Zum Gedenken an Ingeborg Bachmann (1926–1973). Sie starb am 17. Oktober vor 50 Jahren auf der Suche nach einer zarteren Welt.
Ingeborg Bachmann faszinierte, als Mensch, als Frau, als Dichterin. In die nüchterne Aufbaustimmung der 50er-Jahre brachte sie Botschaften, die an andere Wunder erinnerten als an das Wirtschaftswunder. Zunächst in zwei Gedichtbänden, ‹Die gestundete Zeit› (1953), ‹Anrufung des Großen Bären› (1956). Erzählungen, Romane, reflektierende Prosa folgten. Man glaubte ihr, glaubte einer verlockenden Sprache, die man nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr für möglich gehalten hatte. Sie erschien als eine Botin aus einer verloren geglaubten Welt. Sogar der ‹Spiegel› widmete ihr 1954 eine Titelgeschichte – wenn auch, sicherheitshalber, in ironischer Distanz – und ein Titelbild, das sie zur Ikone machte. Sie wurde Botschafterin der Poesie, eine Garantin dafür, dass es doch noch möglich war, entgegen dem Verdikt Adornos, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben. Sie holte mit ihrer Sprache den Himmel auf die Erde.
Sie war zielbewusst. Mit 19 Jahren brach sie nach Wien auf, um dort Philosophie zu studieren. Wien war zu dieser Zeit ein unsicherer Ort, eine Stadt, über die die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs noch keine klare Entscheidung getroffen hatten. Aber für sie schien es der einzig richtige Ort zu sein. Schnell knüpfte sie Verbindungen, arbeitete für den Hörfunk als Autorin und Redakteurin. Sie war klug. Sie promovierte über Heidegger, schrieb Essays und Hörspiele über Wittgenstein, Simone Weil, Proust. Sie hielt die Frankfurter Poetikvorlesungen und versicherte in einer Preisrede den Kriegsblinden, dass «die Wahrheit den Menschen zumutbar» sei. Und sie war ehrgeizig. Sie wollte Anerkennung. Sie wollte gesehen werden. Sie wusste, wie sie auffallen konnte. Sie war sprachgewandt, attraktiv, und setzte diese Mittel ein. Sie war kurzsichtig, aber sie weigerte sich, eine Brille zu tragen. Sie ließ vor einer Rede das Manuskript fallen, damit Mann es aufhob. Sie konnte sich in Szene setzen. Sie legte ihre Gedichte sichtbar auf einen leeren Schreibtisch und verschwand dann für eine Viertelstunde, sodass Hans-Werner Richter, der Adressat dieser Aktion, sie auf jeden Fall lesen musste. So lud er sie zur Lesung der Gruppe 47 ein, wo sie mit ihrer suggestiven Art, ihre Gedichte vorzulesen, sofort Aufsehen erregte und ein Jahr später den Preis der Gruppe bekam.
Himmelssehnsucht
Sie war, mit aller Poesie, nicht nur «ein Kind, vom Himmel gefallen». Aber nach dem Himmel hatte sie Sehnsucht. Ihr Hörspiel ‹Der gute Gott von Manhattan› preist die Liebe als einen radikal anderen Ort, einen Ort außerhalb der Ordnung, in einem Stundenhotel im 57. Stock. Dort verfallen zwei Liebende dem Zauber. Aber der Mann, in einem schwachen Augenblick, versagt und fährt mit dem Fahrstuhl wieder zurück in die Bar ins Erdgeschoss, zurück zu Whisky, Baseballnachrichten und Zeitung, zu einem Aufatmen im Alltag. Der Vater in der Erzählung ‹Alles› versucht, seinen Sohn anders zu erziehen, und verzweifelt daran, dass der kleine Junge, trotz aller Erziehungsbemühungen, zusammen mit Gleichaltrigen schmutziges Wasser aus einer Büchse über Steinen ausgießt, Ingenieur und Weltbeherrscher spielt. Den Männern stand Ingeborg Bachmann, als ‹weibliche Priesterin›, kritisch gegenüber. Sie schienen ihr zu leichtfertig bereit, mit der Erde – dem Planeten des Todes – zu paktieren, sich in gewöhnlichen Verhältnissen einzurichten. «Ihr Männer mit Namen Hans», rief sie, und blieb eine Undine, die verlockende Rufe ausstieß, die ungehört verhallten. Schließlich wendete sie sich um und ging zurück in ihre Heimatgewässer: ‹Undine geht›.
Nicht nur in ihren Erzählungen und Gedichten versuchte sie, in der Liebe den Himmel auf die Erde zu holen. Aber die Verbindung zwischen ihr und Paul Celan – sie lernten sich 1948 kennen, beide noch längst nicht der Celan und die Bachmann – ließ sich nicht leben. Zwei verwundete Seelen hatten einander früh erkannt. Celan war durch die Todeslager gegangen und konnte nie mehr Vertrauen zu den Menschen haben. Ingeborg Bachmann aber schien doch in vergleichsweise behaglichen österreichischen Verhältnissen aufgewachsen zu sein? Für sie fühlte sich das nicht so an. Sie spürte den tödlichen Atem des Bösen, auch wenn er sie, mit Celan verglichen, nur gestreift hatte. Ihr Vater war schon 1932 in die NSDAP eingetreten. Das war ein Familientabu, an das nicht gerührt wurde.
Wahrlich für Anna Achmatowa (1964)1
Wem es ein Wort nie verschlagen hat,
und ich sage es euch,
wer bloß sich zu helfen weiß
und mit den Worten –
dem ist nicht zu helfen.
Über den kurzen Weg nicht
und nicht über den langen.
Einen einzigen Satz haltbar zu machen,
auszuhalten in dem Bimbam von Worten.
Es schreibt diesen Satz keiner,
der nicht unterschreibt.
Ingeborg Bachmann
Zeichnung Ingeborg Bachmann von Sofia Lismont
Ausbruch aus der Ordnung
Ihre zweite längere Liebesbeziehung, die zu dem Schweizer Schriftsteller Max Frisch, scheiterte ebenfalls. «Wir haben es nicht gut gemacht», lautete sein Abschlussfazit. Dem Briefwechsel zwischen beiden, der unter eben diesem Titel erst letztes Jahr erschien, kann man entnehmen, wie quälend es sein kann, Freiheit und Bindung zugleich zu leben, und wie schwer es ist, Vertrauen zueinander zu haben und sich vertrauenswürdig zu verhalten. Kurz: eine moderne Beziehung. Hier scheint Undine auf der Erde angekommen zu sein, und es geht ihr nicht gut hier. Ihr Versuch, aus der Ordnung auszubrechen, in ein anderes Land zu gelangen, ein anderes Land zu erschaffen, war ein Anrennen gegen Phrase, Konvention, Routine. In ihrer Dichtung gelang es ihr. Sie fand eine bewegliche, tastende Sprache. Aber das reichte ihr nicht. Sie wollte kein Reich der Kunst neben das harte Reich der Fakten bauen, keine uneigentliche Realität neben die eigentliche setzen. Sie suchte die Verwandlung der «funktionellen Nützlichkeitswelt» – so benennt sie das in den Frankfurter Poetikvorlesungen. An der Härte dieser Welt scheiterte sie. Sie suchte Halt in den Blicken anderer Menschen und fand ihn dort nicht. Sie stürzte ab und griff zu Tabletten, Drogen, Alkohol, gern auch in Mischverhältnissen, zeitweise zu einer riskanten Sexualität. Eine «radikal Beschädigte ohne Schutzhülle» nennt ihre Biografin Ina Hartwig sie. Sie war glamourös und scheu, liebenswürdig und launisch, gern der Mittelpunkt großer Gesellschaften. Ein Foto zeigt sie im Wahlkampf neben Willy Brandt auf dem Sofa sitzend, zusammen mit Hans-Werner Richter, Günter Grass, dem Komponisten Hans-Werner Henze. Dennoch war niemand bei ihr, wenn es darauf ankam.
Ihr Tod schockierte. Sie zog sich in ihrem Bett, rauchend und einschlafend, schwere Brandwunden zu und konnte nicht gerettet werden, weil nicht bekannt war, wie schwer tablettenabhängig sie war und dass der Aufenthalt auf der Intensivstation für ihren Organismus einen kalten Entzug bedeutete. Am 17. Oktober 1973 ist Ingeborg Bachmann in einem römischen Krankenhaus gestorben. Sie gehört zu den vielen Künstlerinnen und Künstlern im 20. Jahrhundert, die einen Weg bahnten in ein anderes, zarteres Reich, in das sie selbst nicht einziehen konnten.
Gratulation, ein sehr gelungener, schöner Aufsatz, Danke.
Im Internet kann man sich Auszüge aus Ingeborg Bachmanns Dankesrede zum Hörspielpreis der Kriegsblinden von 1959 anhören. Das relativiert alle Lügenmärchen, die nach ihrem Tod kursierten, auch Jahre nach ihrem Tod taten sich Menschen mit dreisten Geschichten zu ihrem Tod hervor, das ganze Internet ist voll davon.
Zunächst zu den Fakten: «Denn wir wollen alle sehend werden».
https://www.br.de/mediathek/podcast/artmix-galerie/die-wahrheit-ist-dem-menschen-zumutbar-ingeborg-bachmanns-beruehmte-dankesrede-zum-hoerspielpreis-der-kriegsblinden/1831302
Und zu den Lügen über Ingeborg Bachmanns Leben und Sterben in Rom: Es ist alles so wahr und richtig, wie es die Mutter und der grosse Bruder erzählt und erklärt haben, damals um Michaeli 1973.
Ilias 16. Gesang Vers 666 für Ingeborg Bachmann