Eine neue Sensibilität ausbilden

Wie Digitalität die Kunsttherapie bereichert

Ein Gespräch mit fünf Kunsttherapeutinnen.


Wolfgang Held Ihr arbeitet als Kunsttherapeutinnen und unter Corona-Bedingungen musstet auch ihr eure Therapien in ein Online-Format bringen. Welche Erfahrungen habt ihr damit gemacht?

Franziska Schmidt von Nell Für mich war dabei die markanteste Erfahrung, dass die Online-Begegnung schneller eine engere Verbindung schaffen kann. Man erreicht schneller eine tiefere Ebene. Deswegen haben wir uns zusammen gefragt, wie es dazu kommt und was wir tun müssen, damit das passiert. Denn selbstverständlich ist es nicht so, dass man eine Zoomkonferenz eröffnet und sofort sind alle Menschen ganz verbunden miteinander. Also: Was muss ich als Therapeutin mitbringen, was muss ich leisten, welche Fragen muss ich stellen und welche darf ich auf keinen Fall stellen? In unserem Arbeitskreis haben wir bemerkt, dass in diesem Medium vielmehr eine seelisch-geistige Verbindung gefordert und vielleicht auch gefördert wird.

Simone Gaiss Für mich war das Zentralste die Freiwilligkeit bei den Menschen als Voraussetzung für einen solchen Prozess. Und dann war mir sehr wichtig, Material anders an die Hand zu geben und in kleineren Schritten unter Umständen auch aufzubereiten. Wenn der Wille vorliegt, dann ist die Präsenz bei den Menschen eher höher. Um das online zu machen, ist das Anliegen für die Menschen häufig schon im Vorfeld viel geklärter, als wenn sie in die Therapie kommen.

Franziska Schmidt von Nell Selbständige Sprachgestalterin und Sprachgestaltungs-Therapeutin. MAS Cranio Facal Kinetik Science und Leiterin dieser Weiterbildung an der Universität Basel. Web: Triviumartes

Silke Speckenmeyer Wenn ich online mit den Leuten im Plastizieren arbeite, dann habe ich den Eindruck, dass sie viel stärker bei sich bleiben. Das hätte ich überhaupt nicht gedacht vorher. Aber es ist spürbar, dass, auch wenn da jemand den Prozess begleitet, die Ichkraft deutlicher herauskommt. Natürlich ist für mich der Präsenzunterricht schöner, aber bei den Klientinnen und Klienten sehe ich bis heute, dass sie in ihrer eigenen Aura bleiben können. Und umso wichtiger ist dann von meiner Seite, dass ich sehr sanft spreche, weil es nur dann landen wird.

Den Blick auf die Möglichkeiten richten

Laura Piffaretti In der Musik habe ich mich lange schwergetan, weil ich natürlich an dem Ideal des Hörerlebnisses, des Klangraums hing. Das Ausprobieren des Online-Unterrichts hat mir ermöglicht, festzustellen, dass doch etwas durchkommt, dass aber andere Qualitäten wahrgenommen werden, auch von den Instrumenten, als es im Präsenzunterricht geschieht. Für mich ist es dadurch weniger eine moralische als eine phänomenologische Frage geworden: Was geschieht im einen, was im anderen Fall? Zum Beispiel gibt es Instrumente, bei denen die Obertöne viel mehr herauskommen oder eine Bedeutung haben. Im realen Raum ist da ein Grundton, der hält, und die Obertöne breiten sich im Raum aus. Online bleibt der Grundton bei mir, aber die Obertöne gehen zum anderen. Dann muss ich schauen, wo dabei der Grundton bleibt. Diese Umstellung in Bezug auf die eigenen Ideale ist gar nicht so leicht, denn wir schätzen das Vorhandene sehr. Aber es geht vielleicht darum, mehr zu bemerken, was dadurch gelingt als was dadurch nicht gelingt. Und man muss auch immer bemerken, wenn etwas durch dieses digitale Medium eben nicht funktioniert, und dann auf etwas kommen, das möglich ist.

Esther Böttcher Für mich war es sehr beeindruckend, wahrzunehmen, wie viel ich wahrnehme. Zuerst einmal, dass es überhaupt möglich ist, mit dem anderen durch das Geistig-Seelische verbunden zu sein und den Bildschirm nur als Spiegelungsfläche zu sehen. Die Mittel werden natürlich nicht in ihrer Gänze zur Geltung kommen, aber sie sind reduziert dennoch wirksam. Zum Beispiel arbeiten wir nicht an einem ganzen Gedicht, aber an einer Zeile, einem Laut, einer Silbe. Diese Reduktion kann plötzlich eine sehr große Wirkung entfalten. Ein weiteres Erlebnis: Wenn ich in ein Mikrofon hineinspreche, dann bekommt der andere ein Geschenk von mir. Denn gerade wenn man in einer Gruppe arbeitet, werden die Mikros der anderen auf stumm geschaltet und sie sind dann, wenn ich spreche, ganz sich selbst überlassen. Akustisch kann ich nichts mitbekommen, es bleibt im privaten Feld. Und ich kann als Therapeutin nichts korrigieren, weil ich nichts höre. Ich muss mich ganz in einen Raum des Vertrauens hineinbegeben und mich dafür sensibilisieren. Dass das möglich ist, hat mich persönlich auch in meiner Spiritualität bestärkt. Die Rückmeldungen sind positiv und haben mir gezeigt: Man kann entweder platt in eine Kamera hineinsprechen, dann ist es einfach ein Online-Meeting, oder man kann sich mit dem hinteren Raum verbinden und dann ist es ein Erlebnis.

Laura Piffaretti Diplomierte Kunsttherapeutin (ED), Fachrichtung Musiktherapie, Dozentin und Hauptkoordinatorin der International Coordination of Anthroposophic Arts Therapies (ICAAT) in der Medizinischen Sektion, Dornach. Web: Musiktherapie Mut 

Speckenmeyer Was ich daran jetzt sehr wichtig zu bemerken finde, was wir alle gesagt haben, ist, dass die Mutkräfte der Therapeutin, des Therapeuten in dieser Situation ganz besonders gefragt sind. Denn es braucht sehr viel Mut, so viel Vertrauen zu haben und etwas zu geben und zuzulassen, sodass der andere ganz bei sich bleibt mit seinen eigenen, intimen Empfindungen. Daraus kommt man dann wieder zusammen und das heißt immer, das Herz ein Stück weit zu verschenken. Diese Mutkräfte muss man dann auch spüren und zulassen können, denn natürlich könnte es auch schiefgehen, aber es geht ganz oft gar nicht schief!

Von der Nachahmung zur Eigenaktivität

Held Was ist euch nicht so gelungen oder woran seid ihr noch aufgewacht?

Schmidt von Nell In der Sprachgestaltung arbeiten wir ganz viel mit Haltung, Gestik, Bewegung usw. Dass ich das nicht vorzeigen und dass der andere nicht in die Nachahmung einsteigen konnte, war für mich erst mal eine Hürde. Denn allein wie ich stehe, verändert meinen ganzen Sprechapparat. Wenn nun aber jemand am ‹anderen Ende› krumm dasitzt, dann wird das nichts. In meiner Praxis korrigiere ich meine Haltung an mir selbst und in der Regel folgt das Gegenüber mir darin nach. Das ist alles durch die Begrenzungen des Bildschirms unmöglich. Anfangs habe ich versucht, diese zwei Drittel, die sonst meine Therapiestunde ausmachen, zu kompensieren, und ich habe den Leuten erklärt, wie sie ihre Hände etc. genau halten sollen. Ich habe aber schnell gemerkt, dass das nicht angemessen ist. Und dann habe ich angefangen, Bilder zu schaffen, in die mein Gegenüber selbständig einsteigen und bei denen ich davon ausgehen kann, dass sie eine gewisse Spannung oder Haltung in ihm erzeugen können. Dadurch fing ich an, anders zu denken. Das, was zuvor durch Nachahmung in Präsenz weitergegeben werden konnte, muss ich übertragen in den Seelenraum, und dorthin kann ich den anderen einladen. Daraus ergibt sich dann physisch, was ich brauche, um zu arbeiten.

Esther Böttcher Anthroposophische therapeutische Sprachgestalterin, Koordinatorin anthroposophisch-therapeutische Sprachgestaltung für ICAAT in der medizinischen Sektion.

Held Kann man das nicht allgemein für die Erwachsenenpädagogik voraussetzen und Nachahmung eher im zweiten Jahrsiebt belassen?

Schmidt von Nell In kommunikativen Situationen sind wir dank der Spiegelneuronen immer ein bisschen im zweiten Jahrsiebt … Aber ja, ich würde da anknüpfen an mein erstes Votum: dass die Online-Begegnung die gleichberechtigte Beziehung massiv verstärkt.

Piffaretti Die Selbstverantwortung fördern wir dabei noch mehr. Unsere Herausforderung ist, für den jeweiligen Patienten, die jeweilige Patientin das innere Bild zu finden, das resoniert, sodass die notwendige Haltung von ihm oder ihr von innen heraus aufgebaut werden kann. Da kommt für mich auch der schon erwähnte Hörraum noch mal ins Spiel: Aus meinem inneren Hörraum lausche ich in den anderen hinein und suche sein eigenes Bild auf, das ich ihm dann spiegele und an dem er sich dann aufrichten kann. Das, was wir sonst einfach tun, unmittelbar miteinander tun, wird so auf eine höhere Ebene gehoben, und ich glaube, dass das völlig an der Zeit ist.

Bild: Ton zur Bearbeitung; Foto: Adrien Jutard

Speckenmeyer Für das plastische Gestalten muss ich noch unbedingt etwas anfügen. Denn dabei arbeiten wir mit Materialien. Und nun müssen sich die Leute, die online zu mir kommen, selbst zehn Kilo Ton anschaffen und sich zu Hause eine Fläche dafür einrichten. Und woran ich aufwachte, war, als ich versuchte, in der Vorbereitung dafür den Ort in der Wohnung zu finden, und ich merkte, am Schreibtisch, am Küchentisch, das taugt alles gar nicht. Was wir brauchen, ist eine wirkliche Fläche im Raum – also eine 1,5 mal 1,5 Meter große Plane am Boden, die sich die Menschen in ihren eigenen vier Wänden herrichten. Und plötzlich entsteht in den eigenen Räumen eine Installation, und der Mensch, der da mit mir arbeitet, ist wirklich der ganze Mensch im Plastischen drinnen, wie ich es im Atelier gern immer haben möchte. Und es macht sehr viel mit den Menschen, sich so praktisch mit dem Raum zu verbinden und sich in ihrem Leben tatsächlich einen Raum zu schaffen, in dem sie auf sich achten, für sich sorgen.

Böttcher Natürlich, wenn man zu Hause seine Therapie machen muss, kann das auch Nachteile haben, denn da gibt es keine Exklusivität, man ist im alltäglichen Raum. Und da sind vielleicht viele andere Einflüsse oder Kinder oder der Partner, die Partnerin, über die man eigentlich in der Sitzung sprechen wollte. Andererseits ist die Übertragung in den Alltag einfacher. Und zum Material möchte ich hinzufügen: Man muss dem Material oder dem Mittel absolut vertrauen. Egal, was ich habe, es wirkt. Ich kann die Anwendung nicht kontrollieren, da muss ich vertrauen. Aber der Laut wirkt. Und eine wirkliche Herausforderung ist, wie die Stunde endet. Denn mit einem Klick die Sitzung zu beenden und den anderen loszulassen, ist viel radikaler, als in Präsenz sich zu verabschieden. Das ist auf jeden Fall auch ein Schmerzmoment.

Schmidt von Nell Dazu möchte ich gern sagen, dass ich online lernen musste, die Zeitgestalt neu zu ergreifen. In einer Therapiestunde in meiner Praxis denke ich am Anfang nicht an das Ende – online muss ich das jetzt einbeziehen.

Silke Speckenmeyer Kunsttherapeutin für therapeutisches Plastizieren und Malen, Bildhauerin, Waldorfpädagogin, Dozentin für Kunsttherapie, im Team der Öffentlichkeitsarbeit für ICAAT.

Piffaretti Gleichzeitig aber, wenn ich in den hinteren Raum, in das Seelisch-Geistige hineinspüre, bleibt meine Verbindung mit zum Beispiel den Studierenden jetzt viel stärker. Dieser Ätherraum ist immer da, aber durch die Online-Herausforderung zu gehen, hat meine Arbeit durch diesen Raum verstärkt. Mein Wille hat sich gestärkt und ich habe jetzt das Gefühl, die Sprache dieses Raumes langsam gelernt zu haben.

Held Was sind die Herausforderungen für die nächste Zeit, woran übt ihr demnächst?

Piffaretti Wir haben uns vorgestellt, dass wir auch anderen Therapeutinnen und Therapeuten, die online arbeiten und sich dafür schulen wollen, beratend zur Verfügung stehen können.

Dr. phil. Simone Gaiss Kunsttherapeutin, Kunstpädagogin, Kinderkrankenschwester, Leiterin des Ateliers ‹Kunst trifft Leben› in München, Dozentin in Hochschulen und für Erwachsenenbildung (u. a. Alanus- Hochschule, Ludwig-Maximilian-Universität München)

Speckenmeyer Mich interessiert auch noch, herauszufinden, wie man dann als Therapeutin oder Therapeut für sich selbst sorgen muss, wenn man morgens in einem therapeutischen Projekt war, danach im Atelier gearbeitet und abends noch eine Stunde Online-Therapie gemacht hat. Da frage ich, bei aller Beweglichkeit, nach der Psychohygiene. Und das möchte ich mit meinen Kolleginnen hier besprechen. Dadurch wird es auch ganz kollegial und nahbar, wenn man sich auch in seiner eigenen Verletzlichkeit zeigen und rückfragen kann.

Gaiss Für mich ist in allem, was jetzt gesagt wurde, der Werkstattgedanke sehr stark. Und zwar so, dass die Werkstatt, die wir in den bildenden Künsten im Raum haben, nach innen genommen wird, in eine innere Werkstatt der Bilder, der Gedanken, der Gefühle, der Ordnung. Das ist etwas, was sowohl für die Patientinnen und Patienten als auch für uns selbst aus therapierender Perspektive gilt und was uns miteinander verbindet. Daraus können wir individuell wachsen und uns auch verbinden. Dafür ist es schlussendlich nicht mehr wichtig, ob das in Präsenz oder online stattfindet – es passiert und es passiert individuell und für die Gesellschaft.

Böttcher Man muss diesen Bewusstseinsschritt nach innen machen, darin liegt der Werkstattcharakter. In die innere Achtsamkeit zu gehen, ist kein kleiner Schritt, selbst wenn es nach außen so wirkt. Das ist ein Schritt, an dem ich noch viel lernen kann.


Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe für Online-Therapie innerhalb der Internationalen Koordination Anthroposophischer Kunsttherapie (ICAAT) in der Medizinischen Sektion des Goetheanums sind als Leitfaden zugänglich unter: ICAAT-Projekte

Die diesjährige Online-Tagung ‹Kunst & Medizin – Tria Principia – sprechen wir die gleiche Sprache?› hat soeben begonnen. In drei Veranstaltungen kommen am 26. März, 13. August und 5. November interessierte Therapeutinnen, Studierende und Ärzte im Gespräch zusammen.

Zugang zu allen Veranstaltungen erhalten Sie jederzeit unter: ICAAT

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