Transgender ist keine Krankheit

Kinder und Jugendliche wissen früh, mit welchem Geschlecht sie sich identifizieren. Damit sie ein gesundes und erfülltes Leben führen können, braucht es achtsame Begleitung.


Vieles hat sich im Umgang mit Transmenschen und insbesondere der Beachtung ihrer Selbstbestimmungsrechte angesichts der offener gewordenen Community verändert. Zunehmend outen sich Menschen aller Altersgruppen, die sich in ihrem Körper mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht nicht zugehörig fühlen (‹Transidente› oder ‹Genderfluide›). Dies hat einerseits wohl mit der besseren Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit, andererseits mit dem Zugang zu Informationen, nicht dagegen mit einer tatsächlichen Zunahme der Fälle zu tun. Wir müssen dieses Thema für Nichtbetroffene verstehbar machen und lernen, mit dieser Thematik wertschätzend umzugehen.

Zunächst: Die ‹Varianten der Geschlechtsentwicklung› meinen ein großes Spektrum von Besonderheiten auf unterschiedlichen Ebenen: chromosomale, gonadale und phänotypische Geschlechtsvarianten. Diese unter ‹disorders or differences of sex development› (DSD) zusammengefassten Diagnosen sind mit weniger als 5:10 000 seltene angeborene Erkrankungen.1 Diese Menschen sind, ebenso wie transidente Menschen, erheblich in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt, bis ein geeignetes Verständnis, eine Diagnose und geeignete Behandlung vorhanden sind.

Deutlich von DSD zu unterscheiden sind die seelischen Besonderheiten der Geschlechtsidentität. Die selbst erlebte Identität steht dann in Diskrepanz zu der biologisch definierten Geschlechtszuordnung. Oft sprechen Betroffene aus Furcht vor Ausgrenzung, Stigmatisierung oder Unkenntnis lange nicht über ihre Besonderheit. Übrigens kann ein Mensch jeglicher Geschlechtsidentität (und auch bei DSD) mit unterschiedlichsten sexuellen Orientierungen (hetero-, bi-, homosexuell) leben.

Die Geschlechtszugehörigkeit wird von Kindern oft früh gefühlt, auch die Eltern merken im Vorschulalter bereits ‹einen Unterschied›, doch häufig werden erst in der frühen Pubertät Worte dafür gefunden. Das soziale Gefüge aus Eltern, Peergroup, Freundin/Freund, Schulkontext, kulturellem/religiösem Hintergrund beeinflusst zwar zeitweise das identitäre Verhalten von Kindern/Jugendlichen, aber nicht nachhaltig die Geschlechtsidentität. 2,6 bis 4 Prozent der Jungen und 5 bis 8,3 Prozent der Mädchen verhalten sich zeitweilig wie das andere Geschlecht2 3 und etwa 1 Prozent der Jungen, 2,5 Prozent der Mädchen wünschen sich vorübergehend, dem anderen Geschlecht anzugehören4. Die erhebbaren Zahlen sind kaum verlässlich und sehr ungenau. In meiner recht großen Transgender-Sprechstunde betreue ich in den letzten Jahren erheblich mehr Transmänner (Mädchen, die sich als Jungen fühlen) als Transfrauen (Jungen, die sich als Mädchen fühlen). Häufig kann bereits bei der ersten Vorstellung das benannte Zugehörigkeitsgefühl nachvollzogen und von den Eltern bestätigt werden. In einzelnen Fällen gelingt die Beurteilbarkeit nicht gleich, sodass zum Abwarten geraten wird. Die entscheidende Frage für einen Beginn mit hormoneller Therapie ist: Wie verlässlich ist das Gefühl, im falschen Körper zu sein?

Entwicklungsschritte der Geschlechtszugehörigkeit

Heute gehen wir davon aus, dass sich die Geschlechtszugehörigkeit bei Kindern bereits zwischen ihrem dritten bis fünften Lebensjahr ausbildet. Es kann sich in der Entwicklung noch ändern. Mit 12 bis 16 Jahren ist in der Regel die endgültige identitäre und sexuelle Orientierung der Kinder festgelegt – es sei denn, es gibt aus gesellschaftlich-sozialem Moralverständnis heraus Hürden dafür. Wenn sich jemand seelisch anders erlebt als das bei Geburt zugeordnete Geschlecht, gibt es zwei Problembereiche: 1. Das unerträgliche, subjektive Gefühl, im falschen Körper zu sein. 2. Das schmerzhafte Unverständnis der Bezugspersonen. Meist bessert sich die subjektive Belastung bereits mit Beginn der Hormonbehandlung. Je nach Alter und Entwicklungsstand wird in Absprache mit den Betroffenen erst ein Hormonblocker und im zweiten Schritt das gegengeschlechtliche Hormon verabreicht. Eine hormonelle Therapie vor oder zu Beginn der Pubertät verhindert die Ausprägung der äußeren (unerwünschten) Geschlechtsmerkmale, eine spätere Behandlung ist schwieriger. Eine operative Geschlechtsumwandlung kann später folgen. Es ist wichtig, sich sorgfältig über Operationsmethoden und erfahrene Kliniken zu informieren, da das Ergebnis lebenslang zufriedenstellend sein soll. Die der Behandlung vorausgehende Diagnostik berücksichtigt die Selbsteinschätzung, Verhaltensbeobachtungen durch das soziale Umfeld und eine eingehende kinderendokrinologische Diagnostik mit Geschlechtshormon- und Chromosomenbestimmung. Letztere dient zum Ausschluss somatischer Störungen der Geschlechtsentwicklung und zur Einschätzung der Risiken der Hormontherapie. Die Familie wird sorgfältig über den Stand der Forschung und die Behandlung aufgeklärt und unterstützt, um Unsicherheiten hinsichtlich der Geschlechtsidentitätsentwicklung auszuhalten. Den therapeutischen Maßnahmen muss eine psychotherapeutische Mitbeurteilung vorausgehen, für operative Eingriffe bedarf es medizinischer Gutachten und des Einverständnisses der Krankenkassen. Die Indikation wird durch eine einmütige Entscheidung im Team mit der Familie gestellt. Das ergebnisoffene therapeutische Gespräch hat die notwendige diagnostische Sicherheit zum Ziel und dient zum Ausschluss möglicher Differenzialdiagnosen, Psychosen und anderer psychiatrischer Diagnosen, die Bedeutung für und Einfluss auf die Behandlungsentscheidung haben. Manche Betroffene entscheiden, lebenslang in dem diversen Geschlecht oder in ihrem physisch vorgegebenen Körper zu leben und die Diskrepanz auszuhalten. Die Selbstbestimmung der eigenen Identität erlaubt die freie eigene Entscheidung, was sich angemessen anfühlt. Dem kommt in Deutschland das neue Selbstbestimmungsgesetz, gültig ab November 2024, nach, durch welches sich ein Mensch, auch im Jugendalter, für seine Geschlechtsidentität frei entscheiden kann.5 Personenstands- und Namensänderung erfolgen dabei durch das Familiengericht. Eine späte Diagnose bzw. Klärung bei Besonderheit der Geschlechtsentwicklung scheint ein seelischer Belastungsfaktor für Betroffene zu sein, da die Ambivalenz und fehlende Authentizität das Lebensbild erschweren. Menschen haben ein Recht, anders zu sein. Deshalb kann es heute das gesellschaftliche Ziel sein, aus einer binären zu einer nicht binären Gesellschaft mit geschlechtlicher Vielfalt zu wachsen. Gesellschaftlich ist die Begegnung mit Transmenschen von ambivalenter Neugier und kontroversen Einstellungen geprägt. Transidente Menschen werden mit konventionell-traditionellen Restriktionen, moralischen und ideologischen Hürden konfrontiert, die die freie Entfaltung eines Individuums behindern. Vermutungen, dass es sich um eine psychologische Dysfunktion handele – aus der Perspektive einer binären Geschlechtlichkeit –, sind in zahlreichen Ländern ungebrochen. Rudolf Steiner hatte für seine Zeit fortschrittliche Denkansätze. Im anthroposophischen Menschenbild mit physischem, ätherischem, astralischem Leib und dem Ich-Bewusstsein erachtete er die binäre Sichtweise als geschlechtlichen Gegensatz als unzureichend, stattdessen müsse man von männlichen und weiblichen Eigenschaften sprechen.6 «Steiner führt aus, dass das Geschlecht und seine Evolution untrennbar mit dem spirituellen Fortschritt der Menschheit verbunden sind. Ursprünglich ein Hermaphrodit, half die Entwicklung der Geschlechter dem Menschen, seine Individualität auszubilden, indem er das Selbst und das Andere wahrnehmen konnte. In unserer heutigen Zeit, in der wir uns vom binären Rahmen der Geschlechter entfernen, betrachten wir das menschliche Geschlecht in einem Kontinuum und bewegen uns zu größerer individueller Freiheit hin zu einem Verständnis für nicht durch das Geschlecht determinierte universelle menschliche Erfahrungen.»7

Skizze: Fabian Roschka

Soziale Aspekte der Geschlechtsidentitätsentwicklung

Kinder und Jugendliche, die sich mit Fragen zur Geschlechtsidentität in einer endokrinologischen oder psychologischen Sprechstunde erstmals vorstellen, haben oft belastende soziale Erfahrungen gemacht. Dank der medialen Möglichkeiten konnten sie sich über das Thema informieren und sogar Kontakt zu anderen Betroffenen aufnehmen. In ihrem Alltag sind grundlegende Fragen zu bewältigen wie zum Beispiel, ob eine geschlechtsneutrale Toilette in den Schulen eine einfache, aber sehr hilfreiche Unterstützung wäre. Aufregend ist es für die sich entwickelnden Jugendlichen, den Zeitpunkt zu finden, um mit den Eltern, dem Freundeskreis, den Lehrkräften darüber zu sprechen. Das gelingt leichter und eher, wenn der Druck durch das Umfeld geringer ist oder es noch andere Menschen mit gleicher Orientierung gibt. Die Vermutung, dass sich manche Menschen wegen der damit verbundenen Aufmerksamkeit so entscheiden, lässt sich so gut wie nicht verifizieren. Und nur 1 bis 2 Prozent der vollzogenen Geschlechtsumwandlungen werden in den folgenden Jahren rückgängig gemacht.8 Die Spannung zwischen eigenem Körpererleben, dem Fremdbild und dem Wunsch des eigenen Seins bleibt für Betroffene ein lebenslanger Identitätsfindungsprozess. Die jungen Menschen bedürfen in dieser sensiblen Phase einer feinfühligen, achtsamen Begleitung und der Akzeptanz des geschlechtlichen Besondersseins, um sie auf ein Leben als gesunde Menschen in ihrer Besonderheit vorzubereiten. Dazu gehört, dass professionelle Begleitpersonen sich eine geschlechtssensible Sprache aneignen. Die geplante neue S3-Leitlinie Geschlechtsdysphorie für Kinder und Jugendliche, die voraussichtlich 2024 fertig wird, ist mit einem Paradigmenwechsel im Sinne der Entstigmatisierung Betroffener verbunden.9 Die Begriffe der ‹Geschlechtsinkongruenz› und ‹Geschlechtsdysphorie› werden nicht mehr als eine psychische Erkrankung verstanden, sondern die Geschlechtsdysphorie hat nur als subjektives Leiden einen Krankheitswert. Dies ist heute in spezialisierten Fachkreisen bereits fester Standard. Der früher notwendige ‹Alltagstest› und eine einjährige Psychotherapie sind nicht mehr erforderlich.

In vielen Ländern ist bereits seit Jahren die Psychopathologisierung dieses Phänomens der Entpathologisierung gewichen. So wird es für Betroffene leichter, dass Außen- und Innensicht mit der Entwicklung zunehmend zusammenpassen. Ziel einer Transformationsbehandlung ist die nachhaltige psychische und somatische Gesundheit. Das bedarf einer gesellschaftlichen Entstigmatisierung. Für die Eltern ist wichtig, zu verstehen, dass sie die Gefühle ihres Kindes nicht ändern können – denn diese prägen sich schon in den ersten Lebensjahren aus. Das Risiko für sie besteht darin, den Anschluss an ihr Kind zu verlieren. Der heute leitliniengerechte Behandlungsansatz lautet: ‹Sag, wie du sein willst. Sei es einfach. Welche Hilfe brauchst du dazu?›

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Footnotes

  1. Ute Thyen et al., Epidemiology and initial management of ambiguous genitalia at birth in Germany. Horm Res 2006; 66, S. 195–203.
  2. KennethJ. Zucker et al., Sex ratio of boys with gender identity disorder. Child Psychol Psychiatry. 1997.
  3. Frank C. Verhulst et al., Factors associated with child mental health service use in the community. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry. 1997.
  4. KennethJ. Zucker et al., Sex ratio of boys with gender identity disorder. Child Psychol Psychiatry. 1997.
  5. Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag SBGG. Siehe: Bundesministerium der Justiz.
  6. Siehe: Rudolf Steiner, Aus der Akasha-Chronik. Kapitel: Die Trennung in Geschlechter. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2018.
  7. Jack Palmer, Verstehen und Erziehen von Transgender-Jugendlichen an Waldorfschulen.
  8. Bernd Meyenburg, Geschlechtsdysphorie im Kindes und Jugendalter. Kohlhammer, Stuttgart 2020.
  9. Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). S3-Leitlinie Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung. Registernummer 028–014 (eingereicht, Neufassung 31.3.2023).

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