Es liegt in der Natur der Sache, dass die Inspiration als mittlere der drei Erkenntnisstufen – deren Übergänge in gewisser Weise auch wieder fließend zu denken sind – am schwersten in ihrer Eigenständigkeit zu fassen ist: Sie schließt sich an die Imagination an, indem sie die auf der ersten Stufe gewonnenen, noch persönlich gefärbten Bilder in «objektive Imaginationen» (S. 67) umwandelt; und indem der Übende auf dieser Erkenntnisstufe wirklich in das geistige Erleben eintritt und zu Wesensbegegnungen kommt, führt sie unmittelbar in den Zustand der Intuition über. Dieser Übergangs- oder Schwellen-charakter ist ein Grundzug der Inspiration.
Aus Martina Maria Sam (Hg.), Rudolf Steiner. Herzdenken – über inspiratives Erkennen. Rudolf-Steiner-Verlag, 2014.
Grafik Sofia Lismont
Die Inspiration wird die leider noch persönlich gefärbten Bilder in objektive Imaginationen umwandeln, das scheint mir hier wichtig zu sein.
In zwei Jahren wird es 230 Jahre her sein als Goethe die „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ und Schiller die „Briefe zur ästhetischen Erziehung“ in den „Horen“ veröffentlichten. Beide Werke zählt man zum Gipfel der Weimarer Kassik.
Aber es passierte noch mehr in diesem Jahr 1795.
Schiller veröffentlichte das Gedicht „Der Spaziergang“, das Schiller als Höhepunkt seines dichterischen Schaffens betrachtete.
In diesem Gedicht wird geschildert wie sich persönlich gefärbte Bilder in objektive Imaginationen wandeln. Ich möchte nicht spoilern, aber die Auflösung ist im letzten Vers dieses Gedichts zu finden. Man sollte jetzt aber nicht nur den letzten Vers lesen, sondern, sofern möglich, das gesamte Gedicht, denn der Weg zur wahren Inspiration führt leider auch über den Irrtum und über die Lüge.
Nun gibt es aber keinen Grund traurig zu sein oder gar zu weinen, falls man von den Insprationen ausgeschlossen ist. Denn man ist es ja selber Schuld! Man kann sich das Buch kaufen und lesen, es hindert einen ja keiner, man könnte sich auch mit Kollegen treffen und den Text gemeinsam bearbeiten, mag sein, dass er ganz schön schwierig ist. Man könnte sich aber auch einfach zur Wahrheit bekennen und einfach in der Wahrheit leiben.
Also nochmal als Tipp: „Der Spaziergang“ von Schiller, da steht alles.
Mich erinnert das ganz stark an eine Episode aus dem Roman «Der Verstoss» von L.R. Carrino, das ist ein wirklich absonderliches Buch, und es geht eben auch um die philosophische Frage, wie objektiv sind die Imaginationen, die ich von den anderen habe? Der Protagonist Giovanni stellt wirklich seltsame Dinge an, man schaut fassungslos in dieses Buch hinein, nennen wir das mal Mord und Totschlag (noch eher höflich zusammengefasst), und dennoch macht man sich Gedanken, vielleicht ist das doch ein liebenswerter Typ? Und dann kommt so eine bizarre Episode, wo Giovanni in das Tagebuch seiner Frau Mariasole schaut, während sie unter der Dusche steht, und dort liest er, was Mariasole gerade denkt oder empfindet oder gar wahrnimmt?
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Eine Glasscheibe trennt uns vom Tod der Menschen, die wir lieben.
Das gilt vor allem für unsereins.
Jedes Mal, jedes Mal wenn ich mich einsam fühle, sehe ich dieses Bild von dir vor mir. Ich sehe dich, wie du die Hand hebst und mit dem Kopf schüttelst und mir versicherst, dass es dir gutgeht.
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Das ist ein wirklich verrücktes Buch, man sollte es vielleicht besser verbieten, aber hier kann man doch sehen, wie man über Inspiration zu objektiven, also intersubjektiven Imaginarionen kommt, und zwar folglich zu Inspirationen, die wahr sind. Natürlich hätte ich auch ein anderes Buch für diese Beobachtungen heranziehen können, denn ich interessiere mich auch sehr für Christoph Martin Wieland, aber ich hatte eben richtig Lust auf Trash, und dann muss es natürlich der Luxus-Trash eines anerkannten literarischen Kleinverlags sein, man muss unablässig am Puls der Avant-garde leben. Vielleicht lese ich demnächst dann doch mal Wielands «Geschichte des Agathon», eigentlich ist mir das Buch zu teuer, ich hatte gehofft, es in der Bücherstube der Christengemeinschaft gratis abstauben zu können, aber naja, muss man halt Geld sparen oder es aus der Bücherei ausleihen.