Dass unsere Welt gesünder und gerechter wird, bestimmt seit 50 Jahren die Erzählung in den westlichen Kulturen. Gerade in wechselvoller Zeit hat solch ein Narrativ Gewicht, ist Teil der Identität. Und doch geschieht keine eigentliche Wende, wie der Umweltgipfel cop 29 in Baku zeigte. Ein neues Narrativ verdrängt dieses Ethos der Moderne. Das ist ein traumatischer Moment einer ganzen Generation, so der Soziologe Ingolfur Blühdorn.
Am 6. November, wenige Stunden nach Bekanntgabe des Ergebnisses der US-Wahl, trafen sich die Medienschaffenden der deutschsprachigen anthroposophischen Einrichtungen zu einer Onlinesitzung. Niemand von den 40 Teilnehmenden kam in der Konferenz auf die Wahl zu sprechen – Sprachlosigkeit bei den Sprachgewandten. Sprachlosigkeit, vermutlich weil sich der Wahlausgang rationaler Erklärung entzieht. Wenn die Werkzeuge des Verstehens nicht greifen, dann lehrt die Erfahrung, das Unbegreifliche umfassender und unbefangener in den Blick zu nehmen.
Das Narrativ der zweiten Moderne
Am Abend, im Gespräch mit Nikolai Fuchs, hörte ich vom Buch ‹Unhaltbarkeit – Auf dem Weg in eine andere Moderne› des Soziologen Ingolfur Blühdorn. Der Forscher leitet an der Wiener Universität das Institut für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit und ruft in dieser und früheren Publikationen dazu auf, sich beim Blick auf die Gesellschaft nicht vom Wunsch nach einer sozial-ökologischen Wende blenden zu lassen. Seit 1970 bestimmt dieses Narrativ das westliche Denken und Hoffen. Es sollte doch gelingen, von Ressourcenübernutzung, Umweltzerstörung und sozialer Ungerechtigkeit zu einem neuen naturverträglichen und gerechten Miteinander zu kommen. Ob in Büchern wie ‹Ende oder Wende?› von Erhard Eppler (1975) oder ‹Kurs auf den Eisberg› von Joseph Weizenbaum (1984) oder in Liedzeilen wie ‹Alles im Griff auf dem sinkenden Schiff›, gesungen von Udo Jürgens (1980): Seit 50 Jahren sehen wir immer die gleiche Dramaturgie: Dramatisieren – Appellieren – Modellieren. Man malt ein Bild der Endzeit, ruft zur Umkehr auf und empfiehlt Lösungen. Es ist das paulinische ‹Ändert euren Sinn› der Moderne, dem – so die bestürzende Beobachtung – die Luft ausgeht. Dieses ‹Es sollte› und ‹Es müsste jetzt endlich›, dieser Ruf nach der Unhaltbarkeit unseres verschwenderischen Lebens, ist gemäß Ingolfur Blühdorn selbst unhaltbar geworden. Das Narrativ der sozial-ökologischen Transformation sei anachronistisch geworden. Tatsächlich: Die jüngsten EU-Agrarbeschlüsse buchstabieren Ökostandards zurück, die Weltnaturkonferenz von Cali, Kolumbien, endet ohne Ergebnis und selbst die deutsche Regierung mit Beteiligung der Grünen brachte kaum Fortschritte. Im Gegenteil, der österreichische Ministerpräsident Karl Nehammer beruhigt, dass es für die «Untergangsapokalypse» keine Beweise gäbe und man mit der Erwärmung von 1,5 Grad eben auskommen müsse (Rede ‹Die Zukunft der Nation›, 10. März 2023).
Abschied vom Abschied
Ein Widerspruch, der sprachlos macht: Der ‹Global Risks Report› des World Economic Forum (WEF) nennt die drei menschheitlichen Krisen, denen alle Aufmerksamkeit gelten solle: Temperaturerhöhung, Dürre und Verlust der Artenvielfalt, und zugleich werden jene, die sich hier engagieren, als ‹aus der Zeit gefallen› stigmatisiert. Vor zwei Jahren rief der UN-Generalsekretär António Guterres: «Die Menschheit hat die Wahl: Zusammenarbeiten oder Untergehen. Entweder ein Pakt der Klimasolidarität oder ein Pakt des kollektiven Selbstmords.» Solche Brandreden zünden kaum noch. Wieso? Man müsse aus dem Dualismus von Einsicht versus Untergang ausbrechen, um zu verstehen, wie sich gegenwärtig das gesellschaftliche Narrativ verändert, so Blühdorn. «In spätmodernen Gesellschaften breitet sich ein Gefühl der politischen Macht- und Einflusslosigkeit aus.»
Wer mit dem Traum einer sozial-ökologischen Transformation groß geworden ist, erlebt deshalb jetzt traumatische Zustände. Die Geschwindigkeit, mit der Ökologie von einem Must-have zu einem bestenfalls Nice-to-have vom Podest gestoßen wurde, ist schwer auszuhalten – ist unhaltbar. Was sich durch die Wahl in den USA ankündigt, gibt Blühdorn recht. Natürlich mag man Richard David Precht lieber folgen, wenn er in seinem jüngsten Buch ‹Das Jahrhundert der Toleranz› ermutigt, das Verbindende der Kulturen zu suchen, vom westlichen Hochmut zu einem Dialog auf Augenhöhe zu wechseln und sich so den globalen Fragen aus einem Miteinander zu widmen. Dem widerspricht Blühdorn im Schulterschluss mit einer Reihe von Forschenden, die eine Verschiebung der Umweltdebatte von einem Verhindern zu einem Sich-Arrangieren beobachten.
Drei Unhaltbarkeiten
Die französische Philosophin Corine Pelluchon schreibt in ihrem Buch ‹Die Durchquerung des Umöglichen›, dass es fünf nach zwölf sei. Sie sieht darin den aufrüttelnden Motivationsschub für die Transformation. Anders Blühdorn: Der Unhaltbarkeit des heutigen Konsums und der Umweltzerstörung stehe eine Unhaltbarkeit der sozial-ökologischen Transformation gegenüber. Der Traum einer gesünderen, gerechteren Welt scheitere an seiner Zumutung und werde «emanzipatorisch überschritten». Wir wollten den freien Menschen, und jetzt ist er da und befreit sich von ökologischer Zumutung. Die Pandemie war hier ein Brandbeschleuniger, sich der Einschränkung zu widersetzen. Der tausendfach prophezeite Untergang der Welt ist der Untergang ‹unserer› Welt mit ihren Sinnerzählungen. Weil der Untergang der Menschheit nicht akut ist, so Blühdorn, zwinge er westliche Gesellschaften auf den Weg in eine andere Moderne. Ökologie und Emanzipation ziehen nicht mehr an einem Seil, sondern stehen sich gegenüber. Blühdorn: «Der Westen hatte sich den Untergang seines eigenen Projekts (die sozial-ökologische Transformation) so schwer vorstellen können, dass er ihn vielmehr mit dem Untergang der Menschheit gleichgesetzt hat.» Im Schatten der Mobilisierungsnarrative vom Untergang der Menschheit hat sich eine neue Moderne entwickelt. Dies unbefangen anzuerkennen, sei die dritte Unhaltbarkeit. «Die Klimakrise, die Pandemie, der Krieg in der Ukraine oder der Konflikt in Nahost überfordern, überfordern selbst die intellektuellen Eliten. Die Jahrzehnte währende Anstrengung, ein klares Verständnis und Urteil zu gewinnen, sich zu engagieren und Verantwortung zu übernehmen, mündet in Überforderung, Ernüchterung und Erschöpfung. Die Folge: Rückzug ins Private, Eintausch der politischen Freiheit mit autokratischen Führungen, um sich so, befreit von unhaltbarer Komplexität, emanzipiert den eigenen Problemen widmen zu können.
Was gut ist
So wie sich die postindustrielle Gesellschaft von Normen und Rollen befreit hat, zugunsten von Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung, befreit sich das neue, dritte postmoderne Narrativ vom Primat des Allgemeinwohls zugunsten von Spontaneität und pluralen Formen der Vernunft. Isolde Charim unterstreicht in ihrem Aufsatz mit dem denkwürdigen Titel ‹Gut ist das, was für mich gut ist: Warum heute alle gegen alle kämpfen› (NZZ Folio 11/2024) dieses Szenario, wenn sie schreibt, dass sich Moral nicht mehr am allgemein Guten orientiert, nicht mehr universell abgeleitet wird, sondern persönlich: Weil die Maske in der Corona-Zeit als unangenehm empfunden wird, ist sie falsch. Weil eine Impfung mich sicher fühlen lässt, ist sie ‹gut›. Galt das bisherige Narrativ einem Leben ‹aus› der Krise, erzählt das neue von einem Leben ‹in› und ‹mit› der Krise. Ist das ehrlicher? Im neuen Narrativ: Niemand ‹soll› die Welt retten – aber jeder ist eingeladen, sich selbst zu retten. Vielleicht geschieht es dann, dass wir jenseits von allem ‹Müssen› und ‹Sollen› damit beginnen, die Welt zu retten.