Vor einhundert Jahren erschien Thomas Manns ‹Der Zauberberg›. Seine Brisanz zeigte sich bei den diesjährigen Salzburger Festspielen, wo Altmeister Krystian Lupa, einen fünfstündigen ‹Zauberberg› als apokalyptisches Endzeitszenario auf die Bühne gezaubert hat. Was will uns das sagen?
«Damit ein bedeutendes Geistesprodukt auf der Stelle eine breite und tiefe Wirkung zu üben vermöge, muß eine geheime Verwandtschaft, ja Übereinstimmung zwischen dem persönlichen Schicksal seines Urhebers und dem allgemeinen des mitlebenden Geschlechtes bestehen. Die Menschen wissen nicht, warum sie einem Kunstwerke Ruhm bereiten.» Im selben Jahr, als Thomas Mann diese Sätze in der Novelle ‹Der Tod in Venedig› niederschrieb, erfolgten die ersten Eindrücke in Davos, die zwölf Jahre später als ‹Der Zauberberg› vor die Welt traten. Die geheime Übereinstimmung von Zeittendenz, der Sorge um Europa und dem Grundbefinden des Menschen mit dem Wesen der sich entwickelnden Zeitepoche war gegeben und entfaltete sich in zwölfjähriger Inkubationszeit.
Geheime Verwandtschaft
Die geheime Übereinstimmung zwischen Autor und Publikum besteht meines Erachtens in mindestens dreifacher Beziehung. Erstens fühlt und sieht Thomas Mann seit der Jahrhundertwende das Ende des großbürgerlichen Lebensgefüges in Ost und West kommen. Zweitens ahnt er, dass mit dieser Schwelle neue Erfahrungsräume aufgestoßen würden, die bewusst oder unbewusst vom modernen Menschen zu betreten seien. Drittens erreichen ägyptische Mysterien und Motive im künstlerischen Prozess eine neue Erhöhung respektive Vertiefung, die sich in früheren Werken bereits angekündigt haben und sich in den nachfolgenden noch deutlicher aussprechen.
Bereits im Vorwort wird ausgesprochen «[…] ehedem, in den alten Tagen vor dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat.» Die neuen Erfahrungsräume sind selber wieder dreifache. Erstens ein gesteigertes Wahrnehmen vom Phänomen und der Relativität der Zeit, weswegen das Buch als Zeitroman gelesen werden kann. Zweitens ein Aufzeigen, dass in vielfach schwierigen Zeiten polarisierende, einfache Urteile nicht mehr weiterführen. Schließlich drittens liegen der inneren Struktur sieben hermetische Steigerungsstufen auf dem Muster alter Initiations- und Ritualsprache zugrunde. Deshalb kann der ‹Zauberberg› auch als Initiationsbuch gelesen werden und wird es zunehmend, worauf bereits Lotti Sandt hingewiesen hatte.1
Mehr und weniger als denken
Hat der Autor das alles gewusst und mit Bewusstsein in das Werk eingebracht? Er hat es nicht. Aber nur unbewusst eben auch nicht. Hier waltet die ‹geheime Verwandtschaft› von Zeitepoche, Publikum, eigener Produktivität und künstlerischer Meisterschaft schlechthin, wovon bereits 1912 die ahnungsvolle Rede war. Fünfzehn Jahre nach Erscheinen des Romans, vor Studenten in Princeton USA, gibt Thomas Mann eine Einführung in den ‹Zauberberg›: «Nicht umsonst auch spielen die Freimaurerei und ihre Mysterien so stark in den Zauberberg hinein, denn die Maurerei ist der direkte Abkömmling der alten Initiationsriten; mit einem Worte: Der Zauberberg ist eine Abwandlung des Tempels der Initiation, eine Stätte der gefährlichen Forschung nach dem Geheimnis des Lebens, und Hans Castorp, der Bildungsreisende, hat eine gar vornehme mystisch ritterliche Ahnenschaft. Er ist der typische, im höchsten Sinn des Wortes neugierige Neophyt. Hans Castorp als Gralssucher? Sie werden das nicht gedacht haben, als Sie seine Geschichte lasen. Und wenn ich selbst es gedacht habe, so war es mehr und weniger als denken […].»2
Dass die Figur, die eben kein Romanheld ist, Castorp heißt, mag mehrere Gründe haben. Hans ist nicht außerordentlich. In Castorp klingt Castor, lateinisch der Biber, an, und schon früh hatte der Autor einige seiner Werke als «meinen Biberbau» bezeichnet. Mehr noch: Hans fährt nach Davos, um dort seinen Vetter im Sanatorium zu besuchen, bleibt aber sieben Jahre dort und überlebt dort gar den Vetter: Sie bilden ein Zwillingsgestirn, Castor und Pollux. Warum ist er kein Romanheld? Thomas Mann nennt ihn einen armen Hund, wie Goethe einst seinen Wilhelm Meister, weil er eine nicht handelnde und erfahrende, sondern den Verhältnissen ausgesetzte und sich in ihnen steigernde Person ist. Dieser moderne Roman braucht keinen Helden mehr, und so heißt es denn auf der letzten Seite: «Lebewohl, Hans Castorp, des Lebens treuherziges Sorgenkind! Deine Geschichte ist aus. […] Wir haben sie erzählt um ihretwillen, nicht deinethalben, denn du warst simpel […].» Und setzt voran: «Sie war weder kurzweilig noch langweilig, es war eine hermetische Geschichte.»
Hermetik und Hermes
Längst war Hermes eine Leitfigur für Thomas Manns Schaffen. Das beginnt in frühen Novellen, wird formbildend in den Josephsbänden, tritt im Hochstapler Felix Krull zum letzten Mal hervor. Hermes, als Vermittler der Sphären, als Heiler, als Schelm und als Führer ins Totenreich. Alle kommen im ‹Zauberberg› ins Spiel. Hans Castorp zwischen sämtlichen pädagogischen und ideologischen Einflüsterungs- und Beeinflussungsversuchen. Hans Castorp als schelmisch Fragender gegenüber bewährten Fachkompetenzen, Ärzten, Theologen, Psychologen, Freidenkern. Hans Castorp als interessiert Beflissener um Verständnis von Krankheit, Heilung, Gesundheit. Hans Castorp, der gar nicht nach Davos Aufgestiegene, sondern ins Totenreich Abgestiegene: «Welche Kühnheit, hinab in die Tiefe zu steigen, wo Tote nichtig und sinnlos wohnen, wir sind tief gesunkene Wesen, nicht wahr, Leutnant.» – worauf der Vetter ohne weitere Tiefenperspektive antwortet: «Wir sind wohl wirklich etwas versimpelt.» Womit der simple Held und die versimpelten Patienten über einen Raum von 1000 Seiten miteinander hermetisch verkoppelt wären. Nichtig, sinnlos, tot erscheint hier ein Leben, in dem nichts mehr sich entwickelt, und das ist bei den meisten im hermetischen Raum des Sanatoriums der Fall, wenn auch auf vergnügte und versimpelte Weise, vergleichbar mit Eingemachtem in Weckgläsern, worin, hermetisch verschlossen, das Kompott zwar nicht verwest, aber auch nichts mehr entfaltet: das tote Leben.
Polaritäten, Steigerung
Das meist gelesene und rezitierte Kapitel ist ‹Schnee› im sechsten Teil. Wie noch nie in der Literaturgeschichte schneit es hier, schneit es seitenweise, schneit es meterhoch, schneit es tagelang. Hans bricht auf, auf Skiern verlässt er den hermetischen Sanatoriumsbereich, wagt eine Schneetour auf Brettern, verirrt sich, kommt schier ums Leben, verliert Raum und Zeit dabei, geht durch eine eigentliche Initiation. Der Neophyt, der Mysterienschüler erkennt hier eine ganze Welt: die Illusion verstreichender Zeit, die sich täuschend verkürzt; die Illusion der Bewegung im Raum, die nur ein Gang im Kreis war; die Illusion, man könne dabei seine Imaginationen noch meistern. Diese Imaginationen spielen sich ab wie eine hybernische Einweihung: blühende Frühlingsgestade in Duft, Farben und Lieblichkeit; kristalline Schneesterne in tödlichem Eis und erstarrter Landschaft des Erstorbenen; hässlich böse Elementarhexen im Zerfleischen und Verzehr eines kleinen Kindes. Nicht erst hier, aber hier im Besonderen, steigen Bilder auf aus Andersens Schnee-, Eis und Prinzessinnenmärchen. Wie auch gegen Ende die astrale Beschwörung eines Verstorbenen nur mittels eines Mediums aus Odense/Fünen gelingen kann, dem Geburtsort Andersens. Diese märchenhafte Schicht hat meisterhaft Michael Maar erforscht,3 gleichzeitig die tiefen Wurzeln offengelegt, die Mann mit H. C. ( H. C.!) Andersen verknüpfen bis in die Kindertage hinab. Diese Initiation ist inneres Zentrum der Erfahrungen im Tempelraum, führt zum einzigen kursiv geschriebenen Satz im Buch. Und doch: Am Ende wird es heißen: «Was er geträumt, war im Verbleichen begriffen. Was er gedacht, verstand er schon diesen Abend nicht mehr so recht.»
Freimaurer und Jesuit
Die den ganzen Text durchziehende geschichtliche, politische, soziologische Polarität ist die, welche jeweils Einfluss auf Hans Castorp zu nehmen sucht, am Ende durch eine überraschende Steigerung aber ausgehebelt und entkräftet erscheint. Es ist die drastischste und härteste Polarität, die im ‹Zauberberg› zutage tritt neben der von Tod und Leben, Krankheit und Gesundheit.
Rudolf Steiner hat in einem bekannten Vortrag in Berlin über Wurzeln und Fortwirken des Manichäismus gesprochen. Nach Schilderung der Vernichtungsprozesse durch die damalige Kirche arbeitet er zwei sogenannte Strömungen heraus, die er auf Augustinus und die Manichäer zurückführt, aber als einen noch immer vorhandenen Gegensatz darstellt. Nach seiner Schilderung stehen sie sich in späteren Jahrhunderten gegenüber als Jesuitismus (Augustinismus) und Freimaurerei (Manichäismus).4 Das sind die Kinder der alten Geistesströmungen.
Im ‹Zauberberg› entpuppen sich die genannten Einflüsterer und ‹Influencer› als ein Freimaurer und ein Jesuit. Der eine verkündet die Weltrevolution zu befreiender Humanität, der andere Unterwerfung und Vernichtung des Menschen mit den für 1924 elektrisierenden Worten: «Nicht Befreiung und Entfaltung des Ich sind das Geheimnis und das Gebot der Zeit. Was sie braucht, wonach sie verlangt, was sie sich schaffen wird, das ist – der Terror.»
Gewürzt mit Ironie
Sein Leben lang hatte Thomas Mann daran festgehalten: Nur durch die Würze der Ironie seien große Stoffe erträglich und trügen höhere Heiterkeit in sich. Sonst drohe der Sturz ins Pathos, im Publikum verbreite sich gähnende Langeweile. Parodistische Elemente sollten schon Goethes ‹Wilhelm Meisters Lehrjahre› vor eben diesem Pathos schützen. Die Schlegels schrieben von der «Ironie, die über dem ganzen Werke schwebt». Thomas Mann bezeichnete die Ironie überhaupt als den «künstlerischen Grundgestus Goethes», etwa im Essay ‹Goethe und Tolstoj›. Im Zauberberg ist Ironie allgegenwärtig. Da hält ein Psychoanalytiker einen Vortrag über Liebe und Krankheit. Alles klingt todernst; der Referent fragt sein Auditorium, in welcher Form denn unterdrückte Liebe wieder erscheine? Er blickt die Reihen entlang, als erwarte er ernstlich eine Antwort. «Ja, das mußte er nun auch noch selber sagen, nachdem er schon so manches gesagt hatte. Niemand außer ihm wußte es, aber er würde bestimmt auch dies noch wissen, das sah man ihm an. Schließlich: Das Krankheitssymptom sei verkappte Liebesbetätigung, und alle Krankheit verwandelte Liebe. Nun wußte man es, wenn auch wohl nicht alle es ganz zu würdigen vermochten.» Und so hundertfach: gewürzter Ernst.
Vortrag und Lesung Marcus Schneider & Gabriela Świerczyńska, Zauberberg, Hermetische Stufen einer Einweihung, 2 CDs Sentovision.
Bild Szene aus ‹Der Zauberberg›, Regie: Krystian Lupa. Salzburger Festspiele 2024: Aistė Rocevičiūtė (Alfreda Schildknecht ‹Schwester Bertha›), Valentinas Masalskis (Hofrat Behrens), Viktorija Kuodytė (Mutter), Matas Dirginčius (Joachim Ziemßen). © SF/Konrad Fersterer
Footnotes
- Lotti Sandt, Mythos und Symbolik. Haupt Verlag, Bern 1979.
- Thomas Mann, Gesammelte Werke, Rede und Antwort, ‹Einführung in den Zauberberg›. Fischer, Frankfurt/Main 1984.
- Michael Maar, Geister und Kunst. Carl Hanser 1995.
- Rudolf Steiner, Der Manichäismus, Tempellegende. GA 93, Rudolf Steiner Verlag 1979.
Ich freue mich an diesem hochinteressanten und aufschlußreichen Beitrag, der mir den Zauberberg und seine unterschiedlichen Ebenen wieder neu erschließt. Bewußt und unbewußt, die neuen und alten „Influencer. Die Polarität vor hundert Jahren, Befreiung und Terror. Wir wissen, was kam. Und die geheime Übereinkunft zwischen Autor und Publikum in ihren Facetten. Alles bringt Marcus Schneider mir ins Bewußtsein.