Im Ringen um Identitäten

Albrecht Hüttig im Gespräch

Auf der ganzen Welt gewinnen populistische Parolen und nationalistische Parteien an Zustimmung, während die Angst vor ihnen zugleich wächst. Auch in der anthroposophischen Szene sind Stimmen aufgetreten, die sich gegen eine integrative, demokratische Gesellschaft wenden und sich dafür auf Rudolf Steiner berufen wollen. Wie geht das zusammen? Ein Gespräch mit Albrecht Hüttig, der die Thesen analysiert hat.


Franka Henn Das Ergebnis der Europawahl im Juni und der jüngsten Landtagswahlen in Deutschland war für viele demokratische Parteien eine Abfuhr. Wie ist Ihr Eindruck von der politischen Situation in Europa?

Albrecht Hüttig Mein Eindruck ist, dass wir in einer gefährlichen Phase leben, weil derzeit verstärkt versucht wird, mit Populismen komplexe Fragen einfach zu beantworten. Das ist für eine rechtsstaatliche Demokratie, in der die Verfassung an oberster Stelle steht, gefährlich. Dieser Trend zum Populismus relativiert die Menschenrechte als eine Basis unseres demokratischen Zusammenlebens. Es bedarf meines Erachtens ganz klarer Gegenpositionen, die begründen, warum solche Populismen für eine Gesellschaft, die friedlich und tolerant sein will, nicht tragbar sind.

Viele Medien haben an dem Europawahlergebnis bemerkt, dass vor allem junge Menschen sich von den etablierten Parteien abgewendet haben, hin zu, zum Beispiel, der AfD in Deutschland. Sie sind als Lehrer mit der Oberstufe vertraut. Wie blicken Sie auf den rasanten Anstieg junger Stimmen für das rechte Parteienlager?

Man bräuchte jetzt genauere Untersuchungen: Aus welchen Schichten kommen diese Menschen? In welchen Regionen ist es besonders stark? Denn mit Allgemeinurteilen ist es schwierig. Das ist eine gravierende gesamtgesellschaftliche Problematik. Die zweite Frage ist: Was ist denn in der schulischen Bildung passiert, um Werte des Zusammenlebens erkennen und erleben zu dürfen? Es ist eine pädagogische Aufgabe, dafür Dimensionen aufzuzeigen, und das heißt nicht, dass wir die Jugendlichen irgendwohin zwingen. In anderen Ländern gibt es ganz andere Perspektiven, zum Beispiel in Chişinău in Moldawien. Fragt man dort die jungen Menschen nach ihrer Haltung, hört man: Wir wollen nach Europa, wir wollen die Menschenrechte etc. Bei uns müssen wir deutlich hinschauen, was die Gründe sein können für eine solche Wahl. Im schlimmsten Fall steht dahinter Resignation. Die Welt macht es für junge Menschen derzeit nicht einfach, positive Zukunftsbilder zu entwickeln. Trotzdem ist es eine Illusion, dass die populistischen Parteien Lösungen bieten. Ihnen geht es eher um die Suche nach einem Sündenbock.

Es geht also um Weltbilder. Sehen Sie diese populistischen oder extremistischen Tendenzen gespiegelt in der anthroposophischen Szene?

Ja, von einer relativ kleinen Gruppe. In der Corona-Zeit, mit den gesetzlichen Einschränkungen, sind viele Konflikte aufgebrochen und es sind Tendenzen aufgekommen, die eine pauschale Abwehrhaltung gegenüber dem Staat innehatten. Da spielte das Verständnis von Steiner zum Beispiel zum Impfen genauso wie das Verständnis der ‹freien Schule› eine Rolle. Auch sind Menschen mit rechtsradikalen Thesen hervorgetreten. Vonseiten der Anthroposophischen Gesellschaft und des Bundes der Freien Waldorfschulen in Deutschland wurde das klar abgelehnt. Aber es gab auch einen Aufruf von knapp 500 Menschen aus dem anthroposophischen Umfeld, dass man sich von Personen wie Caroline Sommerfeld aus der identitären Bewegung und Martin Barkhoff nicht distanzieren dürfe, weil sie wertvolle Zeitkritik üben würden. Wenn rechtsradikales, identitäres Gedankengut so erscheint, als ob es mit Anthroposophie und Waldorfpädagogik kompatibel wäre, ist eindeutig eine Grenze überschritten.

Wie sehen Sie in der anthroposophischen Szene die Beziehung zu populistischen Weltanschauungen?

Meiner Ansicht nach herrscht in der anthroposophischen Szene auch eine sehr undifferenzierte Vorstellung von der Dreigliederung vor. Nach dieser wären der kulturelle und der pädagogische Bereich ein rechtsfreier Rahmen: ‹freies Geistesleben›. Das ist vollkommen falsch – mit entsprechenden Konsequenzen. Es wurde der Eindruck erweckt, als ob man, wenn der demokratisch gewählte Gesetzgeber etwas umsetzt, das einfach ablehnen könne. Die Frage der Auseinandersetzung, wie man das argumentativ machen kann, welche Rechtswege es gibt, wurde von den ‹lauten Stimmen› immer in den Hintergrund gestellt. Diese Ansicht über ‹Freiheit› ging so weit, dass sich eine Minorität mit Rechtsradikalen bei Demonstrationen zusammengeschlossen hat. Da lag ein vollkommen falsches, ja mangelndes Rechts- und Sozialempfinden vor. Es wurde auch versucht, solche Ansichten mit Aussagen von Rudolf Steiner zu belegen, und es wurden alle möglichen Zitate dafür zusammengestellt.

Es gibt eine undifferenzierte Vorstellung von der Dreigliederung. Nach dieser wäre das ‹freie Geistesleben› ein rechtsfreier Rahmen. Das ist falsch – mit entsprechenden Konsequenzen.

Das hatte auch missionarischen Charakter. Gerade in der Corona-Zeit war spürbar, wie einige wenige aktiv für oder gegen die Maßnahmen, das Impfen eingetreten sind. Dahinter lag die Vorstellung, dass ich etwas weiß, was du noch nicht weißt, worüber ich dich belehren kann oder sogar sollte, weil ich glaube, für eine gerechte Sache zu kämpfen. Innerhalb der anthroposophischen Szene gibt es diesen Zwist auch in der Rezeption von Rudolf Steiners Werk. Sie haben gesagt, man müsste tun, was vom verfassungskonformen Gesetz vorgegeben ist und sich eine individuelle Haltung dazu bilden. Aber ‹Freiheit› und ‹Individualität› sind zentrale Begriffe in der Anthroposophie. Wie gehen Sie mit dieser Spannung gedanklich um?

Ich sehe darin ein grundlegendes Missverständnis der Anthroposophie.

Können Sie das erläutern?

Anthroposophie ist für mich primär eine Methode, um Erkenntnisse zu erreichen. Und jede Erkenntnis, die ich habe, ist nur eine begrenzte Erkenntnis. Wenn ich anderen sage, weil ich Anthroposoph bin, wüsste ich absolut, was wie ist, dann muss ich abstoßend wirken. Und im Umkehrschluss heißt das: Wenn ihr es nicht annehmt, dann habt ihr es nicht verstanden. Wenn man missioniert, fehlt die Selbsterkenntnis, dass die eigene Erkenntnis nicht absolut sein kann. Darin liegt eine Gefahr für die ganze Anthroposophie, weil natürlich diejenigen, die nicht Teil dieser Gruppe sind, das abgehoben finden. Dieses Problem finden wir auch in anderen Gemeinschaften; es ist nicht speziell ‹anthroposophisch›. Aber es führt im Sozialen nur zu Konflikten. Im Sozialen muss ich immer Kompromisse finden. Als gemeint wurde, man hätte gegen eine ‹Corona-Diktatur› zu kämpfen, war das Argument die Freiheit. Nachdem die Pandemie vorbei war, wurden alle Beschränkungen wieder aufgehoben. Sie sind nicht mehr da. Und trotzdem wurde der Begriff ‹Corona-Diktatur› nie korrigiert; keine einzige Korrektur oder Rücknahme ist gekommen. Gegenüber den Gesetzen und wie sie entstehen, hat sich häufig eine mangelnde Kenntnis gezeigt. Im sozialen Miteinander gibt es Dinge, an die wir uns halten. Wenn die Ampel rot ist, dann stehe ich. Ich könnte auch sagen: Ich werde in meinen Grundrechten eingeschränkt. Wenn ich im Zug fahre, brauche ich ein Ticket. Da kann ich auch meinen: Ich will aber ohne fahren. Aber das ist Anarchie – und auf der Ebene des Denkens ein reiner Subjektivismus, der sich breitgemacht hat.

Aus meiner Sicht baut Populismus auf einer verflachten Vorstellung auf, weswegen er einen Boden für extremistische Ideen bietet. Wir kommen noch auf das Beispiel der Publikation von Martin Barkhoff und Caroline Sommerfeld zu sprechen. Zunächst möchte ich fragen – auch wenn es nur eine Minderheit der anthroposophischen Szene betrifft, über die verschärft berichtet wurde –, welche Gründe Sie dafür sehen, dass anthroposophische Vorstellungen mit gängigen Populismen vermischt werden?

Die Verflachung ist, dass auf komplexe Fragen einfache Antworten gesucht werden. Es besteht zurzeit eine allgemeine Tendenz dahin, die zur Polarisierung unserer Gesellschaften beiträgt. Anstatt sich in Ruhe zu kultivieren und zu lernen, bis zu einem gewissen Grad auch kontroverse Diskurse auszuhalten, gibt sich diese Minorität dem Populistischen, dem Verflachten und immer extremistischeren Meinungen hin.

Sie meinen, dass dies eine allgemeine Tendenz ist. Trotzdem hat die Verschränkung von Anthroposophie und Rechtspopulismus krude Formen angenommen: 2021 hat der ehemalige Chefredakteur des ‹Goetheanums›, Martin Barkhoff, gemeinsam mit Caroline Sommerfeld, einer Publizistin aus den identitären Kreisen, den Briefwechsel ‹Volkstod und Volksauferstehung› im Antaios-Verlag veröffentlicht. Als Hintergrund fasse ich zusammen: Identitäre Ideologie wird auch als ‹Rassismus ohne Rassen› bezeichnet. Im Zentrum steht das ‹Reinhalten der eigenen Kultur›, das heißt: Kulturen sollen sich nicht vermischen. Gleichzeitig gibt es keinen Raum für Individualismus, denn das Volk stiftet die Basis der einzelnen Identität. Eine stark antimuslimische Haltung ist auffällig. Der bayerische Verfassungsschutzbericht von 2018 sieht in der identitären Bewegung einen Versuch, den gesellschaftlichen Diskurs mit neuen Begriffen, mit neuen Sprachfeldern zu durchweben, die anschlussfähiger und nicht ‹rechts› wirken. Trotzdem stehen hinter Begriffen wie ‹Remigration› die alten Geister. Sie haben den Briefwechsel zwischen Sommerfeld und Barkhoff analysiert. Was ist Ihnen aufgefallen?

Was Sie charakterisieren, ist die Grundüberzeugung der Identitären. Man meint, wenn ich einem bestimmten Kulturraum angehöre, habe ich gewisse Qualitäten, etc. Von da ist es nur ein kleiner Schritt zurück in die NS-Ideologie: «Du bist nichts, dein Volk ist alles.» Für die Identitären darf es verschiedene Kulturen geben, aber jede müsse an ihrem Platz bleiben. Das heißt, die Menschen werden separiert. ‹Remigration› – diese brutale Formel – heißt, dass Menschen, die hier ein Bleiberecht haben, aufgrund ihrer ‹Abstammung› wieder abgeschoben werden sollen. Das ist unmenschlich und antisozial. Wenn man diesen Schritt vollziehen würde, würden die Gesellschaften zusammenbrechen. Darüber hinaus bedeutet es aber, dass die Persönlichkeit keine Rolle spielt, sondern nur ihre ethnische Herkunft. Das kommt in dem Briefwechsel von Barkhoff und Sommerfeld deutlich raus. Es wird kurzerhand behauptet, soziale Probleme hätten wir nur, weil ‹die anderen› da sind. Darin sehen wir schon die extreme Verkürzung, die überhaupt nicht zulässig ist und die alles Individuelle abstreitet. Dagegen müssen wir uns positionieren, meine ich. Vor allem, wenn dann noch gesagt wird, Steiner hätte so gedacht, er hätte vom Volkstod der Deutschen usw. gesprochen – was er nirgends tut–, dann muss ich deutlich sagen: Schluss, das ist eine Instrumentalisierung und Verfälschung.

Was sind Hauptthesen in diesem Briefwechsel, die Sie gerne widerlegen möchten?

Das beginnt beim grundsätzlichen Rahmen schon mit dem Titel ‹Volkstod und Volksauferstehung›. Ohne dass es dafür einen einzigen Beleg in dem Briefwechsel gibt, wird in der Überschrift schon gesetzt, dass es zurzeit um den Untergang der ‹weißen Rasse› und des deutschen Volkes ginge und dass es Kräfte, Staaten, gäbe, die das herbeiführen wollten. Das wird dann in ein altes Narrativ eingeordnet. Ganz subtil wird gesagt, dass im Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg beschlossen worden sei, die Deutschen zu vernichten. Und zwar durch Arbeit zu vernichten, was doch ein Slogan der deutschen Konzentrationslager war. Unter anderem im dritten Brief wird von der «Lüge von Versailles» gesprochen. Es wird aber nicht gesagt, worin sie bestünde. Das ist immer so, es werden lauter Setzungen gemacht, die diffus bleiben. Später geht es um Hitler; er hätte alles ‹Deutsche› beiseitegeschoben und nur den amerikanischen Imperialismus imitiert. Dann wird auf die Kriegsverbrechen der damaligen USA und Großbritanniens hingewiesen. Der Holocaust sei nur die Folge einer USA-Imitation. Das ist eine gefährliche Geschichtskonstruktion, die nichts mehr oder weniger darstellt als eine Entlastung oder totale Verfälschung. Und wenn es um die Aufarbeitung von Genoziden geht, wird es ganz düster, denn Barkhoff und Sommerfeld meinen, es gäbe einen «Adorno-Kitsch» über die Aufarbeitung. Da heißt es quasi wortwörtlich, die Opfer klagten nicht an, sie hätten das Vorgefallene wie eine Hiobsbotschaft aufgefasst. Eine Hiobsbotschaft kommt aber von Gott. Da muss ich fragen: Warum wird das so formuliert? Rational oder im Sinne der Menschenrechte ist das nicht zu verstehen. Die Gefahr in diesem Narrativ ist, dass ein solches Verbrechen anscheinend gottgewollt ist. Es gibt eine Passage, in der Barkhoff lobend von der eindrucksvollen Kampfkraft der deutschen Armee in den letzten 160 Jahren schreibt und behauptet, sie würde daher rühren, dass man das Ich in jedem Offizier und jedem Soldaten angesprochen hätte. Das ist historisch vollkommen falsch, wird aber auch nur diffus erzählt.

Und wie zeigt sich Sommerfeld?

Sommerfeld kommt zu der Einsicht, dass sie mit ihrer Politik nicht durchkämen. Sie spricht von der «Corona-Lüge». Der ganze Staat sei pseudodemokratisch, alles sei erlogen. Jetzt bräuchten wir den «Heiligen Krieg». Der ganze Briefwechsel mündet in eine pseudoreligiöse Überhöhung der Vorstellung, dass man das deutsche Volk vor seiner Vernichtung retten müsse. Und Steiner-Zitate werden verkürzt, entstellt oder ohne jeden Nachweis benutzt, um solch ein gefährliches Pathos zu untermauern. Das Ziel dahinter ist menschenverachtend. Das ist nicht nur Geschichtsmissbrauch – es ist Steiner-Missbrauch.

Steiner-Zitate werden verkürzt, entstellt oder ohne Nachweis benutzt, um ein solches Pathos zu untermauern. Das ist nicht nur Geschichts­missbrauch – es ist Steiner-Missbrauch.

Bietet Steiner-Lektüre sich dafür an oder warum wollen rechte oder identitäre Stimmen sich sie zu eigen machen?

In den Aufzeichnungen über Steiners Vorträge lassen sich bestimmte Schilderungen über Geschichte, über Kulturen usw. finden, die heute falsch sind und gefährlich, wenn man sie aus dem Kontext des Gesamtwerkes reißt. Damals wurde der Begriff der ‹Rasse› einfach benutzt. Das geht rein wissenschaftlich heute gar nicht mehr. Barkhoff und Sommerfeld benutzen übrigens diesen Ausdruck. Es gibt Teile in Steiners Werk, die auch bereits kritisch rezipiert wurden, die sich für eine solche Auslegung anbieten. Aber es ist ein völlig selektives Lesen in Steiners Werk; es werden explizit die Stellen aufgesucht, wo er über bestimmte Nationen, über die Deutschen und die Weißen etwas gesagt hat, ohne den Kontext des ganzen Werkes einzubeziehen. Man tut Steiner kein Unrecht, wenn man sich heute von bestimmten Aussagen in seinem Werk distanziert. Aber es gibt Menschen, die genau da einsteigen und es herausgreifen.

Auffällig in dem Briefwechsel fand ich die Vermischung von religiöser Verkitschung, Kriegsrhetorik und vorgeblich esoterischem Hintergrundwissen. Wie schätzen Sie das ein?

Barkhoff und Sommerfeld attestieren, dass das deutsche Volk ein Reich für das Christentum schaffen müsse. Wie das aussehen soll und was es beinhaltet, wird nicht gesagt. Aber es wird behauptet, dass es bekannt sei, dass die Deutschen eine besondere Christusnähe hätten. – Anscheinend war Christus ein Nationalist. – Sie loben explizit Götz Kubitschek und den Antaios-Verlag in Deutschland für ihr «gelebtes Christentum». Also, im nationalistischen, identitären, neu-rechten Denken, das der AfD die Argumente liefert, würde sich das Christentum zeigen. Was hat das mit Christus zu tun? In der Rassismusforschung zeigt sich deutlich, wie viele rassistische Erscheinungen im Lauf der Geschichte, wie die Kreuzzüge usw., versucht haben, ihre Mission aus dem Alten und Neuen Testament abzuleiten. Obwohl es wunderbare Passagen darin gibt, die dem genau widersprechen. Aber die werden überlesen. Es reichen Behauptungen. Noch dazu haben sie ein ganz elitäres Bild. Sie meinen, wenn acht bis zehn Menschen wirklich wissen, was in der Zukunft kommt, reiche das aus und die «Volksgeister» würden schon alles regeln. Das Wichtigste aber sei die «Auferstehung des deutschen Volkes» als pseudoreligiöse Fantasie. Was soll das sein? Das wird überhaupt nicht gesagt. Das kann man nur so auffassen, wie Sie es in Ihrer Frage benannt haben.

Der Begriff ‹Volksgeist›, den Sie schon ein paarmal zitiert haben, wurde aber von Rudolf Steiner benutzt. Wie kann man sich heute mit diesem Begriff auseinandersetzen, wenn man anthroposophisch interessiert ist und auf ihn stößt? Was tun wir mit den veralteten Begriffen in der Anthroposophie?

Wir rezipieren sie kritisch. Kritisch heißt immer mit Bewusstseinsseele. Wenn Barkhoff über den chinesischen Volksgeist spricht, dominiert bei ihm die Vorstellung, dass dieser direkt ins Geschehen eingreift. Wenn Steiner den Volksgeist beschreibt, hat es damit überhaupt nichts zu tun. Das heißt, es wird derselbe Begriff verwendet, aber völlig verschieden interpretiert. Ob man heute noch von einem ‹Volksgeist› sprechen sollte oder nicht, muss man sich fragen. Ich persönlich gehe dazu auf Distanz. Steiner betonte, dass der Nationalismus keine Zukunft hat, auch wenn er in seinen Ausführungen nicht ganz konsequent war. Aber Steiner gibt auch zum Gegenteil Anlässe, wenn er zum Beispiel sagt, dass wir uns in allen möglichen verschiedenen Gruppen inkarnieren, um zu lernen.

Dieser identitäre oder nationalistische Populismus lebt von diffusen Bildern der Überhöhung oder Angst. Was kann Anthroposophie, wie Sie sie verstehen, dagegenhalten?

Einmal muss ich die Symptome ernst nehmen. Es geht mir nicht primär um die Frage, wie kommt jemand persönlich dazu, so zu denken? Aber mit dem, was da publiziert wird, muss ich in eine Auseinandersetzung kommen, wenn es möglich ist. Das geht eben nur phänomenologisch. Da gilt das Toleranzparadoxon. Ich bin tolerant, aber ich bin nicht einem Menschen gegenüber tolerant, der die Toleranz negiert. In dem Briefwechsel wird nichts begründet; es wird nur gesagt: So ist die Welt. Das ist eine Anmaßung. Und methodisch betrachtet hält dieser Dialog den Kriterien der ‹Philosophie der Freiheit› von Steiner, der anthroposophischen Erkenntnismethode, überhaupt nicht stand. Es ist eine völlig subjektive Sichtweise.

Um dem zu begegnen, müssen wir auch in die interne Auseinandersetzung kommen. Ich habe erlebt, dass ein Steiner-Vortrag von Interessierten gelesen wird und für sie jedes Wort darin von vornherein gilt. Die Anweisung, die Steiner oft gab, alles selbst zu prüfen oder dass er kein Guru sein wollte, wird zu wenig beachtet. Dadurch werden wir unfrei. Wir haben eine Basis in dem Erkennen, dass es eine geistige Welt gibt. Um sie zu erkennen, gibt es bestimmte Etappen der Erkenntnis, die aber nicht absolut sind. Intern müssten wir uns noch mehr in der Erkenntnisarbeit engagieren und nicht in der affirmativen Rezeption.

Glauben Sie, dass Menschen, die sich der Anthroposophie zuwenden, zum Teil eine Neigung haben, einen Guru, etwas Absolutes finden zu wollen, und deswegen in diese Rezeptionsproblematik reinrutschen?

Ja, die gibt es. Darin inbegriffen ist auch die Neigung, sich selbst zum Guru machen zu wollen, wie Barkhoff und Sommerfeld es tun, wenn sie vorgeben, absolut zu wissen, was in der Welt geschehen wird. Es gibt auch immer Menschen, die zur Anthroposophie kommen, weil sie Fragen haben, und dann sagen sie: In der Anthroposophie habe ich Antworten gefunden. – Einverstanden, aber was ist mit den weiteren Fragen? Wenn die nicht mehr kommen, dann mache ich aus der Anthroposophie bloß ein System.

Trotz all dieser Baustellen in der kritischen Rezeption gibt es eine Chance, wie man aus der Anthroposophie heraus zur gesellschaftlichen Entwicklung beitragen kann?

Natürlich und daran arbeiten wir in den Bereichen wie Landwirtschaft, Medizin, Bildung etc. Von der anthroposophischen Seite ist die Frage, wie wir an den gesellschaftlichen Gesprächen teilnehmen, weil auch wir Suchende sind. Wir haben nicht die einzigen Lösungen in der Hand. Das ist eine Illusion. Und es geht auch um unsere Einstellung. Wir können nicht nur sagen: Wir leben mit der Anthroposophie, habt mal alle bitte Verständnis für uns. Wir müssen auch nach außen signalisieren, inwieweit wir Verständnis für andere haben. Jede Gruppe schafft sich ihre Identität, aber sie darf sich nicht in ihr abschließen. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, in dem wir voll mit drinstehen und worum wir ringen müssen.

Ringen heißt auch, im Gespräch zu bleiben. Würden Sie mit Herrn Barkhoff oder Frau Sommerfeld reden?

Das würde von der Zielsetzung, dem Gesprächskontext sowie weiteren Teilnehmenden abhängen und müsste in sich stimmig sein.

Ich danke Ihnen für das Interview.


Bild Albrecht Hüttig, Quelle: Freie Hochschule Stuttgart

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