Jean erscheint bereits mit ausgestreckter Hand und einem leuchtenden Hut aus Licht auf dem Kopf. Dieser besondere Hut, den vielleicht nur ich sehen kann. Dieser Gedanke tröstet mich nicht. Denn Jean ist ganz in diesem Hut und seine Worte fallen aus dem Hut. Eine sehr positive Empfindung: Dieser Mann spricht nicht nur mit seinem Mund und seiner Kehle. In all seinen Sätzen gibt es Lichtblitze, die offenbar von anderswo, von oben kommen, ein kostbarer Regen, den man gerne in seinen Händen sammeln, notieren und aufzeichnen würde, und der einem entgeht, weil er nichts mit stilistischen Effekten zu tun hat. Aber wenn ich zu viel erklären will, komme ich durcheinander. Der Hut war da und ich schaute ihn an. Ein paar Minuten später ruhten Jeans Augen – Augen, die ich nicht gut sehen konnte, weil sie nicht prüfend, sondern nur aufmerksam waren – auf mir, während ich in einiger Entfernung vor einem kleinen Tisch aus weißem Holz saß. Auf mir ruhend, diese Augen? Das habe ich wohl aus Gewohnheit geschrieben. In Wirklichkeit hatte ich überhaupt nicht das Gefühl, dass sie mich anstarrten. […] «Ein Porträt ist dazu da, um zu zeigen, wie ein Mensch über sich selbst hinauswächst», sagte er. So war das physisch gesehene Gesicht nur die Umfassungsmauer, die Tür, die es zu öffnen galt, der Weg zum anderen Gesicht. Er sagte weiter: «Was ich zu malen suche, ist dein Blick. Ich sehe, dass er nicht in deinen Augen ist. Aber ich sehe, dass er seinen Platz in deinem Gesicht hat: eine größere Region, deren Umriss ich erkenne.» Das war wohl keine Redensart, denn ich spürte seit Minuten, wie eine echte Kraft in meine Wangen und meine Stirn strömte. Ich spürte, dass dort, zumindest für einen Moment, das Licht – nicht mein Licht, sondern das Licht der Welt – am Rande der materiellen Existenz vorrückte und vibrierte. […] Ohne das Licht, das wir in uns tragen, könnten sich unsere Augen niemals für die leuchtenden Objekte, für die Lichter der Welt öffnen. Wenn die Grundschwingung nicht in uns wäre, könnten wir niemals einen Ton wahrnehmen. Wenn die Liebe nicht in uns wäre, könnten wir niemals in dieses besondere Wesen verliebt sein, das wir – vielleicht unvorsichtigerweise – ‹unsere Liebe› nennen. Wenn Gott nicht in uns wäre, könnten wir niemals hoffen, Menschen zu werden. Das ist genau das, was diese so klare Begegnung im Atelier des Malers Jean bedeutete und wortlos sagte.
Auszüge aus ‹Le monde commence aujourd’hui› (Die Welt beginnt heute), Éditions de la Table ronde, 1959. Jacques Lusseyran berichtet über seine Begegnung mit Jean Hélion.
Übersetzung aus dem Französischen von Louis Defèche.
Bild Porträt von Jaques Lusseyran von Jean Hélion ‹Jacques Lusseyran›, 1958, Museum of Fine Arts, St Petersburg fl, USA, © 2024, ProLitteris, Zürich