Vom himmlischen Schwur

Wolfgang Held trifft Philip Nelson

Wir haben einen Pakt mit dem Himmel geschlossen. Jeder Mensch, jeder für sich. Das ist es, was ich nach dem Gespräch mit Philip Nelson mitnehme. In der sommerlichen Abenddämmerung sitzen wir vor seinem Atelier und schauen auf eine blühende Königskerze vor uns. Selbst wenn wir stehen, überragt uns diese Laterne – eine Achse zwischen Himmel und Erde.


Wir alle haben mit einer eigenen Provinz des Himmels eine Übereinkunft getroffen – ihr und noch mehr uns selbst die Treue zu halten. Vermutlich ist es der Genius, der sich über jedem von uns wölbt, der diesen Kontrakt besiegelt, und wenn wir diese Übereinkunft im Getriebe des Alltags vergessen, dann ist es dieser Genius, der ihn uns wieder und wieder in Erinnerung ruft. Vielleicht ist es dieses Band, das die Schönheit in jedes menschliche Gesicht zaubert. Und vielleicht ist es so, wie mir die Ahnung sagt: Wenn wir dieses Versprechen mit unserer himmlischen Herkunft leben, dann wird ein Leben zum Werk, zum Stein des neuen Jerusalems.

Einsam, aber nie allein

Philip Nelsons Stein umfasst 3400 Bilder, die er in 40 Jahren gemalt hat. 1200 hat er verkauft – 3400 Urkunden seines Bündnisses, denn, so versichert er mir, er sei der Verabredung immer treu geblieben. Denn, so setzt er fort, er wisse, dass ein krummes Spiel ihn die Inspiration kosten würde. Noch eine Vermutung: So sehr Künstler und Künstlerinnen spielen und experimentieren, der Fantasie ihren Lauf lassen und damit freier als die übrigen Sterblichen sind: Wenn es um diesen hohen Bund geht, dann sind sie es, die gefesselt sind. Es sind Fesseln, die sich die Künstler und Künstlerinnen selbst anlegen. Philip nennt mir seine: Der Kampf ist ‹im› Bild und nicht ‹auf› dem Bild! Ich frage ihn, ob von all den Abgründen der Welt etwas von diesem Dunkel es auf seine Bilder schafft. Philip: «Niemals», und er lacht. «Nein, Nie. Kein einziges Mal. Wirklich nicht.» Er müsse es in die Harmonie bringen, es ins Gute wandeln. «Wir sind so zersplittert mit und durch das Böse, das in der Welt tobt. Wir werden überrollt. Ich schaffe im Chaos, aber ich schaffe niemals das Chaos. Das ist ein Kampf, bei dem ich im Feuer stehe. Um diese Transformation geht es! Diese Alchemie auf dem Weg zum Schönen.» «Was Rudolf Steiner nennt ‹In die Haut des Drachen steigen›, das passiert dabei?» Philip: «Das ist ein Prozess, der Kampf, und ich wundere mich, dass ich dabei nie gestorben bin. Ehrlich. Mein Humor und mein Wille bringen mich hindurch. Den Kampf sieht man auf den Bildern nicht, aber alle meine Narben sind darauf.» An einer Ausstellung geht mein Blick von Philips Bildern zu den Ausstellungsbesuchern und -besucherinnen. Manche sind still und ganz mit sich allein auf ein Bild konzentriert. So spiegelt sich wohl, was Philip im Gespräch erzählt: «Es ist ein einsamer Weg, ein Bild zu malen – und doch bin ich nie alleine dabei.»

Philip Nelson, Alexander durch die Wüste, 2024, 158 × 98 cm

Nachts um drei

Um Philips Augenlider ist immer ein Lächeln. «Und auf dem Bild ist dann von diesem Ringen nichts zu sehen?» «Nein, es ist nicht auf dem Bild, es ist aber sehr wohl in den tieferen Schichten des Bildes aufbewahrt. Vielleicht wird man in der Zukunft mit Röntgenstrahlen diese Untergründe sichtbar machen. Der Kampf ist aber nicht im Resultat. Ich lebe für das Resultat, und da gibt es diese kleine Stimme in mir, die sich dann meldet, und dann weiß ich, es ist vorbei.

Das, so verstehe ich Philip Nelson, gehört zu seiner Verabredung, diesem Kampf nicht aus dem Weg zu gehen. Er kann nicht alleine bestimmen, wann es zu Ende ist und – auch das ist wohl Teil dieser irdisch-himmlischen Co-Kreation – auch nicht dessen Anfang.

«Ich komme mir manchmal so vor, als wäre ich Hebamme, ein Entbindungshelfer. Ich muss immer parat sein, wenn das Baby sich ankündigt, und sei es nachts um drei Uhr. Bei mir ist das Baby nicht physisch, sondern geistig. Du musst parat sein, wenn es kommt. Bin ich nicht zur Stelle, so werde ich krank. Zum Glück brauche ich wenig Schlaf, es genügen drei oder vier Stunden, sodass ich da bin, wenn sich solch eine Inspiration  ankündigt.

Philip Nelson, Wagenrennen, 2024, 130 × 100 cm

Kein Gedanke, sondern eine Macht

«Du fährst ein schwarzes Auto und trägst gerne schwarze Kleidung und doch ist Schwarz auf keinem deiner Bilder zu finden – wieso?»  Philip: «Ich weiß nicht warum und tatsächlich, ich habe noch nie schwarz gemalt, nicht ein einziges Mal, bis auf schwarze Linien. Ich denke, es ist nicht richtig, schwarz zu malen. Es kommt einfach nicht. Das ist kein Gedanke, das ist eine Macht.» «Ist auch das der Vertrag – sich solch einem Diktum zu unterstellen?» Philip: «Übrigens, ich kann kaum farbige Kleidung tragen. In mir ist so viel Farbe, ein Feuer von Farbe.»

«Gehört zu deinem himmlischen Vertrag auch, dass du weder Handy noch Computer besitzt?» «Ich adressiere alle Einladungen von Hand. Vorgestern habe ich gedacht: Mein Gott, du hast insgesamt 25 000 Mal von Hand die Adressen geschrieben. Ja, ein Computer würde meine Imagination stören. Dabei liebe ich Technik, deshalb ist das auch kein Urteil über andere. Aber ich kann Technik beim Malen nicht ertragen, da bin ich empfindlich. Es war eine große Entscheidung, als ich 1976 in den USA mein Diplom für Film erhielt und auch einen Preis gewann. Viele Leute um mich sagten, dass ich wohl zum Film gehen werde. In diesem Moment fühlte ich, dass ich es nicht machen kann. Später, als ich dann die Anthroposophie kennenlernte im Emerson College, verstand ich besser, warum das bei mir so ist.»

Philip Nelson, Cleopatra waiting for Marc Anthony, 2024, 130 × 100 cm

Die Zeit wird zum Bild

Jedes Bild fasst einen Moment, hält einen Augenblick fest. So wie Musik zu malen vermag, so vermag die Malerei zu klingen, die Innenseite eines Momentes zu zeigen. Philip Nelson hatte vor fünf Jahren diesen Bogen zwischen Zeit und Raum weit gespannt. Er malte sieben Bilder zu den von Rudolf Steiner beschriebenen sieben Kulturepochen. (Siehe ‹Goetheanum› 39-40/2019) . Mein jetziger Besuch im Atelier dient einem umgekehrten Unternehmen von Philip. Ging es damals darum, Jahrtausende in einem Bild zu fassen, geht er jetzt mit dem Pinsel den polaren Weg: den Moment zu fassen, in dem ein Jahrtausend sich ereignet. «Die Innenseite des Augenblickes ist die Ewigkeit», schreibt Platon, und solche ewigen Augenblicke hat Philip nun ins Bild gebracht: Kleopatra, die am Hafen von Alexandria die Ankunft ihres Geliebten Marcus Antonius erwartet. Obgleich er im Schatten der großen Herrscher Caesar und Augustus stand, hat er sich durch die Liebe zur letzten ägyptischen Pharaonin Kleopatra ins Weltbewusstsein eingeschrieben. Shakespeares Stück ‹Antonius und Cleopatra› hat dazu sicher beigetragen. Darin ist die literarische Rede von Antonius beim Gericht über Caesar als rhetorisches Meisterwerk in die Reihe der großen historischen Reden eingegangen. 1963 war es der bis dahin opulenteste Hollywoodfilm ‹Cleopatra›, der römisch-ägyptische Liebes- und Kriegsgeschichte in das 20. Jahrhundert brachte. Nelson wählt einen weiteren Augenblick im ausgehenden Ägypten. Drei Orakel prägten in der Antike die politischen Geschicke Europas und des Vorderen Orients: Delphi, Dodona in Nordgriechenland und Siwa an der ägyptisch-libyschen Grenze. Alexander wollte wie seine mythischen Vorbilder Perseus und Herakles den Wüstenort Siwa besuchen und machte sich 331 v. Chr. auf die 200 Kilometer lange, gefährliche Reise durch die libysche Wüste bei Sandsturm und Hitze. Der Geschichtsschreiber Plutarch beschreibt nun einen denkwürdigen Moment, als Alexander das Orakel erreicht. Der im Griechischen ungeübte Priester hätte Alexander begrüßen wollen mit ‹o paidion›, was bedeutet ‹o Sohn›. Doch er wählte ‹o paidios›, was ‹Sohn des Gottes› bedeutet. Alexander, so Plutarch, hätte diese Überhöhung sofort ergriffen. Wie auch immer es sich zugetragen hat, hier wurde der Grund für Alexanders göttliche Überhöhung gelegt und auch für seinen Feldzug in den Orient, mit der er die griechische Kultur bis nach Indien getragen hat. Denn das Orakel stimmte seiner angestrebten Weltherrschaft zu.

Ein Bild zeigt einen Löwen mit Kind. «Das ist für mich die Geburt Griechenlands», erklärt Nelson. Steht am Anfang Roms die Wölfin, ist es hier der Löwe. Rom widmet er ein Bild zum Wagenrennen im Hippodrom. Was heute mediale Großveranstaltungen sind, in diesen Arenen der Antike haben sie ihren Ursprung, denn anders als griechische Rennen, wo es um den sportlichen Wettstreit geht, steht im römischen ‹Circus› die Unterhaltung des Publikums im Vordergrund. Nelsons ‹Momente der Weltgeschichte› laden dazu ein, die Innenseite dieser Momente zu fassen, dort wo die Geschichte sich aus dem zeitlichen Lauf hebt und weit in die Zukunft strahlt.

Philip Nelson, Die Geburt Griechenlands, 2024, 100 × 80 cm

Nicht ich, sondern die Bilder

«Wenn Interessierte dein Atelier besuchen, ahnst du dann, wer zu welchem Bild findet?» Philip: «Manchmal bin ich mir ziemlich sicher, er wird dieses Bild kaufen. Das gilt besonders für Kunstsammler. Aber ich sage nie ein einziges Wort, weil das für mich eine Sünde ist. Da würde ich meine Inspiration brechen. Es ist oft rätselhaft, wie Bilder zu Menschen finden. Einmal sah jemand in der Zentralschweiz in einer Taverne ein Bild von mir auf einem Plakat und war gebannt. Zwei Jahre später hat er meinen Namen gehört in Basel und mich gesucht, wochenlang. Dann kam er ins Atelier und – das Bild war nicht verkauft, es war noch im Atelier. Er hat das Bild gesehen und es hat auf ihn gewartet, drei Jahre lang. Das habe ich oft erlebt. Ich empfinde mich als das Zentrum von Inspirationen, aber diese Inspirationen, die gehören nicht mir.»

Wenn mir Philip Nelson von früheren Treffen erzählt, auch in größerer Runde, dann wird mir die Leistung seines fotografischen Gedächtnisses bewusst. Wer wo am Tisch saß und welche Farbe die Kleidung hatte, all das kann er sich vor das innere Auge stellen und dabei auch aus dem Stegreif das Datum hinzufügen. Ob diese Bilder präsent seien, oder ob er sie erzeugen müsse, frage ich. «Nur wenn jemand mich fragt oder danach fragt oder wenn es einen Grund gibt, ein Bild hervorzurufen, tue ich es.»

Immer wieder ist im Gespräch mit Philip von Seriosität, von innerer Verantwortung die Rede. «Ist Seriosität die Medizin für unsere Zeit?» Philip Nelson: «Ja, ich denke, Europa geht auseinander; was zusammengehalten hat, hat seine Kraft verloren. Ich habe keine Angst. Ich tue, was ich kann.» «Du malst häufig Kinder, Jugendliche oder Erwachsene, das Alter finde ich nicht auf deinen Bildern.» Philip Nelson: «Ich glaube, ich bin 25 000 Jahre alt, aber das Kind in mir lebt immer noch, und es ist neun oder zehn Jahre alt. Es spielt und ist unendlich seriös.»

«Absolut, und Kinder sehen, wenn jemand lügt. Sie sind faszinierend für mich. Sie sind noch spirituell. Sie glauben, dass wir alle als gute Menschen auf die Erde kommen, das merkst du ja, wenn du mit Kindern spielst. Sie können einen kleinen Stein nehmen und spielen stundenlang damit. So war ich auch als Kind. Ich bin in der Wüste aufgewachsen. Habe mit Skorpionen und Klapperschlangen gespielt. Schade, dass wir uns damals nicht getroffen haben, wir hätten viel Freude gehabt.»

Philip erzählt, dass er 200 Kinder und Jugendliche gemalt hat und dass beinahe all diese Bilder verkauft sind. «Die Leute mögen diese Jugendlichkeit und Frische – Menschen, die in einer Taverne sitzen und tanzen. So etwas habe ich ja gemalt, aber keine einzige ältere Person.» «Ist das die Liebe zum Leben?» Nelson: «Ja, ich glaube, schon. Ich liebe das Leben.»


Ausstellung der Bilder vom 13. Okt. bis 17. Nov., Sonntags 13 bis 18 Uhr oder nach tel. Vereinbarung. Atelierhaus Brunnweg 3, CH-4143 Dornach.

Titelbild Philip Nelson in seinem Atelier, Foto: W. Held

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