War Rudolf Steiner ein Aristoteliker oder doch auch, irgendwie, mindestens in mancherlei Hinsicht, ein Platoniker? Viel Streit hat sich in den letzten 100 Jahren ausgehend von solchen Fragen entfacht.
Solche Fragen betreffen selbstverständlich nicht nur Rudolf Steiner, sondern die Anthroposophie im Allgemeinen. Ist Anthroposophie aristotelisch geboren, um irgendwann in sich auch das Platonische zu integrieren? Und wenn Rudolf Steiner weder ein Platoniker noch ein Aristoteliker gewesen wäre, sondern, schlicht und einfach, ein – Sokratiker?! Ich höre sofort, wie Bedenken dieser Frage begegnen: Sollen wir eine andere, Steiner und die Anthroposophie einkapselnde Schublade einführen? Die Antwort ist aber ein deutliches Nein, wenn wir Sokrates´ Hebammenkunst – die nur in Platon, ‹Theaitetos› 148e-151d, charakterisiert wird – als zukunftsträchtige Zersprengung aller Schubladen, Schablonen, Diskurse, Modelle, Theorien, Algorithmen, Antizipationen ernst nehmen!
Sokrates war der erste europäische ‹Meister›, der öffentlich, jenseits der Zugehörigkeit zu einer kultischen Institution, die herkömmliche Figur des ‹Meisters› unerbittlich dekonstruierte. War er gerade deshalb (als Mysterienverräter?) verurteilt worden? Keine eigene Weisheit/Sophia wollte er im Gespräch gebären. Er wollte lediglich als erfahrene, schon geboren habende Hebamme der Weisheit wirken, damit der ihm begegnende, geistig schwangere Mensch die mit der eigenen Individualität harmonische Sophia gebären und mithin die eigene neue Geburt durch Selbsterkenntnis erleben könne. Durch Sokrates wird die ‹zweite Geburt›, die alle Mysterienströmungen als Kulmination der Einweihung kennen, zu einem Ereignis, das sich aufgrund der unbefangenen geistigen Begegnung im offenen physischen Raum, durch das freie Gespräch, jenseits aller Normen und Pläne, als Gegenwart des Geistigen im Irdisch-Menschlichen offenbaren kann. Am Anfang ist das Fragen des Sokrates, das den anderen Menschen zum Bau des eigenen Wegs, zur neuen Geburt anfeuernd anregt.
Rudolf Steiner radikalisiert und kehrt damit die Gebärde des Sokrates um: Am Anfang ist das Fragen, jedoch jetzt nicht als das Fragen, das ausgehend vom ‹Meister› als verortbarer fragender Mitte geboren wird. ‹Meister› ist jetzt ein Mensch, der sich in der Begegnung, in jedem Augenblick neu, als unendlichen, unverortbaren sphärischen Umkreis gebärt, der einen Raum aus Wärme und Licht für das entscheidende Fragen des anderen Menschen bildet. Nicht mehr der ‹Meister› soll das Fragen als Anfang bewirken. Um zu handeln, wartet Rudolf Steiner darauf, dass ein anderer Mensch, vollkommen frei, aus der Kraft des Ich, die entscheidende Frage stellt: damit ein neuer Anfang geboren wird, der die ganze Erde befruchten kann. Ohne die fragende Marie von Sivers, ohne die fragende Mathilde Scholl, ohne die fragende Ita Wegman keine neue westliche/europäische Esoterik, keine Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft, keine Neuorientierung der Medizin in Richtung einer Mysterienkunst – diese sind nur drei der bekannteren Beispiele.
Der ‹Meister› wird dadurch nicht nur dekonstruiert. Würde es dabei bleiben, würde es sich um ein Stirb ohne Werde handeln. Sondern er wird auch neu geboren, als bedingungslos hörender Freund: als schöpferische Leere eines vollkommen wachsamen, unendlich sphärischen Ich, das, jenseits aller Perspektiven, als Hebamme für die Offenbarung des anderen Ich als mutig Fragenden wirkt. Das mutig fragende Ich ist jetzt wiederum nicht mehr bloß persönlich, sondern zugleich Person und Welt: unbefangen ‹weltendes› Fragen, das deshalb geboren wird, weil ein anderes Ich sich als Hebamme, als fruchtbar leere Wachsamkeit schenkt, die für die Geburt eines anderen freien Ich zur Verfügung steht. Authentische Freiheit kann aber nicht bedeuten, dass das Ich sich mit irgendwelcher ‹Persönlichkeit› befangen identifiziert. In anderen Worten: Frei ist nur ein Ich, das unverortbares, fruchtbar leeres, und somit harmonisch ‹weltendes› Ich sein will. Rudolf Steiner will Hebamme für dieses frei ‹weltende› Ich, nicht als ‹Meister›, sondern als Freund sein, der in allen Menschen den Keim der dazu nötigen Hebammenkunst wahrnimmt. Deshalb schenkt er der Gegenwart und der Zukunft eine Menschenkunde des Ich, in der er mit der Sprache freudig spielt, das überraschende Verb ‹ichen› prägend (GA 293, 29.8.1919). ‹Ichen› bedeutet nämlich nicht die Selbstoffenbarung des Ich, sondern die Wahrnehmung des anderen Menschen als Ich in jeder physischen Begegnung: durch den Ich-Sinn möglich, durch den unser wahrnehmendes Ich die Offenbarung des anderen Ich als Ich unbefangen empfangen kann.
Mit dem Hinweis auf einen Ich-Sinn scheint uns Rudolf Steiner sagen zu wollen: Jeder Mensch ist schon in der elementaren physischen Begegnung mit jedem Menschen vorbewusste Hebamme für die Offenbarung des anderen Ich. Jeder Mensch ist also, wenn auch zunächst nur keimhaft, für alle anderen Menschen ein Sokrates. Und ein Sokrates ist ein Mensch, der mit Kraft/Macht (krátos) sowie mit heilender Rettung und Ganzheit zusammenhängt (sôs). Es ist an der Zeit, dass jeder Mensch sich für jeden Menschen, und somit für die Welt, als Kraft und Macht der heilenden Rettung empfindet: nicht als ‹Meister›, sondern als Hebamme für das andere Ich.