Die Sehnsucht der Engel

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Das 2024 erschienene Buch von Günther Dellbrügger ist ein hermeneutischer Kunstgriff, der es zugleich vermag, die Herzen und auch die Sehnsucht der Lesenden zu berühren.


«Zu den erschütterndsten Aussagen der Geisteswissenschaft gehört der Hinweis darauf, dass die geistige Welt einen Punkt in ihrer Entwicklung erreicht hatte, an dem sie aus sich selbst nicht weiterkommen konnte. […] In der Sinnenwelt müssen nun Fähigkeiten ausgebildet werden, die die geistige Welt zu ihrer Fortentwicklung braucht, und zwar durch den Menschen. Dazu mag das Vorstellungsbild helfen, dass auch die Götter eine Art Religion haben, das heißt etwas, zu dem sie aufschauen, dem sie Opfer bringen, und dass dies der Mensch ist.» Diese Zeilen schrieb Günther Dellbrügger 2001 in einer kurzen Notiz im ‹Goetheanum›. Erschütternd sind die erwähnten Aussagen für Menschen, für die die geistige Welt eine Realität ist, auch deshalb, weil sie die Aufforderung implizieren: ‹Du musst dein Leben ändern!› Denn das, was Gegenstand der Religion der Götter ist, kann nicht der Mensch sein, wie er gegenwärtig ist, sondern nur der, der er werden soll, das Menschenideal, wie es den Göttern bei der Schöpfung zugrunde lag.

In seinem neuesten Buch ‹Was wir den Engeln geben können – Wege zu einem lebendigen Zusammenwirken› greift Dellbrügger dieses Thema wieder auf. Mehrmals weist er darauf hin, dass bereits Paulus an die Korinther schrieb: «Wisst ihr nicht, dass sich an uns sogar das Schicksal von Engeln entscheiden wird?» (1 Kor 6,39) Wir Heutigen wissen das jedenfalls nicht. Wie kommt das? Dies ist Dellbrüggers zweites großes Thema. «Die Ausgangsthese dieses Buches ist: Der Mensch ist das, als was er sich selbst denkt. Das wird für die Zukunft der Menschheit entscheidend sein und macht das radikal Neue unserer Zeit aus. Wir stehen an einem Scheideweg. Alles hängt von uns ab!»1

Ich verstehe Dellbrügger so, dass für ihn die Möglichkeit einer menschenwürdigen Zukunft auch von einem veränderten Verhältnis des Menschen zu den Engeln abhängt. So könnte man im Sinne dieses zweiten großen Themas des Buches den Satz des Paulus reformulieren: Wisst ihr nicht, dass sich an unserem Verhältnis zu den Engeln sogar das Schicksal des Menschen entscheiden wird?

Das Buch ist in vier Kapitel und einen Anhang eingeteilt. Im ersten Kapitel geht es um Auffassungen vom Menschen, die unser Selbstverständnis geprägt haben und prägen. Verschiedene moderne Menschenbilder werden diskutiert, zum Beispiel evolutionstheoretische, transhumanistische und völkerrechtliche, die alle durch Einseitigkeiten oder naturalistische Verkürzungen gekennzeichnet sind. Welche Vorstellung vom Menschen soll uns in der Zukunft leiten? Dellbrüggers Resümee ist eindeutig: «Wir brauchen eine neue Perspektive auf den Menschen, eine Perspektive, die den Menschen als ‹Bürger zweier Welten› versteht, der irdisch-materiellen und der göttlich-geistigen Welt.»

Fragt das erste Kapitel danach, wie wir unser Menschsein zu denken gewohnt sind, geht es im zweiten Kapitel darum, wie der Mensch «im Blick der Götter» erscheint. Hier referiert Dellbrügger zunächst die Aussage Rudolf Steiners, dass der Abstieg des Christus aus der Engelwelt, um sich mit der Erde und den Menschen zu verbinden, für die hierarchischen Wesen ein Weggehen bedeutete, einen schmerzlichen Verlust ihrer Mitte. Seither finden sie den Christus nicht mehr in ihren Bereichen, sondern müssen sich an die Menschen wenden, für die er durch den Tod gegangen ist und bei denen er bleiben wird bis ans Ende der Erdenzeit (Mt 28,20). Die Todeserfahrung Christi ist eine Erfahrung, die nicht im Himmel gemacht werden kann, sondern nur auf Erden. Die Engelwesen sind davon abgeschieden. Sie begehren deshalb, zu erfahren. So lehrte bereits Petrus, was den Menschen verkündet wird von Christi Taten auf Erden (1 Petr 1,12). Sie können den Christus aber auch nicht im geschriebenen Wort finden, sondern müssen ihn in den Herzen der Menschen finden, die sich mit Christus verbunden haben und für die deshalb das Paulus-Wort gilt: «Nicht ich, sondern der Christus in mir.» Sind sie derart von Christus erfüllt und folgen ihm nach, dann leuchten sie für die geistigen Wesen wie Lichter in der Finsternis, wie Sterne am Nachthimmel. Dellbrügger beruft sich hier sowohl auf Rudolf Steiner (‹Die Verbindung zwischen Lebenden und Toten›, S. 111 f.) als auch auf Paulus, der schrieb: «Ihr sollt werden unter den Menschen wie die lichten Sterne im Weltall.» (Phil 2,15)

Überhaupt spielt Paulus eine Schlüsselrolle in diesem Buch. Er fragte nämlich erstmals, wie Auferstehung von den Toten überhaupt zu denken ist. Auferstehung im Denken nachzuvollziehen, verlangt aber bereits ein anderes, gestaltendes, ein imaginatives Denken. Dazu Dellbrügger: «Die Evangelien beschweigen es. Nach der Grablegung schildern sie sogleich den Gang der Frauen zum Grabe, nachdem er auferstanden ist. Paulus geht einen Schritt weiter. Er erhebt sein Denken zu der Frage, die eine neue Epoche einleitet: Wie ist die Auferstehung zu denken? (1 Kor 15) Er verwandelt sein Denken in ein höheres Wahrnehmungsorgan. In ihm denken die Engel! Die verschiedenen Blicke der göttlichen Wesen über den Menschen werden ihm offenbar. Er kann sie gedanklich formulieren in den göttlichen Namen, in den Ihr-seid-Worten.» Vier solcher durch Paulus vermittelten, den Blick der Hierarchien auf den Menschen veranschaulichenden Götterworte sind: «Ihr seid Gottes Acker, Gottes Bauwerk seid ihr» (1 Kor 3,9); «Ihr seid Gottes Tempel» (1 Kor 3,16); «Ihr seid Christi Leib» (1 Kor 12,27); «Ihr seid ein Brief des Christus» (2 Kor 3,3).

Es ist große hermeneutische Kunst, wie Dellbrügger in vier Unterkapiteln den jeweiligen gedanklichen Kern dieser bildhaften Aussagen entwickelt. Die Lesenden kommen hier in den besonderen Genuss seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Thema, sowie seiner profunden theologischen und anthroposophischen Kenntnisse. Die dabei entwickelten Gedanken lassen sich nicht in einer Rezension zusammenfassen, sondern müssen beim Lesen meditativ mitvollzogen werden. Es folgt ein kurzes Kapitel über Rituale als Orte der Begegnung von Menschen und geistigen Wesenheiten sowie ein Kapitel über ‹Das Wagnis Mensch›, das dessen innere Zerrissenheit anhand weiterer Ihr-seid-Worte aus Paulusbriefen erörtert. Das Buch endet mit einem Anhang, in dem Dellbrügger eigene Gedanken zur Paulusforschung sowie zu dessen besonderer, ‹moderner› Einweihung entwickelt. Paulus erscheint hier noch einmal als Richtungsgeber zukünftiger menschlicher Entwicklung, als «Apostel der Sophia», dessen Ihr-seid-Worte den Menschen erahnen lassen, was er aus göttlicher Sicht werden kann und soll: «Rings um uns her wartet alle Kreatur mit großer Sehnsucht darauf, dass in der Menschheit die Söhne Gottes zu leuchten beginnen.» (Rö 8,19)


Günther Dellbrügger Was wir den Engeln geben können – Wege zu einem lebendigen Zusammenwirken Verlag Urachhaus, Stuttgart 2024

Fußnoten

  1. Zitate aus dem Buch

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