Die Lichtquelle des Körpers

Unsere Augen vermögen sich anzupassen an Dunkelheit. Laufen wir aus dem Sonnenlicht in eine dunkle Grotte oder einen Tunnel, dann sind wir erst desorientiert. Oder wenn wir nachts von einer hell erleuchteten Straße aus einen dunklen Wald betreten, kann uns die Finsternis vielleicht sogar beängstigen. Aber wenn wir Geduld haben, bemerken wir, dass unsere Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnen und dass wir anfangen, unsere Umgebung zu erkennen. Dies ist die beste Art, um die Angst vor der Finsternis zu überwinden: Begib dich Schritt für Schritt in einen dunklen Raum; warte, bis du vertraut bist mit der Dunkelheit – und du fängst an zu sehen.

Diese Gesetzmäßigkeit gilt nicht nur in der physischen Welt, sondern auch in der geistigen. Täglich werden wir konfrontiert mit einer Welt düsterer, abscheuerregender Ereignisse. Wir wollen sie gewöhnlich überhaupt nicht sehen. Wir wenden uns ab und versuchen, uns forciert der leichten Seite des Lebens zuzuwenden. In unserer heutigen westlichen Welt gibt es sogar eine Aversion gegen jegliche Art von Dunkelheit: Wir wenden uns ab von Kranken, Sterbenden, Hungrigen, Flüchtenden und Menschen, die das Gesetz gebrochen haben. Wir wollen die dunkle Seite des Lebens nicht sehen. Oder haben wir etwa Angst davor?

Als Christus über das Auge als Lichtquelle des Körpers sprach, erzählte er keine Parabel, sondern er meinte die tägliche Realität. Nicht die schlechte Welt macht uns schlecht. Es ist auch nicht die Finsternis außerhalb, die uns innerlich verdunkelt. Es ist die Art, wie wir die Welt sehen, die uns Dunkel oder Licht bringt.

Die Frage ist nicht: Was sehe ich? Sondern: Wie sehe ich? Sehe ich die Welt mit Angst, mit Abscheu – oder sogar mit Hass? Oder sehe ich dieselbe Welt mit Mitleid und Liebe – trotz aller Finsternis? Diese subtile Art des Schauens erhellt nicht nur uns selbst, sondern wird schließlich auch die Finsternis um uns herum erhellen.

Eine Mutter, die ihre beiden Kinder verloren hatte, schrieb nach langer Zeit von Rebellion, Trauer und Depression: Wenn ich konzentriert und liebevoll in die Finsternis schaue, dann sehe ich Licht.


Illustration Gilda Bartel

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare