Clara Steinkellner besucht Markhof, eine Schule in Wien, die keine Schule ist. Stefan Leitner-Sidl erzählt ihr von seinem Unternehmen, in dem Kinderstimmen zum Büroalltag gehören.
Eine bunt gemischte Gruppe diskutiert mit mir über das Schulsystem, das uns zum Konsum erzieht. Es ist Juni 2012 auf dem FairVenture-Kongress in Leipzig. Ich biete im Open Space den Workshop ‹Freie Bildung + Solidarische Wirtschaft› an und so sprechen wir über solidarische Wirtschaft, die eine Erziehung zur Initiative und Selbstverantwortung bräuchte, über die ungesunde Abhängigkeit des Bildungswesens vom Zentralstaat – und dass die solidarische Wirtschaft eine freie Bildung unterstützen muss, da der Umweg der Bildungsfinanzierung über das staatliche Steuersystem große Nachteile hat.
«Aber die Wirtschaft will doch nur gefügige Arbeiter, die wird doch emanzipatorische Bildung nicht freiwillig unterstützen! Wir brauchen den Staat als Garant für freie Bildung!», tönt es mir entgegen. In der Ecke sitzt ein freundlicher junger Mann, der bis jetzt nur zugehört hat. An diesem Punkt mischt er sich in die Diskussion ein: Er sei Unternehmer, aus Wien, der in den nächsten Jahren eine Schule gründen und fördern will, in der eine ganzheitliche Bildung im Sinne eines nachhaltigen Lebensstils möglich werden soll. Ich konnte es kaum glauben, was hier gerade geschehen war – an der erfahrungsgemäß empfindlichsten Stelle meiner ‹Dreigliederungs-Argumentationskette› taucht so ganz unverhofft ein Mensch auf, der hier als ‹lebendiger Beweis› meine steilen Thesen stützt. Hier begegne ich Stefan Leitner-Sidl zum ersten Mal. Wir kommen ins Gespräch, er nimmt mein damals druckfrisches Buch ‹Menschenbildung in einer globalisierten Welt› mit nach Wien und schreibt mir wenig später: «Das ist die Theorie zu meiner Praxis!» Er ist also einer, dem die radikale Lesart von Steiners Dreigliederung, die ich in der ‹Menschenbildung› wissenschaftlich aufzuarbeiten versucht hatte, keineswegs ‹zu heiß›, sondern willkommen ist.
Er selbst ist auf einem Bauernhof aufgewachsen, im niederösterreichischen Mostviertel. «Ich war als Kind immer nur bis zwölf Uhr in der Schule, und dann hat das eigentliche Leben stattgefunden!» Zum Studium der Handelswissenschaften ging es nach Wien, anschließend machte er sich mit einem Kollegen als Marktforscher selbstständig. «Wir arbeiteten von zu Hause aus und merkten bald, dass das nicht ideal ist.» Das Konzept eines Coworkingspace wurde geboren: Ein Ort, an dem man «seine Ruhe hat und trotzdem nicht alleine ist», ein gemütliches Großraumbüro, in dem Freiberufler und Selbstständige Schreibtischplätze mieten können, zu einer Community zusammenwachsen, FoodCoops und Car-Sharing-Initiativen gründen.
Mit den eigenen drei Söhnen wurde die Schulfrage virulent – besser gesagt die Bildungsfrage. Leitner-Sidl ist von Ivan Illich und seiner 1971 in seinem Bestseller dargelegten ‹Entschulung der Gesellschaft› begeistert. Er fand Mitstreiter und gründete 2015 das freie Bildungsprojekt ‹Colearning Wien›, das von ca. 40 jungen Menschen zwischen sechs und 15 Jahren besucht wird. Gemäß dem afrikanischen Sprichwort «Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen» wurde zwei Jahre nach der Gründung ein neuer Standort, der ‹Markhof – das Dorf in der Stadt› aufgebaut. Ein ehemaliger Industriehof mit vielen Räumen auf drei Etagen, eine Million Euro wurden investiert: in den Coworkingspace mit 50 Schreibtischplätzen, das Colearning-Lernzentrum, in Besprechungs-, Praxis- und Seminarräume, das Hofcafé, ein Gästeappartment, den Food-Coop-Lagerraum, Musik- und Bewegungsräume, ein Kochstudio und eine große Holz- und Metallwerkstatt. Die Kinder und Jugendlichen haben viele Bezugspersonen, fünf Lernbegleiterinnen sind ausschließlich für sie da. Offiziell sind sie alle zum Heimunterricht abgemeldet – das geht in Österreich, wenn man am Jahresende eine Prüfung ablegt. Kürzlich waren zwei Personen vom Schulamt zu Besuch: «Wir hören immer von euch, aber ihr taucht offiziell nirgends auf; seid ihr eine Alternativschule? Nein? Was seid ihr denn dann?» Die Gäste wurden freundlich empfangen – aber zu prüfen gab es nichts; weder Klassenbücher noch Lehrpläne noch die Ausbildung der Lehrkräfte, lediglich die gute Absicht der Betreiber. Im Projekt Colearning Wien hat tatsächlich die Zivilgesellschaft die volle Verantwortung für die Bildung übernommen. Der Staat hat nichts dreinzureden – und gibt auch kein Geld: das Colearning-Projekt ist finanziell unabhängig. Bewusst. Die Eltern zahlen Beiträge nach Selbsteinschätzung, die Räume werden durch das zum Verein hinzugegründete Unternehmen aus den Einnahmen der Raum- und Arbeitsplatzvermietung finanziert.
Im Februar habe ich den Markhof besucht. Während wir durch die vielen Räume geführt wurden, begegneten uns immer wieder Kinder. Mal mit Eimer und Wischmopp, mal mit Büchern unterm Arm. Später warfen wir einen Blick in den Koch- und den Speiseraum: Zwei kleine Mädchen standen auf Stühlen vor großen Töpfen und schöpften den anderen, die mit ihren Tellern in der Reihe standen, Essen auf. Wir setzten uns in einer ruhigen Ecke zum Gespräch zusammen:
Was ist für dich das Kernanliegen des ganzen Projektes?
Wir wollen Gemeinschaftlichkeit wieder erlernen und üben und die Kinder in dieser Gemeinschaft groß werden lassen. Und das Schwierigste ist, die Eltern, die draußen im Hamsterrad strudeln, und die Coworker, die drinnen im Hamsterrad strudeln, auf diese Reise mitzunehmen. Im besten Fall wollen wir einen Raum schaffen, der für alle inspirierend und ermutigend ist – wir können eh nur mit Zug, nicht mit Druck arbeiten. Auch wenn es heute schon viele Signale gibt, die auf einen gesellschaftlichen ‹Pendelrückschwung› hindeuten, spüren wir schon, dass wir immer noch gegen einen bestimmten Zeitgeist arbeiten. Das bedeutet Reibung und ist manchmal eine richtige Sisyphusarbeit.
Wo ist die Reibung spürbar?
Zum Beispiel, wenn es darum geht, dass wir nicht für die Noten der Externistenprüfungen lernen! Uns interessiert das eigentlich überhaupt nicht, aber die Eltern sagen dann: Es wäre aber schon gut, wenn die Kinder da gute Noten hätten! Und da können wir den Eltern nur erklären, dass wir nicht an den Kindern ziehen können, dass der Zeitpunkt passen muss, an dem einem «der Knopf aufgeht»! Wir haben also auch diesbezüglich aus unserer bisherigen Erfahrung gelernt. Wenn wir ein neues Kind aufnehmen, dann sagen wir: Wir nehmen euch als Familie auf, und wenn ihr nicht bereit seid, bestimmte Zivilisationsgewohnheiten zu hinterfragen, dann ist hier kein Raum für euch. Also es ist nicht das Kind, das lernen muss, sondern das ganze Familiensystem merkt als Spiegel der Gesellschaft, dass es ‹umlernen› darf. Und wir als Gemeinschaft sind sozusagen eine kritische Masse, die unsere Gesellschaft interpretieren, nämlich anders interpretieren kann. Und wir wollen sie inspirieren, im Sinne von: Wir machen eine andere Praxis, schaut her, es ist möglich.
Was ich hier sehr spannend finde, ist ja, dass die Kinder im Arbeitsmilieu der Eltern, der Erwachsenen überhaupt wieder Wahrnehmungen haben können. Wir machen häufig Schule als Inszenierung, und man bastelt da irgendetwas halbherzig zusammen, und die Kinder kriegen kaum mehr einen Handwerker mit, der was kann! Und so ist es ja auch in der Anlage – du willst eigentlich eine auch professionelle Arbeitsstätte schaffen, und sie sollen erleben, wie Menschen professionell Konferenzen führen und an etwas arbeiten.
Ja, genau, das ist der Anspruch! Und das ist interdependent, das beeinflusst die Kinder und Jugendlichen, aber das beeinflusst auch die professionell Praktizierenden. Eine Coworkerin hat einmal gesagt: «Das macht einen Unterschied – dieser Ort ist ein Ort, wo man Kinderstimmen hört!»
Wie oft begegnet ihr euch tagsüber?
Immer wieder. Letztens saß ich in einem Meeting, da kommt auf einmal mein jüngster Sohn herein mit seinem Freund und fragt: «Dürfen wir rausgehen?» «Nein, es ist grade gar keiner draußen! Habt ihr niemanden, der euch betreut?» «Nein, weil die ist grade dort und dort!» – «Na, dann setzt euch schnell her zu uns.» Und da haben sie uns wirklich 15 Minuten zugehört und zugeschaut – einmal haben sie nachgefragt, was ein Scrum Sprint ist, dann haben wir das erklärt. Es war insgesamt so berührend, weil das ganze Gespräch anders verlief – weil ich niemals im Business-Kontext eine schlechte Entscheidung treffen würde, weil sozusagen die nächste Generation anwesend ist. Also: Ich kann kein Arschloch sein in Anwesenheit eines Kindes, das ist das Erlebnis. – Aber jetzt erzähl mir mal, wo seid ihr gerade dran?
Wir sprechen noch lange über unsere nächste Freie Sommeruniversität, unsere Erfahrungen im Aufbau der Görlitzer Waldorfschule, überhaupt über die verschiedenen Ansätze der Waldorfpädagogik und des ‹Unschooling›, das Stefan verfolgt. Wir entwickelten auch die Idee, im Markhof gemeinsam zu einer Bildungskonferenz einzuladen. Im Juni 2019 vielleicht, denn erst einmal steht bei Stefan ein halbes Jahr Asien und Afrika mit seiner Frau Petra und den drei Söhnen an.