Art und Weise, wie wir Wissen gewinnen und nutzen, sie öffnet damit neue Möglichkeiten für eine ästhetische Kultur. Statt uns mit der aufwendigen Beschaffung von Fakten zu beschäftigen, ermöglicht diese Technik den sofortigen Zugriff auf Informationen und Tatbestände. Wie gehen wir dann damit um? Gewinn und Besitz von Wissen verlieren an Bedeutung, das ‹Wie› des Wissens wird möglicher und wichtiger – dazu gehört auch das ‹Wie› des Umgangs mit der entsprechenden Technik. Haben wir beispielsweise eine Frage zu dem Verhältnis der letzten Werke Franz Rosenzweigs zu den ethischen Perspektiven von Emanuel Levinas, liefert künstliche Intelligenz schon heute oder in naher Zukunft eine Material-Grundlage, die selbst ausgewiesene Kenner kaum ermitteln können, sodass wir uns auf unsere spezifische Perspektive, die kreative Verbindung von Inhalten und den Dialog mit anderen fokussieren können. Diese Möglichkeit eröffnet Raum für eine neue Praxis, die das Zwischenmenschliche und die Beziehungen zwischen den Tatbeständen in den Mittelpunkt stellt. In einem Gespräch mit zwei, drei oder mehr Beteiligten entstehen einzigartige Beziehungen zwischen Ideen und Menschen, die weit über die bloße Kombination von Wissen hinausgehen.

So betont eine ästhetische Kultur einmal mehr die Bedeutung des Miteinanders – sowohl in Bildung und Wissenschaft als auch im Umgang mit Technologie. Sie lädt dazu ein, die Natur nicht mehr als bloße Umwelt, sondern als Mitwelt zu begreifen, mit der wir in respektvoller Koexistenz leben lernen. Ebenso wird mein Gegenüber zum Mitmenschen, mit dem ich gemeinsam an einer ästhetischen Kultur arbeite, an einer Kultur der Verhältnismäßigkeit. Künstliche Intelligenz bildet dabei keinen Gegensatz auf gleicher Ebene, sondern ist ein Werkzeug, das uns unterstützen oder hindern kann, je nachdem, wie wir sie verstehen und einsetzen.

Künstliche Intelligenz erscheint aus diesem Blickwinkel als eine konsequente Weiterentwicklung des bürgerlichen Bildungs- und Wissensideals der Neuzeit. Wir können sie als Fundament nutzen, um neue Ansprüche zu stellen – an uns selbst, an die Gesellschaft und an die Herausforderungen unserer Zeit. Eine Kultur des Zwischenmenschlichen, gestützt durch künstliche Intelligenz, könnte nicht nur unsere ästhetische Praxis bereichern, sondern auch einen spirituellen Weg gangbarer machen, mit der Natur, mit der Welt und miteinander mehr in Einklang zu leben.

Vielen Dank für das Gespräch, Bodo.


Buch Kornblumenblau, Noten einer Ästhetischen Praxis, Prolog: Sprechen lernen, Berlin 2025. Bestellen: Institut für Ästhethische Praxis

Yves Berger ist Maler und lebt und arbeitet in einem kleinen Bergdorf in den französischen Alpen. Er wuchs unter den Bauern auf, die sein Zuhause umgaben, und mit den zahlreichen Künstlern, die seinen Vater John Berger regelmäßig besuchten. Dieser besondere Kontext, später die Kunstakademie in Genf und viele Reisen sind der Nährboden, auf dem sein künstlerisches Schaffen in den letzten 30 Jahren gewachsen ist. Er bedient sich visueller Medien wie Zeichnung, Malerei, Monoprint, Radierung und Skulptur. Mehrere seiner Schriften wurden in verschiedenen Ländern veröffentlicht. Derzeit versucht er, seine Grenzen zu erweitern, auch diejenigen, die ihn als Künstler definieren.

Fußnoten

  1. Rudolf Steiner, Goethe als Vater einer neuen Ästhetik. Wien, 9. November 1888, GA 271; s. a. Roland Halfen, Kunst und Erkenntnis – Rudolf Steiners ‹Ästhetik der Zukunft›. 2019.
  2. Maja Göpel, Wir können auch anders. Aufbruch in die Welt von morgen. 2022.

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