China ist kein Feind

Während sich die amerikanischen Kandidaten gegenseitig zerlegen, versammeln sich die BRICS-Staaten in Russland. Die Grenze zwischen Ost und West brennt und es wächst die Gefahr eines Flächenbrands. Wie kann man die Feindbilder überwinden?


In den Vereinigten Staaten tobt der Präsidentschaftswahlkampf. Jede Seite sieht sich als die Seite des Guten gegenüber der Seite des Bösen. Eine radikale Polarisierung, ein hemmungsloser Wettbewerb, ein Ring, in dem jeder Schlag erlaubt ist. Wenn es etwas gibt, das unsere Zeit prägt – und besonders in den USA – dann ist es diese Atmosphäre gnadenlosen Wettbewerbs. Und paradoxerweise muss doch jeder Kandidat beweisen, dass er ein gutes Herz hat und sich um die Schwächsten und Minderheiten kümmert. Eine krasse kognitive Dissonanz!

Wettbewerb als globale Atmosphäre

Abgesehen von ihrem eigenen Wettbewerb scheinen sich Kandidat und Kandidatin in einem Punkt einig zu sein: Der internationale Konkurrent ist China! «Wir haben China auf allen Ebenen geschlagen»1 sagte Donald Trump. Kamala Harris ist ebenfalls explizit: «Die USA, und nicht China, werden das Rennen um das 21. Jahrhundert gewinnen.»2 Das Bedürfnis nach einer amerikanischen Führung in der Welt ist tief in den westlichen Seelen verwurzelt. Nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. Die USA stemmen sich gegen den fortschreitenden Verlust ihrer Vormachtstellung. Im Jahr 2022 war tatsächlich das BIP Chinas bereits 25 Prozent höher als das der USA , circa 30 Prozent des BIP pro Kopf der USA, aber mit einer 4,2-mal größeren Bevölkerung.3 Dieses Bedürfnis nach amerikanischer Führung als Motor der westlichen Führung wird durch Werte gestützt: Freiheit und Demokratie. Aber es sind nicht nur abstrakte Werte, die diese Position begründen. Wer unter der Oberfläche gräbt, entdeckt schnell eine tief verwurzelte Furcht: Ohne die amerikanische Ordnungsmacht wären unsere Freiheit und unsere Demokratien von Diktatoren bedroht. Angst ist ein starker Motor. Sie kann Extremismus rechtfertigen – selbst auf subtile Weise –, um die Kontrolle zu behalten. Ist diese Angst gerechtfertigt? Das ist im Grunde genommen eine spirituelle Frage: Inwieweit können wir dem anderen und der Zukunft vertrauen?

Es scheint fast unmöglich, aus dieser Atmosphäre von Wettbewerb auszubrechen. Der UN-Sonderbericht­erstatter für Menschenrechte und extreme Armut, Olivier De Schutter, legte diese Woche einen Bericht mit dem Titel ‹Die Wirtschaft des Burn-out› vor, in dem er unsere «wachstumsbesessenen Gesellschaften» sowie das «Klima des Wettbewerbs und des Leistungswettlaufs» anprangert, die zu Angstzuständen, Depressionen und Burn-out führen. Selbst China, das auf einer kommunistischen Tradition aufbaut, musste sich in eine wettbewerbsorientierte Wirtschaft begeben – eine Atmosphäre, die heute in der chinesischen Gesellschaft deutlich spürbar ist. Niemand scheint sich dieser Hektik entziehen zu können.

Beruhigende Stimmen?

Es gibt durchaus Persönlichkeiten, die versuchen, eine andere Perspektive in die internationalen Beziehungen zu bringen, wie zum Beispiel der einflussreiche Ökonom Jeffrey Sachs, der schreibt: «Die Amerikaner wollen oder brauchen in keiner Weise Hegemonie für ihre Absicherung, Sicherheit oder ihr Wohlbefinden. China ist kein Feind.»4 Ist es überhaupt noch gerechtfertigt, weiterhin Feinde zu haben? Ist das nicht völlig überholt?

Diese Woche fand das 16. Treffen der BRICS-Staaten in Kasan, Russland, statt. Die BRICS-Staaten bilden eine internationale Plattform für Kooperation um die vier großen Mächte des Südens und des Ostens, China, Brasilien, Indien und Russland. Die BRICS-Staaten stellen 45 Prozent der Weltbevölkerung. Ihr Anteil am weltweiten BIP übersteigt seit 2023 den der G7-Staaten, der Gruppe der westlichen Mächte.5 Die Vision der BRICS ist Multipolarität. Eine Perspektive, die der Anspruch einer westlichen Vorherrschaft entgegensteht. Der Westen wirft den BRICS-Ländern vor, eine Allianz autoritärer Regime zu sein. Im Gegenzug prangern die BRICS-Staaten diese Haltung als anhaltenden Kolonialismus an. Wir befinden uns wieder einmal in einem Teufelskreis aus Konkurrenz und Wettbewerb zwischen zwei Polen. Der bekannte französische Demograf Emmanuel Todd betonte kürzlich in der Berliner Zeitung6 die Heterogenität der BRICS-Staaten, die seiner Meinung nach besser zur europäischen Vielfalt passen würde. Er wagte den Vorschlag, dass Deutschland den BRICS beitreten sollte, da es dort mehr Vorteile hätte. Ein Ausbruch aus den üblichen Schemata!

Aus dem Teufelskreis ausbrechen

Ist es nicht an der Zeit, aus der Mentalität der Konfrontation, des Wettbewerbs, sei es wirtschaftlich, militärisch, technisch oder ideologisch, auszubrechen? In einem Artikel vom 24. Juli7, beschreibt Sachs die heutige Situation: «Wir sind bei echter Multipolarität angekommen. Zum ersten Mal seit dem 19. Jahrhundert hat Asien den Westen in der Wirtschaftsleistung überholt. […] Die USA und ihre Verbündeten können nicht unilateral ihren Willen in der Ukraine, dem Nahen Osten oder der indopazifischen Region durchsetzen. Die USA müssen lernen, mit den anderen Mächten zu kooperieren.» Dann zitierte er John F. Kennedy: «Lass uns also nicht blind für unsere Unterschiede sein, sondern lass uns auch direkt auf unsere gemeinsamen Interessen und die Mittel, mit denen diese Unterschiede gelöst werden können, achten. Und wenn wir unsere Differenzen jetzt nicht beenden können, können wir zumindest helfen, die Welt für die Vielfalt sicherzumachen. Letztendlich ist unsere grundlegendste gemeinsame Verbindung, dass wir alle diesen kleinen Planeten bewohnen. Wir alle atmen die gleiche Luft. Wir alle schätzen die Zukunft unserer Kinder.»8

Ja, lass uns nicht ‹blind› für unsere Unterschiede sein. Und lass uns noch einen weiteren Schritt machen: Lass uns an unseren Unterschieden neugierig werden! Lass uns für unsere Unterschiede ‹sehend› werden. Um die Blindheit zu überwinden, ist innere Aktivität nötig. Die vernetzte Welt gibt uns oft die Illusion, alles zu wissen, aber das ist eine gefährliche Illusion. China scheint dies verstanden zu haben: Es hat bis Ende 2025 die Visapflicht für fünfzehn Länder, darunter zwölf europäische Länder, für Aufenthalte von zwei Wochen aufgehoben und bietet damit die Gelegenheit, sich vor Ort ein Bild zu machen. Und in der Tat, Europäer, die heute China besuchen, werden sicherlich staunen und viele Vorurteile infrage stellen.


Bild Feilaifeng-Felsskulpturen aus den 10. Jahrhundert, vor dem ‹Lingyin-Tempel› oder ‹Kloster der wunderwirkenden Weltferne›, Hangzhou, Provinz Zhejiang, China. Foto: Louis Defèche

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Footnotes

  1. Claudia Stahel, Trump oder Harris: Wer ist besser für China?, srf News, 12. Oktober 2024.
  2. Ebd.
  3. Jeffrey Sachs, The Emerging Multipolar World.
  4. Jeffrey Sachs, Will the Death of U.S. Hegemony Lead to Peace – Or World War III?, 15. Mai 2023.
  5. BRICS: Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Finance For All, 12. September 2024.
  6. Raphael Schmeller, Emmanuel Todd: «Deutschland sollte sich um eine Brics-Mitgliedschaft bewerben», 22. Oktober 2024.
  7. Jeffrey Sachs, 10 Prinzipien für Frieden im 21. Jahrhundert. 24. Juli 2024.
  8. John F. Kennedy, Commencement Address at American University. John F. Kennedy Presidential Library and Museum, 10. Juni 1963.

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