Stadt der nachhaltigen Träume

Singapur hat den Ruf, die grünste Stadt der Welt zu sein. Beeindruckende Fotos von Visionen für ihre grüne Zukunft finden sich im Internet. Aber wie echt ist dieses Grün? Der Schein trügt bei genauerem Hinsehen. Oder aber man sieht die innewohnenden Möglichkeiten. Ein realistischer Entwurf für eine biodynamische Stadt von Walter Siegfried Hahn.


Singapur hat im Vergleich zu vielen anderen Städten in der Region den Ruf einer ‹grünen Stadt›. Von der Gartenstadt in früheren Jahren entwickelte es sich zu einer ‹Stadt im Garten›. Im Bestreben der Regierenden soll es in Zukunft zu einer ‹Stadt in der Natur› werden. In vieler Hinsicht bietet Singapur seit Jahrzehnten Orientierung für Länder in Südostasien und darüber hinaus. Doch dieses Grün ist nicht nachhaltig, weil es nur oberflächlich grün, fragmentiert und aus der ganzen Welt geborgt ist. Es wird durch eine Menge nicht grüner Inputs grün gehalten. Die Flora im öffentlichen und privaten Raum wird durch ständige Anwendung von Düngemitteln und Pestiziden am Leben erhalten, die von außerhalb Singapurs stammen. Deren Herstellung erfordert Energie und Rohstoffe. Deren Einsatz wirkt sich negativ auf die Artenvielfalt des Landes aus. Das Gleiche gilt für die Fauna. Viele Tiere, die unter tropischen Klimabedingungen natürlich vorkommen, werden durch Pestizide eliminiert. Die Entscheidungen und Handlungen des Menschen haben dazu geführt, dass Quantität und Qualität von Fauna und Flora sowohl über der Erde als auch im Boden immer weiter abnehmen. Lebendige Böden sind die Grundlage für alles oberirdische Leben. Gesundheit, biologische Vielfalt, Stabilität und Zustand des Bodens wirken sich auf die Gesundheit der Menschen aus, die in diesem Gebiet leben, und spiegeln sich darin wider. Bekanntermaßen besteht eine direkte Verbindung zwischen dem mikrobiellen Leben des Bodens und dem Mikrobiom des Menschen.

Das ‹Grün von Singapur› reicht weit über das Land hinaus, bis nach Australien, Europa und in die Vereinigten Staaten. Während im gewöhnlichen Bewusstsein der Singapurer die Lebensmittel aus dem Supermarkt, dem örtlichen Markt oder der Restaurantküche stammen, kommen in Wirklichkeit etwa 90 Prozent aller in Singapur verkauften oder verzehrten Lebensmittel von außerhalb des Landes. Während einige aus nahe gelegenen Ländern wie Malaysia, Thailand und Indonesien stammen, kommen viele von weiter her und werden fast zur Gänze auf dem Luftweg importiert. Was im Bioladen als ‹grünes› Produkt erscheint, ist gar nicht so grün, wenn wir die gesamten ökologischen und sozialen Auswirkungen seiner Herstellung und seines Vertriebs betrachten. Die in diesem Land konsumierten Lebensmittel und der Lebensstil von Millionen von Menschen haben direkte Auswirkungen auf die Karbonisierung der Atmosphäre, den Verlust der Artenvielfalt und die Qualität und Quantität von landwirtschaftlich nutzbaren Flächen an vielen Orten. Sie haben auch direkte Auswirkungen auf die soziale, ökologische und kulturelle Gerechtigkeit in anderen Ländern. Singapur muss beginnen, seine tiefe Abhängigkeit von und Verantwortung für ländliche Räume außerhalb des eigenen Landes zu erkennen.

Regenerieren heißt vielfältiger machen

Darüber hinaus könnte Singapur zu einem echten Beispiel für Nachhaltigkeit und sogar für Regeneration werden. Mit Regeneration meine ich, jeden Ort besser zu machen, indem er vielfältiger und reicher wird. Das umfasst alle Möglichkeiten, sein Potenzial auszuschöpfen und in ein größeres Gleichgewicht zu bringen.

Bei der Suche nach der ‹richtigen› Vorgehensweise dafür geht es um nichts Geringeres als das Überleben der Stadt Singapur und allgemein der Erde. Vor Jahrzehnten verfolgte Singapur eine radikale ‹blaue› Idee – die Wiederbelebung verschmutzter Wasserwege und das Sammeln von Regenwasser zur Verbesserung der örtlichen Trinkwasserversorgung. Dieser Vorstoß, maßgeblich inspiriert durch Herbert Dreiseitl, ermöglichte, verschmutzte Flüsse zu reinigen, sauberes Wasser ins Meer zu leiten und – sehr wichtig – den Menschen die Möglichkeit zu geben, mit dem Wasser in Kontakt zu kommen und auf spielerische Weise zu erfahren, wie wertvoll, schön und wichtig es ist. Ein seit den frühen 2000er-Jahren laufendes Programm ist das ‹Active, Beautiful, Clean (ABC) Waters›. Das ABC-Programm zeigt beispielhaft, wie eine Stadt nachhaltige Wasserfragen in eine nachhaltige Planung integrieren und Grün- und Erholungsflächen um Stauseen und Kanäle schaffen kann.

In Anlehnung und Ergänzung zur ‹blauen› schlage ich eine ‹grüne› Initiative vor: eine Regeneration der gemeinsamen Erde und der Lebensmittelsysteme. Bei meiner Arbeit in Singapur für die Nationale Universität (NUS) und zahlreiche Unternehmen seit 2009 bin ich zunehmend auf Initiativen von Regierungsstellen bis hin zu Einzelpersonen gestoßen, die sich bereits mit dem einen oder anderen Aspekt eines solchen grünen Ansatzes befassen. Zum Beispiel gibt es das gemeinsame Gärtnern in Wohnblocks oder Kompostinitiativen und verschiedenste Projekte in und um die Parks. Ich selbst möchte diese Aktivitäten und Projekte um eine ‹große Perspektive› ergänzen, in der sich die Menschen hoffentlich wiederfinden und auf deren Grundlage viele weitere notwendige Initiativen und Maßnahmen gestartet werden können. Ich nenne dieses große Bild: Singapur als Landwirtschafts- und Ernährungsorganismus (englisch: SIFLI).

Wasser und Boden

Im ABC-Programm wurde zunächst die Perspektive der Beteiligten auf das große Bild gelenkt: die Wasserbewegung über, in und aus ganz Singapur und wie man mit all dem richtig umgeht. Von dort aus konnten Richtlinien für die Durchführung einzelner kleiner Projekte abgeleitet werden, zum Beispiel die Abwasserbehandlung in einem einzelnen Block oder die Wiederherstellung eines Entwässerungskanals. Bei der Planung eines Kleinprojekts betrachten die Entwickelnden das Ganze: Wie wird das Wasser in der gesamten Landfläche Singapurs und in den Wassereinzugsgebieten gesammelt, verwaltet und abgeleitet und wie kann dies mit der bestmöglichen Qualität geschehen?

Ähnlich ist der SIFLI-Ansatz. Bei der Gestaltung eines neuen Gartens, einer Siedlung oder bei der Frage, wie man seine Pflanzen auf dem Balkon behandelt, berücksichtigen die Entscheidungsträger das gesamte Landgebiet von Singapur. Was die Lebensmittel betrifft, werden auch die Orte berücksichtigt, aus denen die Lebensmittel und die Rohstoffe stammen. Und es wird die Frage gestellt, was verändert werden muss, um die Lebensmittelsysteme und das Leben in der Stadt regenerativ zu gestalten. Während jedes Land idealerweise zur Regeneration der Erde beitragen sollte, glaube ich, dass Singapur mit seinem Reichtum an gebildeten Menschen und Finanzen eine überdurchschnittliche Verpflichtung hat, zur Regeneration und Transformation der Landwirtschaft und der Lebensmittelsysteme beizutragen.

SIFLI lebt

Der vorgeschlagene Perspektivenwechsel in Bezug auf Land bedeutet, das Leben in Singapur als Ganzes zu sehen: als einzigartigen, lebenden, atmenden Organismus. In diesem Zusammenhang werden die einzelnen Komposthaufen, Nachbarschaftsgärten, Bauernhöfe, Balkone, Parks und Wasserlandschaften als Organe und Zellen dieses Organismus betrachtet. Da dieser Organismus ein einzigartiges Lebewesen ist, ist er eine Individualität: der Landwirtschafts- und Ernährungsorganismus Singapur (SIFLI). Als Individualität bin ich geneigt, SIFLI anstelle von ‹es› als ‹sie› zu bezeichnen. Sie besteht aus der mineralischen Basis aller Böden, allem Wasser, der Flora, der Fauna und den Menschen, die, bewusst oder unbewusst, den Zustand dieses Wesens und seine Erscheinung durch ihre täglichen Entscheidungen in Bezug auf Lebensmittel, Abfall und Transport sowie ihre Gewohnheiten und Lebensweisen prägen.

Was den Materialfluss (wie Lebensmittel, Rohstoffe, Düngemittel) betrifft, so erstreckt sich die geografische Reichweite von SIFLI mehr oder weniger über den gesamten Planeten. In dem Maße, in dem sich Singapur zu einer Regeneration des Landes und der Erde im Allgemeinen hinbewegt, wird SIFLI mit der Zeit zu einem System mit einer viel geringeren geografischen Reichweite, das nur die Landmasse Singapurs und die der Nachbarländer abdeckt.

Die Begriffe ‹landwirtschaftlicher Organismus› und ‹landwirtschaftliche Individualität› stammen aus der biodynamischen Landwirtschaft, die vor 100 Jahren als direkte Antwort auf die abnehmende Qualität der Lebensmittel initiiert wurde, welche aus der großflächigen Anwendung von synthetischem Stickstoffdünger aus Sprengstofffabriken nach dem Ende des Ersten Weltkriegs resultierte. Mehrere Jahrzehnte wissenschaftlicher Forschung zeigen bemerkenswerte Qualitäten der Biodynamik im Vergleich zu anderen Anbausystemen in Kategorien wie Lebensmittelqualität, Biodiversität, Systemstabilität, Integration sozialer Aspekte und mehr.

Ich plädiere dafür, dass der biodyna­msiche Ansatz in SIFLI so weit wie möglich angewandt wird, da auf diese Weise die besten Ergebnisse zu erwarten sind. Die herkömmlichen Ansätze der Landbewirtschaftung haben zu gravierenden globalen Problemen wie Klimawandel, Verlust der biologischen Vielfalt, Wasserverschmutzung und Verlust an fruchtbarem Boden beigetragen. Die Biodynamik bietet greifbare Lösungen für den Aufbau von Humus, die Bindung von Kohlenstoff im Boden, die Regeneration von Boden- und Süßwassersystemen und die Erhöhung der unter- und oberirdischen Artenvielfalt.

Realitäten und Möglichkeiten

Was wäre, wenn Singapur die erste biodynamische Stadt der Welt werden würde?

Abgesehen davon, dass ich Singapur als einen lebenden, atmenden Organismus und eine Individualität betrachte, möchte ich betonen, worauf indigene Gemeinschaften und Biodynamik schon seit Langem hinweisen: Die moderne Wissenschaft und Gesellschaft und ihre zerstörerischen Vorgehensweisen basieren auf der Vorstellung von ‹wir gegen sie›, Objektivismus statt Holismus, Subjekt und Objekt, wobei der Mensch als von der Natur getrennt – und sogar gegen sie gerichtet – betrachtet wird. Regenerative Landbewirtschaftung und ein ernsthafter Wiederaufbau des Lebens sind nur möglich, wenn wir erkennen können, dass die Menschen Teil von etwas Größerem sind: Nicht die Erde gehört den Menschen, sondern wir gehören der Erde.

Singapur wird niemals in der Lage sein, alle benötigten Lebensmittel auf seinem Territorium zu produzieren. Selbst die 30/30-Initiative der Regierung, deren Ziel es ist, bis 2030 30 Prozent der in der Stadt konsumierten Lebensmittel vor Ort zu produzieren, ist natürlich in hohem Maße auf Input von außen angewiesen. Dennoch lohnt es sich aus mehreren Gründen, die Potenziale der Lebensmittelproduktion in Singapur zu erkunden. Ein wichtiger Aspekt ist der immer größer werdende Bedarf an Bildung in Bezug auf alles, was mit Lebensmitteln zu tun hat. Bildung kann sich nicht allein auf Theorie, Informationen und Daten stützen, sondern basiert im besten Fall auf praktischer Erfahrung. Dies wäre Grund genug, die Anlage und Pflege von essbaren Gärten in Schulen und Stadtvierteln, Anbaugebiete mit Tieren sowie Lernnetzwerke zu integrieren, die durch eine gemeinsame Vision (also SIFLI) mit einem lebhaften Austausch von Materialien und Know-how verbunden sind.

Mit biodynamischen Methoden bewirtschaftete Landschaften können dazu beitragen, die lokale biologische Vielfalt zu erhöhen, die nicht nur die eingeführte, sondern auch die natürlich vorkommende Fauna und Flora umfasst. Es ist zu erwarten, dass sich die Wahrnehmung und die Einstellung der Menschen zu Lebensmitteln im Laufe der Zeit ändern werden. Das kann zu einem viel größeren Potenzial für die Lebensmittelproduktion in Singapur führen, und wir sprechen hier von Lebensmitteln mit den besten verfügbaren Qualitäten. Die Umwandlung des Stadtstaates von einer Gartenstadt in eine echte Stadt in der Natur mithilfe des SIFLI-Ansatzes wird zu einer größeren biologischen Vielfalt auf allen Ebenen des Lebens, zur Produktion besserer und größerer Mengen an Lebensmitteln und zu lebendigen Räumen für gemeinschaftliche Beziehungen und aktive Freizeitgestaltung führen.

Es ist eine enorme Aufgabe, den ökologischen Fußabdruck aller in Singapur zum Kauf und Verzehr angebotenen Lebensmittel zu ermitteln. Nur wenige Menschen in Singapur wissen oder bedenken, wie weit ihre Lebensmittel gereist sind und welche negativen Auswirkungen die globale Lebensmittelproduktion und der Transport haben. Neue Methoden wie ‹Richtig Rechnen› (nach Christian Hiss) geben Aufschluss darüber, wie teuer solche Lebensmittel tatsächlich sind. Bei diesen Methoden werden zum Beispiel auch Kosten berücksichtigt, die künftige Generationen zu tragen haben. Mit diesem Aspekt kann SIFLI Bewusstsein schaffen und die Beziehungen zwischen Konsumierenden, Produzierenden und Lieferanten von Lebensmitteln verändern. Einzelpersonen, Gruppen und Unternehmen in Singapur könnten die Wertschätzung und Unterstützung für Biodynamik, Bio- und Permakultur-Lebensmittelbetriebe in Singapur und den angrenzenden Ländern durch ‹solidarische Landtwirtschaft› erhöhen. Zu gründende Bauernmärkte in Singapur könnten sich auf Lebensmittel konzentrieren, die im Land oder in einer begrenzten Region produziert werden. Man könnte die Abhängigkeit von Weizen und anderen Produkten aus anderen Klimazonen vermindern, indem man sich auf die Erforschung und Entwicklung von Lebensmitteln aus der Region konzentriert, zum Beispiel Maniok als Alternative zu Weizen.

In Singapur und anderen Orten wird eine ganze Generation umweltbewusster und ethisch orientierter Essender an im Labor gezüchtete ‹Lebensmittel› als umweltfreundlichere Alternative herangeführt. Viele werden durch Geschmack, Aussehen und Neuartigkeit angelockt. Was viele nicht wissen, ist, dass die Unternehmen, die diese ‹Lebensmittelalternativen› herstellen, dieselben Personen und Unternehmen sind, die die weltweite Zerstörung der Böden und der biologischen Vielfalt sowie die Verschlechterung der Lebensmittelqualität verursacht haben. Ebenso wenig bekannt ist, dass diese Lebensmittelalternativen Rohstoffe benötigen, die zumeist aus genmanipulierten Beständen stammen und mit einer Menge künstlicher Zusatzstoffe vollgestopft sind.

Damit SIFLI sich als ein gesundes, gerechtes und lebendiges Wesen entwickeln kann, müssen Menschen vor Ort die regenerativen und systemischen Ansätze der Biodynamik als Teil einer erstrebenswerten und machbaren Zukunft wollen, sie in Entscheidungen ummünzen und an vielen einzelnen Orten kreativ verwirklichen. Die Ansätze sind vorhanden und in vielen Menschen veranlagt.


Alle Fotos: Projekte von Herbert Dreiseitl, z. V. g.

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