Zeit für eine neue Universität

In Australien erarbeitete eine Gruppe von Menschen ein Machbarkeitsdokument für ein neues Hochschulmodell. Es sieht Universitäten als Anwendungsraum für Dreigliederung vor. Wenn auch in Down Under entwickelt, lässt es sich dennoch auf andere Länder anwenden.


So manche Waldorflehrende haben den Mangel an anthroposophisch inspirierten Hochschulen beklagt, an die ihre Schüler nach Abschluss der Schule gehen können. So manche Waldorfschülerinnen haben einen ähnlichen Wunsch verspürt. Die Schüler der ersten Waldorfschule in Stuttgart waren sogar so weit motiviert, dass sie einen formellen Antrag stellten, eine solche Hochschule für sie zu gründen. Steiner erzählte: «[Die Interpellation] war von allen Schülern der 12. Klasse unterschrieben […]. ‹Denn wir möchten in eine Hochschule kommen, wo wir ebenso naturgemäß erzogen werden wie jetzt in der Waldorfschule.›»1 Warum gibt es hundert Jahre nach der Unterzeichnung dieser Petition nicht eine weltweite Bewegung für eine Steiner-Hochschulausbildung, die ein breites Spektrum von Fachbereichen umfasst, um der wachsenden Waldorfschulbewegung zu entsprechen – für alle jungen Menschen, die eine ‹naturgemäße› Form der Hochschulausbildung suchen? Die Zeit ist reif, eine Hochschule ins Leben zu rufen, die Träger für die größten Bestrebungen des menschlichen Geistes ist. «Alle Erkenntnis, auch die rein wissenschaftliche, muss in das rein Künstlerische gehen.» – Rudolf Steiner.2

Bildungsfreiheit ist nötig

Grundlegend für Steiners Ansichten über die soziale Dreigliederung ist, dass kulturell-geistige Aktivitäten wie die Bildung völlig autonom sein sollten. Leichter gesagt als getan. Steiner selbst kämpfte bei der Gründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart mit staatlichen Auflagen. In den meisten Ländern – darunter auch Australien – ist es unmöglich: Die Regierung stellt die Bauzuschüsse zur Verfügung und kontrolliert die Lehrpläne der Schulen. Die staatliche Kontrolle des Bildungswesens ist so allgegenwärtig, dass es überraschen mag, wenn man erfährt, dass es auch Orte gibt, an denen Bildungseinrichtungen in Freiheit arbeiten. Als ich zum Beispiel 2003 in einer Waldorfschule in der Schweiz arbeitete, erhielt die Schule kein Geld von der Regierung. Sie hatte keinen Einfluss auf den Lehrplan. Die Schülerinnen und Schüler absolvierten zwölf Jahre lang den Waldorflehrplan und wechselten dann für etwa ein Jahr auf eine staatliche Schule über, um sich auf die Universität vorzubereiten. Diese Freiheit muss auch für eine Universität gelten.

In der innerhalb des australischen Kontextes vorgeschlagenen alternativen Hochschule wird es eine Reihe von Fachbereichen geben, in denen die Studierenden nach wie vor einen Abschluss von einer staatlich regulierten Universität benötigen, um ins Berufsleben einzusteigen. Eine zusätzliche Zeit wird jedoch verbracht mit der Vertiefung durch phänomenologische Methoden. Es wird eine Form des Abschlusses angeboten, die sich auf das Anerkennen des ganzen Menschen bezieht.

Praxis der Dreigliederung

Die Grundstruktur der vorgeschlagenen Universität besteht aus keinem ausgeklügelten Plan. Sie ist Ausdruck der urbildlichen dreigliedrigen Gesellschaftsform. Eine Universität hat die Aufgabe, ein Leuchtturm für die Zukunft zu sein; nicht nur als Forschungs- und Lehreinrichtung, sondern durch die Art und Weise, wie sie organisiert und betrieben wird. Diese neue Universität wird die praktische Umsetzung der sozialen Dreigliederung sein: Sie wird über einen eigenständigen und autonomen Wirtschaftsbereich verfügen, der mit dem Ideal der Solidarität arbeitet. Sie wird über einen autonomen Rechtsbereich verfügen, der mit dem Ideal der Gleichheit arbeitet; und sie wird einen autonomen kulturellen Bereich haben, ‹das Kollegium› genannt, der vom Ideal der Freiheit inspiriert ist. Entscheidend ist, wie diese dreigliedrige Struktur jetzt und in Zukunft produktiv und tragfähig gemacht wird, ungeachtet der Hindernisse, auf die sie stoßen mag.

Die dreigegliederte Leitungsstruktur der vorgeschlagenen Universität

Dreigliederung vollziehen

Das Kollegium wird den sogenannten ‹Campus ohne Rechtspersönlichkeit› bilden. Das heißt, Dozenten und Tutorinnen sind keine juristischen Personen. In Australien kontrolliert die Regierung die Hochschulbildung und regelt das Studienangebot und sogar das Recht, das Wort ‹Hochschule› zu verwenden, weil eine Hochschule eine Art verfassungsmäßige Körperschaft ist, ein gewinnorientiertes Unternehmen. Die Beziehung der Mitglieder des Lehrkörpers hat die Form einer Vereinbarung, die sie gemeinsam ausarbeiten und die rechtlich durchsetzbar ist. Das Kollegium setzt sich aus freien Einzelpersonen zusammen, die für ihre Arbeit keine Vergütung erhalten. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass eine kulturell-geistige Tätigkeit wie das Unterrichten keine wirtschaftliche Dienstleistung darstellt. Die Lehrkräfte erhalten Geld in Form von Schenkungen aus dem Bereich mit eigener Rechtspersönlichkeit, von Studierenden und aus anderen nicht staatlichen Quellen.

In dem von uns entwickelten Modell wird der Campus mit eigener Rechtspersönlichkeit aus einem biologisch-dynamischen Bauernhof bestehen, mit dem gewerbliche Ateliers, eine Bäckerei oder andere Unternehmen verbunden werden können, je nach den Bedürfnissen des Standorts und der Menschen, die sich für die Initiative interessieren. Bei der Gründung des Campus wird jedes dieser Unternehmen eingeladen, Teil des Campus zu werden, und zwar auf der Grundlage, dass ein bestimmter Prozentsatz des erwirtschafteten Kaufkapitals über den Rechtsbereich, den eine gemeinnützige Stiftung verwaltet, an den Campus ohne eigene Rechtspersönlichkeit weitergegeben wird.

Die Lehrgebäude werden sich auf demselben Gelände wie der Bauernhof befinden, zusammen mit Unterkünften für Studierende und Lehrkräfte und anderen Einrichtungen. Der Bauernhof wird auch deshalb wichtig sein, weil die Landwirtschaft einer der Fachbereiche sein wird. Alle Studierenden haben die Möglichkeit, als Teil ihres Beitrags zu den Ausbildungskosten auf dem Bauernhof zu arbeiten. Allerdings muss nicht der gesamte Campus auf dem Land liegen. Es gibt keinen Grund, warum einige Fachbereiche nicht in einer städtischen Umgebung angesiedelt werden könnten.

Wie beim Campus ohne eigene Rechtspersönlichkeit wird eine rechtliche Vereinbarung den verbindlichen Faktor bilden – es wird keine übergeordnete Unternehmensstruktur geben. Der Campus mit eigener Rechtspersönlichkeit könnte aus zahlreichen Unternehmen bestehen, die auf einer assoziativen wirtschaftlichen Grundlage arbeiten, die weit über den Campus hinausgeht bis hin zu Vertriebsunternehmen und Kunden.

Diese Dimension der Universität wird aus Juristinnen und Verwaltungskräften bestehen, die sich mit allem befassen, was die beiden anderen Bereiche des Campus zu einem gesund funktionierenden Ganzen verbindet. Kaufkapital aus dem Campus mit eigener Rechtspersönlichkeit und vertraglich vereinbarte Beiträge von Studierenden werden in die gemeinnützige Stiftung fließen. Diese Stiftung wird das Kaufkapital in Darlehenskapital (das bei Bedarf an die Studierenden weitergegeben wird) und Schenkungskapital umwandeln, um den Lehrkörper zu finanzieren und den Bau von Einrichtungen zu ermöglichen. Dieser vermittelnde Bereich wird einen ‹repräsentativen Rat› unterstützen, der bei Bedarf zusammentritt, um Fragen zu klären, die alle drei Bereiche betreffen. Der vermittelnde Rechtsbereich wird sich auch mit Fragen der Konfliktlösung und den erforderlichen rechtlichen Schritten befassen.

Die phänomenologische Hochschule

Das Ziel dieser Hochschule ist es nicht, anthroposophische Geisteswissenschaft nach dem Prinzip ‹Gefäß, das gefüllt werden will› zu lehren. Vielmehr geht es darum, den Studierenden zu helfen, selbst zu sehen. In jedem Aspekt und jeder Dimension von Lehre und Forschung werden die Studierenden lernen, den phänomenologischen Weg der Erkenntnis zu beschreiten. Steiner empfahl diesen Ansatz gegen Ende seines Lebens im sogenannten ‹Berliner Hochschulkurs›, in dem es darum ging, das akademische Studium neu zu denken. Wir «tauchen einfach in die Phänomene unter», wie Steiner es ausdrückt. «In den Phänomenen will ich nur lesen», lautet sein Hinweis.3 Die Erscheinung verbirgt die innewohnende Idee (Eidos), die jedoch auf dem Weg der Phänomenologie zur Präsenz kommen kann: Durch phänomenologische Erkenntnis «erscheint mehr, als zu erscheinen scheint».4 Der phänomenologische Ansatz gilt für alle Fachbereiche. Die in unserem Machbarkeitsdokument vorgestellten Bereiche sind Landwirtschaft, anthroposophische Medizin und Therapien, darstellende Künste, Architektur, Jura und Politik, bildende Künste und kreatives Schreiben, Sozialwissenschaften und soziale Kunst, Volks- und Betriebswirtschaft, Pädagogik für Menschen mit besonderem Förderbedarf und frühkindliche Pädagogik. Das Herzstück der Universität wird ein Orientierungskurs in den goetheanistischen Wissenschaften sein, der von allen Studierenden in allen Fachbereichen und in allen Studienjahren absolviert wird. Im Orientierungsstudium werden die Grundlagen der phänomenologischen Forschung erarbeitet, die dann in den einzelnen Fachbereichen und in der postgradualen Forschung vertieft werden. •


Wer mehr erfahren will, melde sich gern unter ateliersocialquest@outlook.com.


Dieser Text wurde für die deutsche Ausgabe gekürzt, den ungekürzten Artikel finden Sie in der English Edition: The Time is at Hand for a New Kind of University

Übersetzung Christian von Arnim
Foto Xue Li

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Footnotes

  1. R. Steiner, Der pädagogische Wert der Menschenerkenntnis und der Kulturwert der Pädagogik. GA 310, Dornach 1965, 10. Vortrag.
  2. R. Steiner, Die Erkenntnis-Aufgabe der Jugend. GA 217a, Dornach 1981.
  3. R. Steiner, Erneuerungs-Impulse für Kultur und Wissenschaft. GA 81, Dornach 1994.
  4. R. Bernasconi, The Good and the Beautiful, in: Phenomenology in Practice and Theory, Martinus Nijhoff Publishers, Dordrecht. 1985, S. 179-184.

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