Theater und Schauspielkunst der Zukunft

Im Verlag Edition Immanente in Berlin hat Ulja Novatschkova ein Buch veröffentlicht, das einen aus dem Staunen nicht mehr herauskommen lässt: ‹Michael Tschechows 16 Lektionen in Kaunas›. Es ist dreisprachig aufgelegt: in Deutsch, Englisch und Russisch.


Dieses Buch lässt sich nicht lesen. Die Lesenden müssen es innerlich tun und erüben. Und will man es dann wieder verlassen, gelingt das gar nicht leicht, denn in ihm lebt eine ganz eigenartige Herzenssprache zwischen erzählenden Theatermenschen. «An was glauben Sie, dass Sie so spielen können?», so fragten laut Margarita Woloschin1 die Bewunderer des Schauspielers im Moskau der 1920er-Jahre. Als sie selbst ihn zufällig in Berlin auf der Straße trifft, ruft Tschechow ihr zu: «Ich war in der Motzstraße und habe ‹sein› Bild erworben.» Er meinte ein Bild von Rudolf Steiner. Mit der Anthroposophie war er schon in Moskau vertraut geworden und er begegnete Steiner 1922 in Berlin und 1924 in Arnheim/Holland.

Der 1891 in St. Petersburg Geborene besucht dort bereits mit 16 Jahren die Schauspielschule Suworin. 1913 wird er in Moskau dem berühmten Konstantin Stanislawski vorgestellt, der sofort Tschechows schlummerndes Genie erkennt und ihn für das Moskauer Künstlertheater MChAT engagiert.2 Seine spirituelle Auffassung führte dazu, dass er 1928 emigrierte und als Schauspieler, Lehrer und Regisseur ein weitläufiges Wanderleben in Wien, Berlin, Prag, Riga, Kaunas und London führte. Max Reinhardt äußert über ihn: «Ein Stern in unmittelbarer Nähe des Herzens».

1935 erlebt ihn die Schauspielerin Beatrice Straight in einem Broadway-Gastspiel in den USA und bewegt ihn, eine Schauspielschule und ein Theater in Süd-England zu begründen, das Chekhov Theatre, wo er weiter an einem ‹Theater der Zukunft› arbeitet. 1938 verlegt er das Chekhov-Studio in die Vereinigten Staaten, in die Nähe von New York. Von hier aus gehen seine Studenten und Studentinnen als ‹Chekhov Players› auf Tournee, bis der Weltkrieg ausbricht und das Studio schließen muss. Aus wirtschaftlichen Gründen schließt er einen Filmvertrag mit Hollywood, ist aber auch weiter als Schauspiellehrer tätig und leitet von 1947 bis 1950 das Akim-Tamiroff-Studio. Er stirbt plötzlich und unerwartet am 30. September 1955 in Beverly Hills, bis zuletzt in die Mysteriendramen Rudolf Steiners vertieft, wie es heißt.

Die jetzt in drei Sprachen vorliegenden Lektionen in Kaunas/Litauen erschienen zuerst 1989 im Gitis-Verlag in Moskau im Druck. Es sind 16 Lehrstunden mit jeweils eingeflochtenen Übungen zum Trainieren von Imaginationskraft, Bewegungskunst, Rhythmus, Musikalität, Wahrnehmung und Zusammenarbeit, die aus der Erfahrung und Erfahrbarkeit des inneren, höheren Menschen in uns gespeist sind. «Wir müssen unser Denken entdecken, lenken und formen, dann wird die Plage unseres Jahrhunderts, die Katastrophe des Denkens, zu einem Heilmittel unserer Kreativität», heißt es in der 16. Lektion. In der 11. Lektion entwickelt der Schaupiellehrer anhand von fünf farbigen Wandtafelzeichnungen, die im Buch enthalten sind, in frappierender Weise die verborgene Wesenheit des dreigliedrigen inneren Menschen und das Zusammenwirken von Persönlichkeit und Individualität. Ergänzt werden die Lektionen in der jetzigen, dreisprachigen Ausgabe durch den 15-seitigen Brief des Autors von 1933: ‹Atmosphäre. An das Kollektiv des Litauischen Staatstheater-Studios›. Er schreibt dort: «Die Seele der Aufführung (wir werden heute darüber sprechen) ist die Atmosphäre, in der die Aufführung fließt und strahlt.» Beigegeben sind dieser Publikation noch die denkbar lebendigen Erinnerungen ‹Mein Kaunas-Text› der dänischen Regielegende Per Brahe (*1952) an seine erste Reise nach Moskau 1989 mit 18 Holzmasken und seiner Begegnung mit dem Tschechow-Impuls und dem Geschenk der gerade veröffentlichten Kaunas-Lektionen, die er dann ins Dänische übersetzen lässt. Auch der Beitrag von Aldona Adomaitytė und Aleksandras Guobys ‹Michael Tschechow und das Litauische Theater› gewährt tiefe Einblicke.

Die Vorstellung des Buches im Theaterforum Kreuzberg in Berlin am 23. August 2025 zur Eröffnung der Internationalen Konferenz der Tschechow-Akademie mit 100 Teilnehmenden aus allen Himmelsrichtungen durch Jörg Andrees und die Verlegerin geriet zu einer Feierstunde für die Zukunftsimpulse des großen Theatermenschen und Lehrers. Seine Saat geht weiter auf und die Brückenschläge werden belebt. Am 27. September 2025, 20 Uhr, stellten die Herausgeber Amina Zhaman und Jörg Andrees die Neuerscheinung in Moskau vor.


Buch Dr. Amina Zhaman, Jörg Andrees (Hrsg.): Michael Chekhov / Michael Tschechow / Михаил Чехов / 16 Lessons in Kaunas / 16 Lektionen in Kaunas / Уроков в Каунасе – 1932. Dreisprachige Ausgabe: EN, DE, RU. Edition Immanente, Berlin 2025

Fußnoten

  1. Margarita Woloschin in: Die grüne Schlange. Stuttgart 1954, zit. nach M. Kannenberg Rudolf Steiner in Berlin. 2014, S. 104.
  2. Siehe hierzu besonders Jobst Langhans in: Stiftung Kulturimpuls.

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