Der Funk sendet Nachrichten stündlich.
Die Ansagenden wissen alles; unmöglich,
Könnte es scheinen, dass jede Stunde
Tötet, stiehlt und betrügt. Und doch
So ist es, die Stunden fressen wie Löwen
Den Vorrat an Leben. Die Wirklichkeit gleicht
Der an Ellenbogen durchgewetzten Wolljacke.
Wer die Nachrichten hört, der weiß nicht, dass
Unweit, im Garten, im regennassen,
Ein kleines graues Kätzchen herumläuft vergnügt,
Es balgt mit den harten Halmen der Gräser.
Adam Zagajewski, 1984
Stündlich durchsetzen Kriegsnachrichten unsere kostbare Lebenszeit und bestreuen keimendes Leben mit Asche und Staub. Irritiert wenden wir unsere Blicke ab. Die Hornhaut auf Augen und Ohren riegelt von der Welt ab. Eine musikalische Komposition von Kaikhosru Shapurji Sorabji lüftet und lichtet diese Seelenzustände.
Eine rund achtstündige Musik des Komponisten und Pianisten Kaikhosru Shapurji Sorabji steht im Raum, eine Variationenfolge, ein wahrhaft groß angelegtes Verwandlungswerk. Das Thema bildet die mittelalterliche Sequenz ‹Dies irae› (lat. ‹Der Tag des Zorns›, Anfang eines mittelalterlichen Hymnus über das Jüngste Gericht) aus der überlieferten Totenmesse. Über viele Jahrhunderte hin wurde dieser Gesang zelebriert und in zahlreichen Musikwerken als ‹Cantus firmus› weitergetragen und modifiziert. Hier erscheint nun dieser archaische Stoff in einer nie dagewesenen Konsequenz als unerbittliches Verwandlungsgeschehen in unsere Mitte gestellt. Wer es sich abverlangt, dieses Umwandlungsgeschehen in seine eigene Lebenszeit einzulassen und dabei ganz Ohr zu sein, erfährt in sich, was musikalisch möglich ist. Hier wird nicht redundant debattiert und überredet, sondern nonverbal das eigene Verwandlungspotenzial stimuliert und in Gang gebracht. Die Rückwirkung auf das unverdauliche Gestrüpp stündlicher Nachrichten wird in einer Weise durchlüftet und gelichtet, dass hernach eine frische Klarheit herrscht und ein Gefühl von Übersicht und Verbundenheit mit den Geschehnissen und Schicksalen. Diese Musik hat echt kathartische Kräfte. Weder betäubt sie, noch spült sie weich, sondern veranlasst unsere eigenen inneren Verwandlungskräfte, ins Geschehen mit einzusteigen und einzugreifen.
Kaikhosru Shapurji Sorabji wurde 1892 in Chingford, Essex (GB) als Einzelkind geboren. Sein Vater war Ingenieur und Geschäftsmann parsisch-indischer Herkunft, seine singende und klavierspielende Mutter Engländerin. Sie war auch seine erste Klavierlehrerin seit seinem achten Lebensjahr. In der Schule erhielt er Musikunterricht mit Harmonielehre, Klavier- sowie Orgelstunden. Als Fremdsprachen lernte er Deutsch und Italienisch. Seine Mutter nahm ihn regelmäßig mit in Konzerte. Sorabjis Entwicklung zum Komponisten, Pianisten und Musikkritiker ist eine verschlungene Spurensuche, ein Tasten nach Zugehörigkeit und Entdeckung seiner transkulturellen Veranlagung, insbesondere durch seine väterlichen Wurzeln im Parsentum, im Suchen nach Anerkennung mit heftigen Rückschlägen, im Eingestehen seiner ‹nicht englischen› Identität und dadurch harsch isolierten Sonderstellung zwischen kulturellen Fixpunkten. Einen Stern der Hoffnung bildet für ihn die faszinierende Persönlichkeit Ferruccio Busonis (1866–1924), den er auch 1919 persönlich in Berlin aufsuchte. Dessen Keimwerk ‹Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst› (erste Fassung 1906), worin steht «Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre Bestimmung […]», ist ihm Quell der Ermutigung auf seinem solitären Weg geworden. Als weitere signifikante Ermutigende stehen Cyril Scott, Maurice Ravel, Leo Orenstein und Alexander Scriabin, wie auch Charles-Valentin Alkan, Leopold Godowsky, Max Reger, Claude Debussy und Karol Szymanowski. Dennoch ist bei Sorabji von einem unverwechselbaren eigenen Idiom zu sprechen, einer klar wiedererkennbaren Musiksprache von seltsamer Faszination.
Scheues Wesen
Sorabji passte mit seiner musikalischen Sprache nicht in gängige Geschmackstrends und vermied es zusehends, überhaupt damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Seine Zeit war noch nicht empfänglich für seine Musik, die einem viel weiter gespannten musiksprachlichen Radius entsprach, als es zum Beispiel der erzkonservative britische Musikgeschmack war. Im Laufe seines langen Lebens – er lebte 96 Jahre – zog er sich zusehends konsequent aus jeder Aufführungstätigkeit zurück und widmete seine Aufmerksamkeit und Lebenskraft ganz dem Komponieren. Da er als Komponist keine Skizzen anfertigte, besteht sein Nachlass ausschließlich aus Reinschriften und befindet sich heute weitgehend in der Paul-Sacher-Stiftung in Basel, Schweiz. Sein Werkverzeichnis ist immens wie auch die zeitliche Ausdehnung vieler seiner Kompositionen. Stellvertretend mag das relativ häufig aufgeführte ‹Opus clavicembalisticum› (1929–1930) für Klavier mit seiner fünfstündigen Aufführungsdauer stehen.
Sein Opus ‹Sequentia cyclica super Dies irae ex Missa pro Defunctis›, kurz ‹Sequentia cyclica› entstand 1948 bis 1949 und stellt ein Werk mit Thema und 27 Variationen dar. Von recht unterschiedlicher Beschaffenheit bringt zum Beispiel die Variation 22 ihrerseits eine Passacaglia mit 100 Variationen, die Variation 27 umfasst eine fünfteilige Fuge (erst zweistimmig, dann drei-, vier- , fünf-, sechsstimmig) von ca. einstündiger Dauer. Die akribisch minutiöse Reinschrift der ‹Sequentia cyclica› umfasst ganze 338 Seiten. Die Gesamtaufführungsdauer dehnt sich sage und schreibe auf rund acht Zeitstunden und sprengt jeden konventionellen Aufführungs- oder Konzertrahmen. Die erste Gesamteinspielung erfolgte 2015 in Oxford (GB) durch Jonathan Powell (*1969) und erfordert sieben CDs mit jeweils gut 70 Minuten Laufzeit.
Traktiert oder aufgenommen
Meine eigenen Hörerfahrungen mit diesem voluminösen Werk umspannen entsprechend unterschiedliche Hörzyklen, quasi Portionen, die wiederum zeitlich teilweise weit auseinanderliegen. Einen Gesamteindruck zu erlangen, verlangte viel Geduld und Sorgfalt. In einer schnelllebigen Zeit mit Aufmerksamkeitsspannen von wenigen Minuten, ja manchmal wenigen Sekunden, bildet eine solche Aufführungsdauer eine kolossale Herausforderung. Dabei wollte mir erst der Sinn dieser Dimension nicht recht verständlich erscheinen. Und gerade hierin entstand zusammen mit dem Gedicht ‹Stündlich Nachrichten› von Adam Zagajewski allmählich ein Sinnzusammenhang, ein Wechselgeschehen zwischen unentwegtem Traktiertwerden durch schwerwiegende Nachrichten und einem vertrauensvollen Aufgenommenwerden in ein größeres Ganzes. Dass in der tief vertrauten gregorianischen Sequenz des ‹Dies irae› eine solche Kraft schlummert, eröffnet sich erst allmählich aus dem minuziösen Verwandlungsprozess, den Sorabji hier – über Stunden – damit vornimmt. In ein Bild übertragen entsteht eine Übergangslandschaft zwischen derzeitiger schier unfassbar kriegsgesättigter Alltagsnormalität und einem ‹Landungsbereich› in den Gefilden des Nachtodlichen bzw. Vorgeburtlichen. Ein dynamisches Miteinander-verwoben-Sein solcher Sphären wird wie aufgestemmt durch die weit dimensionierte Musik Kaikhosru Sorabjis.
Das archaische ‹Dies irae›, das jedem Gemüt wie unbewusst eingeschrieben ist, im kollektiven Unbewussten allseits greifbar, als Archetypus überall vorhanden, das wie innerlich gesummt die Hand reicht von einer zur anderen Seinsebene, führt uns in achtstündigem Gang durch das Grenzgebiet zwischen lebendiger Gegenwart und Nachtodlichkeit. In der Engführung der Gedichtzeilen ‹Stündlich Nachrichten› und dem musikalischen Übergangsgeschehen öffnen sich Erfahrungs- und Erkenntnisräume, die mögliche Dimensionen aufweisen können zwischen einer unfassbaren und daher radikal verdrängten Gegenwartslast und einem umfassend menschheitlichen Gemeinwesen zwischen Lebenden und Verstorbenen, zwischen Gegenwärtigkeiten in unterschiedlichen Seinsbereichen.
Grenzüberwindende Kunst
Wie kann ein achtstündiges Klavierstück Sinn machen, wie kann ein kurzes Gedicht Sinn machen angesichts der an die 50 zurzeit schwelenden Kriege auf dieser unserer Welt, auf dieser uns anvertrauten Erde, in dieser unserer Menschengemeinschaft? – Die Machtlosigkeit blubbernder Wortkaskaden, Ansagen, Plädoyers, Bekundungen, Kommuniqués, Schriftsätze, Beschlüsse,Verabschiedungen etc. drängt zum ‹Schrei›, frei nach Edward Munch, und zum Verstummen zugleich. – Dem Ganzmenschen mit seinem gleichermaßen denkend-fühlend-wollenden Gegenwartserfahren, Gegenwartssensorium und Gegenwartsbewusstsein wird ein Zusammenführen der scheinbaren Unvereinbarkeiten nur gelingen können mithilfe solcher grenzüberwindenden künstlerischen Mittel. Betäuben, Abstumpfen, Verdrängen, Verleugnen und Scheuklappendasein geben jeweils nur einen scheinbaren Schutz vor dem vermeintlich Unfassbaren. Ein Sich-Öffnen für größere Zusammenhänge vermag Weiterreichendes zu bewirken, und sei es einfach als utopische Option. Der tägliche Umgang sowohl mit musikalischen als auch lyrischen Bewusstseinserweiterungen zeugt von hygienischer, resilienter, ja kathartischer Wirkung und sei zur Nachahmung wärmstens empfohlen.
Bild Kaikhosru Shapurji Sorabji (1892–1988) 1945, Foto: Joan Muspratt, CC BY-SA 4.0