Der Tag der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten, der 20. Januar 2025, war ein besonderer Moment für die weltweiten Aktivitäten in sozialen Netzwerken. Während Ströme von europäischen Nutzerinnen und Nutzern das Netzwerk X verließen, führte das Zögern der US-Regierung, Tiktok zu verbieten, zu großen Migrationsflügen von amerikanischen Seelen nach China.
Die Übernahme von Twitter durch den milliardenschweren Unternehmer Elon Musk hat in der Welt der sozialen Netzwerke ein Erdbeben ausgelöst. Twitter war bereits zu einer Art unumgänglicher Agora geworden. Musk prangerte ein Übermaß an staatlichen Eingriffen an und plädierte für eine drastische Reduzierung der Moderation mit der Einführung einer Selbstregulierung durch die Nutzer selbst (die sogenannten ‹Community Notes›). Ihm gehe es darum, die Meinungsfreiheit im Sinne des ersten Zusatzartikels der amerikanischen Verfassung zu schützen. Kürzlich stellte sich auch Mark Zuckerberg, Chef von Meta, also Facebook, Instagram, Whatsapp usw., als Verteidiger der Meinungsfreiheit auf die Seite von Elon Musk und sagte, die Moderation in seinen Netzwerken sei übertrieben worden. Solange sie nicht gegen das Gesetz verstößt, sollte laut Musk und Zuckerberg jede Äußerung erlaubt sein. Man kann darin einen heilsamen Libertarismus sehen oder sich im Gegenteil fragen, ob diese Philosophie der Freiheit nicht zu idealistisch ist.
Wie Blackboxes
Eine 2024 veröffentlichte Studie des Pew Research Center ergab, dass die Plattform Twitter/X im Jahr 2022 etwa 65 Prozent demokratische und 31 Prozent republikanische Accounts aufwies und dass dieses Verhältnis im Jahr 2024 auf 48 Prozent und 47 Prozent gestiegen war.1 Man könnte dies als eine bloße Ausbalancierung des Links-Rechts-Verhältnisses ansehen. Doch als Musk seine Unterstützung für Donald Trump erklärte, wuchs der Verdacht, dass er aktiv rechte Accounts förderte, um die Republikanische Partei zu unterstützen. Dieser Verdacht einer Manipulation der Algorithmen beruht auf Indikatoren, nicht aber auf stichhaltigen Beweisen. Sind die beobachteten Trends organisch oder manipuliert? Letztendlich sind alle diese Plattformen wie Blackboxes. Aus diesem Grund hat die Europäische Kommission 2023 eine formelle Untersuchung von X und auch von anderen Plattformen eingeleitet. – Es mag lustig klingen, aber man kann sich auch fragen, ob ein ‹organisches› oder ‹ethisches› Label, wie in der Landwirtschaft, für soziale Netzwerke eingeführt werden sollte …
Elon Musks Stellungnahmen zur Innenpolitik einiger europäischer Länder haben die Situation noch verschärft. Die Kontroversen gipfelten in einem Boykott der Plattform durch Medien, Institutionen, Politiker und Intellektuelle, wobei das französische Staatliche Zentrum für wissenschaftliche Forschung (CNRS) sogar ein Migrationswerkzeug ‹HelloquitteX› entwickelte, um zu helfen, die Plattform zu verlassen. Der Boykott war für den 20. Januar geplant, den Tag der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten. Zahlen über die realen Auswirkungen dieses Boykotts gibt es wenig, doch konnte man viele Nachrichten lesen wie: «Ich habe gerade meinen #eXit gemacht!» oder «Dieses Konto X wird von nun an inaktiv sein, um eine gemeinsame Front zu bilden, die öffentliche Debatte nicht vereinnahmen zu lassen und gemeinsam eine Alternative aufzubauen.» Sind wir Zeugen einer ‹Archipelisierung› der Netzwerke? Wird die digitale Welt – trotz ihres Versprechens von Universalität und globaler Vernetzung – auch eine Fragmentierung in Inseln fördern?
Flüge nach China
Ein umgekehrtes Phänomen trat zur gleichen Zeit mit der App Tiktok auf, der chinesischen Plattform für den Austausch von Kurzvideos mit über 1,5 Milliarden Nutzern. Seit 2020 sind die USA und Europa über Tiktok besorgt und versuchen, ein Verbot zu organisieren. Der erste Schritt war, Tiktok im Jahr 2023 von den Dienst-Smartphones der Mitarbeitenden der Bundesregierung in den USA, der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments sowie anderer nationaler Institutionen in Europa zu verbannen. Auch hier ist die Beweislage für Manipulation und Datendiebstahl gering. Dennoch hat sich dieses Argument durchgesetzt, bis nach Rumänien, wo es Ende 2024 angeführt wurde, um die Präsidentschaftswahlen zu stornieren. Der Geheimdienst soll eine mögliche russische Manipulation der Tiktok-App gemeldet haben, ohne dafür stichhaltige Beweise vorzulegen. – Währenddessen bestätigte auf der anderen Seite des Atlantiks der Oberste Gerichtshof der USA die Verbannung von Tiktok. Das Verbot wurde auf den 19. Januar 2025 festgesetzt.
Überraschung: Als sie von der bevorstehenden Schließung von Tiktok erfuhren, wendeten sich Millionen von US-Nutzern ‹Xiaohongshu› zu, einer komplett chinesischen App, die in China sehr beliebt ist und Instagram gleicht. Xiaohongshu, im Westen jetzt ‹Rednote/XHS› genannt, wurde im Januar 2025 die am meisten heruntergeladene App in den USA. An einem einzigen Tag kamen über drei Millionen neue Nutzer hinzu. Diese Nutzer aus den USA nannten sich selbst ‹Tiktok-Flüchtlinge›, und die chinesischen Nutzer freuten sich sehr, sie willkommen zu heißen, indem sie mit ihnen ins Gespräch kamen und anboten, sie zu begleiten. «Ich möchte gern dein chinesischer Freund werden», «Ich gebe Chinesischunterricht», «Herzlich willkommen, Tiktok-Flüchtlinge!». Viele dieser Amerikanerinnen und Amerikaner, die ein eher negatives Bild vom Leben in China hatten, sahen ihre Vorurteile zerbröckeln. Viele erschütterte oder berührte Nutzer zeugten von dem Gefühl, endlich aus einer Blase auszubrechen und die Augen zu öffnen. Es kam zu einer unerwarteten kulturellen Begegnung zwischen Millionen chinesischer und amerikanischer Nutzer – ein Wind der gegenseitigen Sympathie.
Und doch dauerte das Verbot von Tiktok nur einen Tag! Bereits am 20. Januar beschloss die neue US-Regierung, die Verbannung für eine gewisse Zeit aufzuheben. Das Phänomen der Migration zu Rednote/XHS hat jedoch stattgefunden.
Will Europa mitspielen?
Diese Wanderungen von Seelenschwärmen in der virtuellen Welt sind auch eine Realität, denn heute ist das Virtuelle real geworden. Es führt zu realen Empfindungen, Gedanken und Entscheidungen. Ja, «die digitale Party hat gerade erst begonnen», wie es Peter Sloterdijk am 27. Januar in der ‹Frankfurter Rundschau› andeutete.2
Europa protestiert viel, aber will es wirklich mitspielen? Auf der einen Seite: die amerikanische Kultur, die im Namen der Individualität für eine radikale Meinungsfreiheit eintritt, auf der anderen Seite: die chinesische Kultur, die im Namen der Kollektivität bestimmte Beschränkungen für die Meinungsfreiheit aufstellt. Und doch scheinen diese beiden Kulturen einander begegnen zu wollen. Europa steht zwischen diesen beiden Polen wie gelähmt und verfügt über keine entsprechenden Plattformen. Welchen eigenen Impuls trägt Europa zwischen Individuum und Kollektiv? Welche innovativen Soziotechnologien sollten sich daraus entwickeln?
Bild «Die chinesische App Rednote erobert die Herzen der Amerikaner.» – Ein Post auf X.
Fußnoten
- Colleen McClain, Monica Anderson und Risa Gelles-Watnick, How Americans Navigate Politics on TikTok, X, Facebook and Instagram. Pew Research Center, 12.6.2024.
- Michael Hesse, Philosoph Sloterdijk über die Zukunft der KI: «Die digitale Party hat gerade erst begonnen». Frankfurter Rundschau, Stand: 27.1.2025, 14.06 Uhr.