Im Frühjahr 2019 stellten Andrea de la Cruz und Ioana Viscrianu ihre Studie zum Bewusstsein und Lebensgefühl der Heranwachsenden ‹(Re)search the spiritual striving of youth – shaping our reality› vor. Johannes Kronenberg stieß zu dem Projekt dazu. Ein Gespräch mit den drei Mitarbeitenden der Jugendsektion. Die Fragen stellte Wolfgang Held.
Die Forschungsfrage lautet: «Wie würde die Welt im Jahr 2030 aussehen, wenn das, was in mir lebt, Realität werden soll, und was werde ich tun, dass dies geschieht?» Sie bildet den Rahmen der Studie, an der das Forschungsteam (Andrea de la Cruz, Ioana Viscrianu und Constanza Kaliks) zusammen mit anderen Mentoren seit 2017 arbeitet.
Neben der freien Erzählung der eigenen Biografie haben die 40 Interviewpartnerinnen und -partner im Alter von 18 bis 35 Jahren aus 23 Nationen drei universelle Fragen beantwortet: 1. Wenn du der Welt etwas geben könntest, was wäre das? Diese Frage offenbart die Sehnsüchte, Wünsche und zielt zugleich auf eigene Fähigkeiten und Eigenschaften (das Geschenk). 2. Nun sei im Jahr 2030: Wie hat dein Beitrag, dein Geschenk die Welt verändert (der Beitrag zum Wandel)? 3. Was willst du von heute an tun, damit dieser Wandel geschehen kann (die Tat)? Damit sich die Jugendlichen ungezwungen und authentisch aussprechen können, galten die Fragen dem gegenwärtigen persönlichen Leben, im Kontext der davor erzählten Biografie, und lenkten indirekt auf den eigenen Beitrag zu einer Welt in zehn Jahren.
In eurer Jugendstudie habt ihr enorm Wert darauf gelegt, die ‹richtige› Frage zu finden. Warum war euch das wichtig?
Ioana Viscrianu Tatsächlich ist das die eigentliche Frage: Wie bilden wir einen Raum, in dem die jungen Menschen sich angeregt fühlen, über das eigene Leben und das Jungsein nachzudenken? Welche Frage könnte dieses Tor bilden? Das haben wir uns gründlich gefragt. Unsere Welt ist so vielfältig und komplex, dass es eine Hilfe sein kann, sich dabei bewusst zu werden, was dazu beigetragen hat, dass ich der oder die geworden bin. Dazu gehören die Kultur, die Familie, die Landschaft, in der man aufgewachsen ist. Zu den Aufgaben der Jugendsektion gehört natürlich die Forschung. In diesem Sinne wollen wir Fragen entwickeln, die ein Tor zur Selbstreflexion des Jungseins bilden. Dabei gehört ja zum Jungsein, dass man auf der Suche nach der Frage ist. Eine Suche, die man auch mit dem Annähern von etwas vergleichen kann, was artikuliert werden möchte. Da helfen Bilder und Wegweiser – Wegweiser, die keine Richtung vorgeben, aber dazu anregen, sich seiner Richtung bewusst zu werden. Herausfordernd oder interessant wird es, wenn nun die jungen Menschen diejenigen sind, die forschen, und zugleich diejenigen, über die geforscht wird. So wird der beschriebene Prozess auch für die Forscher eine immanente Realität.
Andrea de la Cruz Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es am besten ist, die Fragen in Form von Bildern zu stellen, weil wir so den Gesprächsverlauf am wenigsten prägen. Das bedeutet, absolut geistesgegenwärtig zu sein, in welche Richtung unser Interviewpartner geht, um ihn dann auf diesem Weg zu begleiten und zu unterstützen. In unserem ersten Bericht haben wir es so beschrieben: «Den anderen ein Gefährte sein bei der Erforschung ihrer selbst. Sie reflektieren, suchen und finden und wir als Fragende versuchen so zuzuhören, dass wir diejenigen Fragen stellen, die sie sich selbst stellen, die aber vielleicht nicht ganz ins Bewusstsein dringen oder bei denen sie Schwierigkeiten haben, sie zu artikulieren.»
Ioana Deshalb ist uns die Peer-to-Peer-Forschungsmethode wichtig, die jugendgeleitete Forschung, bei der beide Interviewpartner gleichberechtigt sind. Zwischen mir und dem jungen Menschen, der vor mir oder neben mir ist, entsteht eine Resonanz, weil das, was als Frage im Raum ist, uns beide betrifft. So ist ein Gespräch möglich, jenseits von Befragung und definierten Rollen. Das macht diese Forschung aus. Uns ist passiert, dass Interviewpartner eine Stunde ununterbrochen gesprochen haben, ohne dass wir eingreifen mussten.
Heute lösen sich die Generationsgrenzen auf. Ihr habt die Grenze eurer Untersuchung dennoch auf ein Lebensalter von 35 Jahren gelegt.
Ioana Diese Zahl dient der Orientierung. Ab Mitte 30 werden die Lebensfragen spezifischer, weil die Biografie in eine deutlichere Richtung geht, sich die Aufgaben in der Welt klarer zeigen. Unsere Fragen richten sich an dieses Lebensalter, wo man erwachsen ist und zugleich alles offen steht. Natürlich bedeutet das nicht, dass man im Laufe des Lebens aufhört, sich diese Sinnfragen zu stellen. Wir fokussieren aber auf besondere Fragen, die sich im Jugendalter stellen, weil man hier am Anfang einer Suche steht.
Andrea Ein anderes Anliegen war, den jungen Menschen eine Stimme zu geben, und zwar dem einzelnen jungen Menschen, nicht der Jugend allgemein. Und doch haben wir in all den verschiedenen Erzählungen diese essenzielle Qualität erfahren, zu ‹werden›, sich zu entwickeln. Das gehört zur Natur dieses Lebensalters, denn in jedem Gespräch tauchte es auf, unabhängig von Geschlecht, Alter und Lebensort. Wir wollten mit der Studie ja mehr und mehr Türen öffnen in das, was in dieser Generation erfahren und erlebt wird. Deshalb ist es wohl verständlich, dass wir viel mehr Fragen als Antworten gesammelt haben.
Ioana Es ging in der Studie immer um beides, die Stimme hörbar zu machen, wahrzunehmen, was die jungen Menschen zu erzählen haben, und ihnen durch die Art der Fragen den Raum zu geben, darüber zu reflektieren.
In welchen Momenten hattet ihr das Gefühl, in eine tatsächliche Begegnung zu kommen?
Andrea Du spürst deutlich, wenn im Interview etwas Neues hervortritt. Das ist dann die Begegnung. Es lässt sich schwer in Worte fassen, denn es ist mehr ein Ereignis als eine bestimmte Aussage. Wenn wir dann später die schriftliche Fassung des Gesprächs durchgehen, dann ist dieser Moment der Begegnung wieder neu zu spüren, ja unser Interviewparter scheint wieder anwesend zu sein. Das war eindrucksvoll und Teil des Projektes, so wie unser Austausch über die Gespräche selbst wieder so eine Suchbewegung ist. Wir haben die Gespräche betrachtet und sind dabei doch Teil des Gespräches geblieben, weil es uns ja auch selbst betrifft.
Ioana Es geht hier nicht darum, dass man als Leser Antworten erhält wie ‹aha, so ist also die Jugend›. Das Projekt ist eine Einladung an alle, mit in die Fragen einzusteigen, mit an den Abgrund zu treten und das Bewusstsein zu erfahren, das sich dort zeigt. Das ist unsere Hoffnung.
Johannes Kronenberg … die sich an manchen Orten schon erfüllt. Die Fragen, die wir hier stellen, fangen an, die Wirklichkeit zu verändern. Wenn man darüber nachdenkt, wie sich die Welt im Jahr 2030 durch meinen Beitrag verändert hat, dann nimmt man sich ernster, erlebt nicht seine Begrenzung, sondern die eigenen Möglichkeiten. So verändert sich die Realität.
Ihr beschreibt, dass es wichtig sei, die eigenen Ursprünge, die kulturelle Identität zu kennen, und gleichzeitig betont ihr, dass die Befragten das Leben als ständigen Wandlungs- und Veränderungsprozess erleben. Ist das ein Widerspruch?
Andrea Viele Jugendliche waren sehr interessiert daran, zu verstehen, aus welcher Welt sie eigentlich kommen. Sie erzählten gerne von den Nachbarn, als sie ein Kind waren, ohne dahin wieder zurückkehren zu wollen. Es ist vielmehr umgekehrt. Je besser ich meine Ursprünge kenne, desto leichter kann ich mich von ihnen lösen und mich als Bürger der ganzen Erde verstehen und im Austausch der Kulturen mein Zuhause finden. Viele Jugendliche haben uns das so beschrieben. Uns hat niemand gesagt: «Ich bin Spanierin, aber ich fühle mich frei für die ganze Welt.» Nein, es hieß: «Ich bin Spanierin und es erfüllt mich, diese Wurzeln meiner Kultur zu kennen und zu verstehen und dadurch fühle ich mich mit der ganzen Erde verbunden.» Nicht Verleugnung, sondern Erkenntnis der eigenen Wurzeln scheint uns ein globales Bewusstsein zu geben. Es ist ein Weg vom Teil zum Ganzen. Das zeigte sich bei fast allen Jugendlichen.
Wie lernen wir heute, oder besser, wie wollen wir heute lernen?
Andrea In den Gesprächen zeigte sich, dass es heute mehr als nur ein Leid an all den formalen Lehrplänen und Bildungsnormen gibt; es ist Resignation! Meine persönliche Erfahrung in der Schulzeit: Ich werde nicht gesehen. Es ist also nicht schrecklich oder schmerzlich, in der Schule zu sein, es scheint vielmehr bedeutungslos zu sein hinsichtlich meiner Sehnsucht, die Welt zu erkunden und zu verstehen. Natürlich kann man in der Schule sehr viel entdecken. Das ist jetzt meine persönliche Reflexion: Die Schule hat das zu tun, was sie kann, mir die Möglichkeit schenken, Entdeckungen zu machen. Wenn ich die Straße zum Goetheanum laufe, wenn da jemand ist, der mich sieht und der mich versteht, dann wird er zu meinem Lehrer und der Weg zur Schule. Für die Schule heißt das, wenn ich eine Frage habe und mein Lehrer nimmt sie und macht etwas daraus, dann wird die Schule zu einer Schule. Es verlangt Interesse an den Schülerinnen und Schülern.
Ein weiterer Punkt in den Gesprächen war: keine Toleranz, wenn ethische Grundsätze verletzt werden.
Andrea Ja, das war in einigen Gesprächen das Thema und ich erinnere vor allem an ein Gespräch. Da schilderte ein Jugendlicher, dass er es unerträglich fände, wenn er bei seiner Arbeit in irgendeiner Form lügen müsse. Er entschloss sich, zu kündigen, obwohl das natürlich finanzielle Unsicherheit bedeutete. Ganz ähnlich eine Frau an einem ganz anderen Ort: Sie erzählte, dass es in ihrer Tätigkeit nichts zu tun gab, sie wurde nicht gesehen, es schien sinnlos zu sein. Obwohl sie sich diese Arbeit in der Politik erträumt hatte, verließ sie die Stelle. Beide hatten die innere Stärke, konsequent zu sein und Nein zu sagen, weil sie eine gewisse selbst gesetzte Linie nicht überschreiten wollen.
Johannes Mich erinnert das an große Demonstrationen an niederländischer Universitäten. Es gab eine Gruppe von Studenten, die einfach protestierten, und dann gab es eine zweite Gruppe, und die zeigten etwas von dem, worüber wir jetzt sprechen. Sie verließen die Universität mit 200 Professoren und Studierenden und gründeten eine neue Hochschule, eine Hochschule, die jetzt enorm groß geworden ist.
Andrea Florian Osswald von der Pädagogischen Sektion erzählte mir, dass er in Argentinien war, als dort gerade ein Frauenmarsch stattfand. Die Stille, in der die Protestierenden marschierten, habe ihn beeindruckt. Silence and Gentleness (Stille und Milde)!
Ein weiterer Kernpunkt eurer Studie betrifft die Berufsziele.
Andrea Wir haben beobachtet, dass die Berufswünsche und -ziele meistens breit gefächert waren, die Jugendlichen suchen Vielfalt und nicht Spezialisierung. Ein Ziel lässt sich vielfältig verwirklichen, wie bei Alan: Er träumte schon mit 13 Jahren davon, die menschliche Natur zu verstehen. Das kann er als Autor, als Lehrer oder Sozialarbeiter verwirklichen. Es geht um Berufung und weniger um Beruf.
In der letzten Shell-Jugendstudie wird religiöse Lebensgestaltung gering bewertet, während Freundschaft und Partnerschaft ganz oben stehen. Bestätigen eure Gespräche das?
Andrea Wenn in den Gesprächen von Religion die Rede war, dann ging es nicht darum, ein Geistiges, Göttliches zu verstehen, sondern mich selbst im Verhältnis zu einem Höheren zu begreifen. Das spielt eine große Rolle. Spirituelles Üben, um innerlich sich selbst zu finden und die eigenen Fragen beantworten zu können.
Ioana Religion als etwas Gegebenes, das keine eigene Tätigkeit, keine innere Aktivität beinhaltet, das widerspricht dem Bedürfnis, den Ort selbst zu suchen und vielleicht sogar zu schaffen, an dem der junge Mensch sich und die Welt tiefer verstehen kann.
Anthroposophie bietet beides: die gegebenen Inhalte und die Werkzeuge.
Ioana Anthroposophie verstehe ich als Einladung, selbst zu forschen, mit bestimmten Inhalten zu leben und zu schauen, was ich daraus machen kann. Es ist wohl auch eine Frage der Zeit. Im 20. Jahrhundert zählte gegebenes Wissen viel mehr als heute.
Das am meisten besprochene und vertiefte Feld in den Interviews betrifft ‹Beziehung›.
Andrea Da ist die Sehnsucht nach Beziehung und Verbindung und zugleich fällt es jungen Menschen leicht, sich zu verbinden. Es ist die Heimat. In menschlicher Gemeinschaft zu sein, ist ein erster Schritt; zu erleben, dass man erst im Miteinander sich selbst findet, zu sich selbst kommt, ist ein zweiter Schritt. Ich bin, wegen, durch und mit den anderen. Ich frage mich, ob frühere jugendliche Generationen das auch so gefühlt haben. Dabei geht es nicht um die Beziehung an sich, sondern um das ‹Wie› der Beziehung.
In eurer Studie nennt ihr dazu die drei Stichworte Vertrauen, Ehrlichkeit und Offenheit.
Andrea Heute würde ich ‹Verletzlichkeit› hinzufügen. Da ist eine Sehnsucht, sich auf zärtliche Art zu begegnen, und das setzt voraus, von der gegenseitigen Verletzlichkeit zu wissen.
Johannes Dazu gehört Verbindlichkeit, die man sucht, aber nicht immer erreicht. Wunsch und Wirklichkeit sind da nicht eins.
Andrea In unseren Gesprächen ging es um Wünsche und Ideale. Zwischen Idee und Tat ist ein Weg. Was geschieht da? Das betrifft dann eine zweite Phase unserer Analyse. Das spirituelle Streben ist da, aber wie wird daraus Wille? Hier vermuten wir einen blinden Fleck.
Gemäss eurer Aussage erwähnen manche Jugendliche, dass sie auf etwas Unbestimmtes warten. Hängt das damit zusammen?
Andrea Das kann man mit dem blinden Fleck verbinden. Es muss einen Grund, einen Anlass für mich geben, um einzusteigen, um den Schritt zu machen. Es geht um den Mut zu Verbindlichkeit.
Ioana Wir haben darüber gesprochen, dass Jugendliche sich still abwenden, wenn sie das nicht finden, was sie erwarten. Hier geht es um Ausdauer: Okay, ich finde etwas jetzt nicht, aber ich mache mich auf den Weg, es zu verwirklichen. Da braucht man ziemlich Vertrauen und Ausdauer.
Kamt ihr zu eurer Frage, was man selbst unternehmen kann, um sein Geschenk für die Welt zu verwirklichen?
Ioana Wo es gelang, das Gespräch in diese Frage nach dem eigenen Beitrag münden zu lassen, da begann im Interview ein Empowerment-Prozess. Da haben einige gesagt: Jetzt weiß ich, was ich machen will.
Der erste Bericht der Studie: www.youthsection.org/wp-content/uploads/2019/04/RESEARCH-WEB-FINAL-1.pdf
Zeichnungen von Shira Nov, 2019