Es gibt noch Gemeinschaften auf der Welt, die mit der Erde als Lebewesen leben. Sie bitten immer noch um Erlaubnis, auf das Feld zu gehen. Sie sprechen noch immer mit den Elementen. Sie sind immer noch dankbar. Sie beten immer noch für die Erde. Ein Gespräch mit drei Vertretenden, moderiert von Eduardo Rincón.
Anthoniselvi Savarimuthu Ich bin stolze biodynamische Landwirtin aus Tamil Nadu, Indien, einem Land mit einer Geschichte, die so reich ist wie sein Boden und einer Kultur, so alt wie seine Berge. Wenn wir von indischer Weisheit sprechen, denken die meisten Menschen an die Veden. Ich möchte jedoch die Aufmerksamkeit auf die 3000 Jahre alte tamilische Kultur lenken. Sie hat tiefgreifende landwirtschaftliche und ökologische Praktiken hinterlassen, die noch heute nachwirken. Die tamilischen Traditionen, die in der Sangam-Literatur aufgezeichnet sind, offenbaren ein tiefes Verständnis für die Verflechtung von Mensch, Natur und Kosmos. Das tamilische Sangam kategorisierte die Gedichte in ‹tinai›, die jeweils mit einer bestimmten Landschaft verbunden sind: Gebirge, Wald, Ackerland, Küste, Wüste – ein lebendes Ökosystem mit integrierter Flora, Fauna und menschlichen Aktivitäten. Die uralte Klassifizierung lehrt uns, die Vielfalt der Ökosysteme zu respektieren und die landwirtschaftlichen Praktiken an die spezifischen Bedingungen der jeweiligen Region anzupassen. Ich bin nicht nur die Tochter eines Bauern aus dem ländlichen Indien, sondern auch die Tochter der wunderschönen Berge meiner Region. Die Tamilen glauben an die Unantastbarkeit allen Lebens. Sangam-Dichter schrieben über Jäger, die ihre Wagen anhielten, um nistende Vögel nicht zu stören, und der große tamilische Philosoph Tiruvalluvar betonte die Gleichheit aller Lebewesen, egal, wie klein sie sind. Die sieben Lebensprozesse von Steiner haben auch bemerkenswerte Parallelen in der alten tamilischen Landwirtschaftsweisheit. Diese zeitlosen Prinzipien zeigen eine tiefe Harmonie zwischen Mensch und Natur.
Ich lerne, dass die Biodynamik keine andere Landwirtschaft ist. Sie ist Teil unserer indigenen Lebensweise. Indem ich sie mit den Praktiken meiner Vorfahren kombiniere, verleiht sie unserem Leben und unseren Lebensmitteln mehr Wert. Wir hatten sogar fünf bis acht Jahre lang eine Dürre, aber unsere Böden haben sich mit dem wenigen Regenwasser erholt. Nur dank der biodynamischen Landwirtschaft konnte die Qualität des Bodens verbessert werden.
Diego Porras Ich bringe Ihnen Stimmen aus Amerika, diesem Kontinent, der trotz seiner komplexen politischen Situation ein Symbol der Einheit vom Süden bis zum Norden ist. Ich akzeptierte und erlernte Biodynamik, weil mir, als ich mich zum ersten Mal einer Zeremonie zur Herstellung biodynamischer Präparate näherte, die Worte von Titamanuel, einem indigenen Ingano aus dem Süden Kolumbiens, wieder einfielen. Er lehrte mich, wie die Pflanzen selbst ihn lehrten, die Menschen in der Gemeinschaft zu heilen. Überall, von Süden bis Norden, finden wir diese Konzepte und Traditionen. In den südlichen Anden von Bolivien und Ecuador haben die Quechua und Aymara dieses wunderschöne Konzept der Pachamama, der Mutter Erde. Etwas weiter nördlich, im Südwesten Kolumbiens, haben die Misak und die Nasa das Konzept der Zusammenarbeit zum Wohle der Gemeinschaft. Im Norden Kolumbiens haben die Arhuaco ein Konzept der gegenseitigen Abhängigkeit von Mensch und natürlicher Umwelt. Weiter nördlich, in Guatemala, haben die Kʼicheʼ Maya einen Kalender, der jedem Tag eine besondere Energie verleiht und den Menschen unterschiedliche Stimmungen für ihre Arbeit beschert. Auch in dieser mesoamerikanischen Region gibt es das schöne Gesetz ‹In Lak’ech Ala K’in›, was bedeutet: ‹Du bist ich und ich bin du›. Wir sagen: «Ich bin ein anderes Du, und du bist ein anderes Ich.» Die Tzotzil in Südmexiko haben ein Wort, das die Erde und den Himmel miteinander verbindet. In diesen Regionen gibt es das Konzept der Minga: Zusammenarbeit für das Gemeinwohl. Es gibt einen Gebirgszug im zentralen Osten Mexikos, die Sierra de Zongolica, wo sie jedes Mal, wenn sie mit dem Pflanzen oder Ernten beginnen, eine ganz besondere Zeremonie abhalten, um Blumen und Früchte zu opfern. In all diesen Regionen gibt es ein schönes Konzept, das in den Anden ‹el buen vivir›, ‹das gute Leben› genannt wird. Aber wir können es mit der westlichen Vorstellung von Lebensqualität nicht wirklich verstehen. Die Weisheit der indigenen Völker verbindet uns mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Die Botschaft, die ich von Amerika und von der Weisheit der indigenen Völker im Süden überbringen möchte, ist eine Botschaft voller Hoffnung, voller Liebe und sehr optimistisch. Wir leben in einer sehr schwierigen Zeit, aber wir wissen, dass diese Weisheit immer da ist. Sie ist nicht etwas aus der Vergangenheit – sie ist jetzt.
Etha Widiyanto Meine Geschichte stammt von der Insel Bali, wo ich die meiste Zeit gelebt habe. Bali wird oft als Insel der Götter bezeichnet, denn es gibt dort diese Art von ‹Puja› (Opfergabenritual), die man im täglichen Leben sieht. Solcherlei Spiritualität, Kultur und Lebensweise wird auf der ganzen Insel seit Urzeiten praktiziert. Heute mögen einige dieser Praktiken leicht verändert sein, was sich jedoch nicht geändert hat und was wir immer noch auf fast dieselbe Weise praktizieren, voller Vertrauen und ohne Fragen, ist die ‹Bali Wariga›, der Weg zur Vollkommenheit. Es ist ein uraltes Wissen, das den alten balinesischen Kalender lehrt. Kaum ein Ereignis im balinesischen Leben findet statt, ohne dass vorher ein glücksverheißender Tag dafür ausgewählt wird. Dazu gehören Hochzeiten, der beste Tag, um Bambus zu ernten, Reis zu säen, Früchte zu pflanzen, Tiere zu züchten, ein Unternehmen zu gründen oder ein Haus zu bauen, und sogar ein guter Tag, um seine Schulden zu bezahlen. Diesen Kalender werden Sie beim Besuch auf Bali in jedem Haus finden. Nur einige Leute können den Kalender richtig lesen. Wir vereinbaren einen Termin und sprechen mit ihnen darüber, was wir vorhaben. Sie suchen dann einen Tag für uns aus. Und dann ist da der biodynamische Kalender unseres Vereins auf Bali. Er kommt dem unseren sehr nahe. Wir wollen keinen der beiden beschränken. Unsere einzige Möglichkeit ist, sie zusammenzustellen. Landwirte entscheiden: Wenn sie ein oder zwei Tage auf den richtigen Zeitpunkt warten können, dann warten sie. Andernfalls treffen sie ihre eigene Entscheidung und übernehmen ihre Verantwortung. Bali ist eine von 13 000 Inseln im indonesischen Archipel. Viele praktizieren indigene Landwirtschaft und haben einen Mond- und Sonnenkalender, den sie jeden Tag nutzen. Unser Ziel ist es also, unsere lokalen Weisheiten auf dem gesamten Archipel wiederzuentdecken, und zwar durch die verschiedenen Augen und Köpfe, Perspektiven und Lernmethoden.
Was ist in Ihren Gemeinschaften an alten Weisheiten noch lebendig, von denen wir in anderen Teilen der Welt lernen können?
Widiyanto Auf Bali fragen wir immer um Erlaubnis, wenn wir etwas anfangen. Heutzutage vergessen wir das manchmal. Es ist das Land unserer Vorfahren, und all dies gehört dem Universum. Wir leihen es uns. Und wenn wir am Ende die Ernte bekommen, bringen wir unseren Dank dar. Damit halten wir ein Gleichgewicht: nicht zu viel, gerade genug, damit wir essen können, nicht um das meiste Geld zu verdienen.
Savarimuthu Ich komme aus einer Gemeinschaft in Indien, in der 150 Bauern auf ihre eigene Art und Weise in kleinem Maßstab Landwirtschaft betreiben. Ich würde vorschlagen, gemeinsam Landwirtschaft zu betreiben und der Erde zu vertrauen und mit ihr zu arbeiten.
DP Ich denke, sich zusammenzuschließen, um für etwas zu arbeiten, das nicht dem Einzelnen oder einer Familie oder Gruppe, sondern der Gemeinschaft zugutekommt. Wir arbeiten mit Menschen zusammen, die über viele Verbindungen, Kenntnisse und Macht auf den internationalen Märkten verfügen. Diese bringen wir in einen Dialog mit indigenen Gruppen, bauen Beziehungen auf, die respektvoll und langfristig sind.
Welche Herausforderungen seht Ihr, wenn es darum geht, für die Zukunft zu arbeiten?
AS Die Menschen sind nicht bereit für die Gemeinschaft. Jeder Landwirt ist in seinem eigenen Ego. Er ist nicht in der Lage, in der Gemeinschaft zu arbeiten. Die modernen landwirtschaftlichen Praktiken, Geräte, Marketing oder bestimmtes Saatgut, versprechen hohe Erträge oder keine Schädlinge. Aber sie konzentrieren sich nicht auf die jeweilige Region oder den Boden, der beim Landwirt liegt.
Widiyanto Unsere Betriebe sind klein, der größte Betrieb hat zwölf Hektar. Wer kauft Biolebensmittel? Meistens Ausländer, die auf Bali leben, nicht unsere eigenen Leute. Das ist traurig für unsere Gemeinschaft. Ein Demeter-zertifizierter Betrieb ist für uns im Moment noch weit entfernt. Unser Ziel ist es also, allen klarzumachen: Wir bauen diese Lebensmittel zuerst für uns an, zuerst für unsere Familien. Die zweite Herausforderung sind unsere Feste, zum Beispiel ‹Tumpek Wariga›, der Tag, an dem wir den Pflanzen und Bäumen und dem Land Opfergaben bringen. Wir würden diese Tradition gerne beibehalten, sie der jüngeren Generation erklären. Deshalb veranstalten wir dieses Fest alle 210 Tage auf unsere Weise, um diese alte Geschichte auf eine andere Art und Weise zu präsentieren.
Porras Fragte man unsere Kleinbauern vor 15 oder 20 Jahren, so kannten sie die Zyklen der Ernten sehr genau. Das Wetter und die Natur gaben uns Signale, die Aktivitäten auf dem Hof waren klar. Aber jetzt ist das ganz anders. Wir haben Regenzeiten mit mehr Wasser und zu anderen Zeiten im Jahr. Die Trockenzeiten sind länger und wärmer. Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass die Gemeinden ein sehr geringes Einkommen haben. Die Konkurrenz durch Produkte aus anderen Märkten ist sehr groß. Für die Erzeuger und Familien ist es daher schwer, zu entscheiden, was sie auf dem Markt kaufen wollen. Es besteht Druck, Produkte aus den Städten und von großen Vertriebsmärkten zu kaufen. In Mittelamerika und Südmexiko gibt es außerdem eine starke Abwanderung nach Norden und in die Städte. Die Landwirte haben Schwierigkeiten, Arbeitskräfte zu finden.
Dennoch steckt in Ihrer Gemeinschaft viel Kraft und Hoffnung für die Zukunft, und Sie alle bringen diese Hoffnung zu uns.
Bild (von links nach rechts) Anthoniselvi Savarimuthu, Diego Porras, Etha Widiyanto. Fotos: Xue Li