Manchmal werden wir von Engeln berührt.
Wenn aus der Stille auf einmal sich das Herz füllt mit Dankbarkeit, deren Tränen aus dem Gemüt fließen und es für einen Moment selig wird, dann hat uns ein Engel seine Hand auf die Schulter gelegt. Er ist bei uns, steht hinter uns und stützt uns den Rücken, der nicht sehen kann. Dafür hat der Mensch einen Rücken, damit gewahrt wird, wie die Engel mit uns leben und unser Leben mit uns bezeugen: nämlich still, sanft und kaum merklich für uns. Die Engel wachen hinter uns, wo wir nichts sehen können. Sie halten unseren Rücken, all das, von dem wir abgewandt sind, und damit halten und sehen sie all das, was uns entgeht.
Die Engel halten unsere Vergangenheit, die hinter uns liegt. Sie ist ihren Händen ganz anvertraut, denn die Engel waren damals mit uns, bezeugen mit uns, was wir gesehen, gehört, gespürt haben. Sie sind ewige Zeugen, die mit den Menschen anerkennen, was ist. Sie sind Boten, nicht aus einer anderen Welt, sondern die Boten des Ewigen, des Urquells, der über und zugleich in uns wohnt und in dem wir wohnen.
Die Engel kommen nicht aus einer fernen Gegend, die für den Menschen fremd ist. Sie kommen aus der Heimat und bringen Trost, Einfälle, Dankbarkeit; Schätze, die in nächster Nähe des Urquells standen. So überbringen uns die Engel Botschaften, flößen sie unseren Herzen ein. Sie sind nie weit weg, und sie wahren oft Distanz, damit wir unverfälscht, so, wie es unserem Blickwinkel entspricht, die Wirklichkeit erfahren können. Auch wenn es dunkel um und in uns ist; die Engel sind nie weit weg und auch nicht der, der sie gesandt hat.
Ihre Augen sind Seine Augen. Durch die Augen eines Engels schaut Er. Es ist dies ein Blick so rein und wirklich, der in einem Schlag unser gesamtes Wesen durchleuchtet. Die Engel schauen, damit Er schaut. Und sie schauen, was ist. Deshalb kann uns ihr Blick manchmal so unversöhnlich erscheinen. Aber es ist nicht Unversöhnlichkeit in ihren Augen, denn sie sind so rein wie die Kinder, die ihnen unter Menschen vielleicht noch am meisten ähneln. Es kann dem Menschen die Reinheit, die absolute Schuldlosigkeit, das Sein, das uns durch den Engel anschaut, die Sprache verschlagen und unser Leben von Grund auf verändern. Alle unsere Unzulänglichkeiten, geheimen Lüste und Verstelltheiten liegen auf einmal in aller Deutlichkeit offen vor uns. Und der Engel verändert seinen Blick nicht, weil er all dies, was uns im Intimsten beschäftigt, immer sieht. – Wir aber verändern uns, wenn wir dem Engel ins Gesicht schauen, weil wir durch ihn vor uns selbst offengelegt werden. Die Wahrheit, die durch die Augen des Engels schaut, hat eine solche Durchschlagskraft, dass sie unser gesamtes Leben verändert. In einem Mal sind wir und die Welt völlig verändert – zum Guten.
Die Engel sind die stillen Beobachter, die aus unseren Herzen mit uns die Wirklichkeit bezeugen. Ihr Blick ist Sein Blick und Er sieht nur die Wirklichkeit. Deswegen ist der Blick eines Engels so entwaffnend. Er ist der stille Beobachter, der stille Zeuge, der alles mitgesehen hat, sodass vor Ihm, vor der Wahrheit, nichts verborgen ist. Vor dem Blick des Engels sind alle Dinge offengelegt, weil Er durch den Engel schaut. Es gibt nichts zu verstecken, da der Mensch sich nicht zu fürchten braucht, wenn seine Heimlichkeiten dem Engel vorliegen. Der Engel und Der durch den Engel schaut, kennen unsere Geheimnisse, und zwar noch besser, als wir sie selbst kennen. Was uns daran erschreckt, in der Tiefe gesehen zu sein, ist bloß, dass wir dem Irrtum aufsitzen, dass es etwas gibt, von dem der Engel nichts weiß.
Andreas Blaser (*1993) hat im Rahmen eines Stipendiums der Anthroposophischen Gesellschaft Deutschland über Kontemplation geforscht. Dabei sind Texte entstanden, die selbst kontemplativ sind. Wir veröffentlichen im kommenden Halbjahr hin und wieder Beiträge aus seiner Sammlung. Er lebt und arbeitet derzeit in Basel.
Bild Engelsskulptur aus Bronze von Rik ten Cate, ausgestellt im Goetheanum 2022. Foto: Xue Li