Die Erschöpften

Die Zahl steigt weltweit: Menschen, die psychisch erkranken und nur eingeschränkt belastbar sind. Das betrifft auch Kinder und Jugendliche. Die Pandemieerfahrung hat sich besonders negativ auf sie ausgewirkt. Corona sei aber nur die Spitze des Eisbergs, meint Karin Michael, Kinder- und Jugendärztin und Co-Leiterin der Medizinischen Sektion am Goetheanum. Das Gespräch führte Franka Henn.


Wie erleben Sie den Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen nach der Corona-Zeit?

Ich muss dafür den Blick erweitern: Was sind Phänomene, die sich über die Kindheit hinaus in den letzten Jahren verdichtet und intensiviert haben? Erschöpfung ist ein zentrales Symptom. Wie steht es um die Kräfte von uns allen und der Natur? Von dort aus kann ich schauen, wie es Kindern und Jugendlichen geht. Wir müssen die Eltern, Lehrkräfte, Erzieherinnen usw. mitdenken. Daran schließt sich auch die Frage an: ‹Wie bin ich in meiner Kraft?› So fassen wir auch das Thema von unserem Lebenskräfte-Kongress Ende Mai auf (siehe Kasten). Es bleibt oft unverstanden, wie viel unsere Kraft von der Leibbeziehung abhängt, die sich in der Naturbeziehung spiegelt. Darum wollen wir auf dem Kongress auch Sinneserfahrungen ermöglichen. Denn wenn wir uns auf eine bestimmte Art und Weise fühlen, dann bekommen wir auch Zugang zu den Kräften in uns.

Woher rührt die überbordende Erschöpfung?

Das ist vielschichtig. Wir sind – durch Corona verschärft – aus unseren Rhythmen gefallen. Ohne Rhythmus in der Ernährung, im Schlaf, in der Begegnung etc. besteht eine grundlegende Entkräftung oder Erschöpfungsneigung – rein physiologisch. Auf der anderen Seite: Was macht das Nerven-Sinnes-System heute? Das ist bei vielen Menschen permanent reizüberflutet. Das verursacht Stress und reißt uns aus unseren Biorhythmen. Die Erschöpfung hängt also auch mit der Digitalisierung und Virtualisierung unserer Lebenswelten zusammen. Das fängt alles bei den Erwachsenen an, aber die Kinder wachsen darin auf und es erschwert ihnen eine gesunde Entwicklung.

Meinen Sie, es ist weniger interessant zu diskutieren, welche Folgen die Pandemiepolitik für Kinder und Jugendliche hatte? Geht es eher um die Effekte, die die langfristige (Un-)Gesundheit der Erwachsenenwelt auf die Kinder hat?

Corona hat wie ein Brennglas gewirkt. Der Ausnahmezustand hat auch das Erwachsenenleben beeinträchtigt und verändert und bereits bestehende Not ungemein verschärft. Manche Familien hatten Glück und konnten sich gut selbst organisieren. Aber in vielen Fällen ist der Rhythmus noch mehr zerbröckelt und die virtuelle Medienwelt ist noch mehr zur Nanny oder Lehrkraft geworden. Besonders drastisch war es natürlich für Alleinerziehende oder sozial benachteiligte Menschen, die auf eine Infrastruktur von außen angewiesen sind.

Welche Folgen beobachten Sie bei Kindern und Jugendlichen nach dieser Verschärfung?

Das Erschöpfungsphänomen zieht sich durch. Ein Kindergartenkind kann vieles wieder heilen durch intensivierte Bewegung, Naturerfahrung, Beziehungs-, Sinnes- und Rhythmuspflege. Jüngere Kinder kommen so wieder in ihre Kraft, ins Vertrauen, in ihre Selbstwirksamkeit und Lebensfreude. Es ist ein wesentliches Anliegen unseres von-Tessin-Zentrums für Gesundheit und Pädagogik in Stuttgart, wie man durch eine Veränderung des Schullebens auch ältere Kinder wieder stärken kann.1 Jugendliche wurden an einem sehr sensiblen Punkt getroffen und das ist nicht so leicht wie bei jüngeren Kindern auszugleichen. Sie wurden in einem Alter an Kontakten und Freiräumen gehindert, in dem Peergroups, Beziehungsentwicklung und Distanz zu den Eltern für ihre Entwicklung gesund und notwendig sind. Daraus ist Schmerz entstanden, aber auch Vereinsamung, Rückzug oder ein komplettes Aufgehen in einer virtuellen Parallelwelt. Wenn der seelische Schmerz nicht mehr auszuhalten ist, beobachten wir vermehrt Phänomene wie Ritzen und Essstörungen. Depression, Angst und Einsamkeit haben beunruhigend zugenommen. Außerdem ist die Mediensucht deutlich angestiegen. Jugendliche erreichen wir nicht einfach durch eine gesunde, kreative, naturverbundene Pädagogik. Manche sind so weit weggerutscht, dass sie das schlicht nicht mehr interessiert.

Es bleibt oft unverstanden, wie sehr unsere Kraft von der Leibbeziehung abhängt, die sich in der Naturbeziehung spiegelt.

Wie können Erwachsene oder die Medizin den Jugendlichen zur Seite stehen?

Meines Erachtens liegen in vielen Elementen der Waldorfpädagogik grandiose Heilmittel, aber diese sind an sich nicht beschränkt auf Waldorfschulen. Dazu gehört zum Beispiel Theaterspiel. Darin kann man sich in Rollen ausprobieren und in eine spannende Lebenswelt hineinversetzen, die Teilhabe wieder attraktiv macht. Auch Musik- und Tanzprojekte, Berufspraktika, soziales Engagement, Erfahrungen wie Feldmessen oder Landwirtschaft ermöglichen, dem festgefahrenen Alltag zu entkommen und sich intensiv neu zu erfahren. Das sind Perlen, die wir mehr einsetzen müssten und die das ganze Schuljahr durchziehen sollten. Es würde auch helfen, die Themen, die Jugendliche enorm bewegen, wo sie Not erleben, in den Fokus zu nehmen und sie selbst an Lösungen arbeiten zu lassen. Zum Beispiel beim Klimawandel. Das Selbstwirksamkeitserleben steht im Zentrum und die ehrlich vermittelte Aufforderung: ‹Es kommt auf dich an!› Diese Realitätserfahrungen führen wieder zurück zum Leben und zu anderen Menschen. Es gibt viel Evidenz dafür, dass eine kreative und realitätsbezogene Bildung der kognitiven Entwicklung nicht entgegensteht – im Gegenteil, sie fördert und ermöglicht jene erst richtig.

Das Heilsame liegt in der Erfahrung des eigenen schöpferischen Quells, ganz gleich, ob er künstlerisch, pragmatisch oder visionär ist?

Ja, und auch im Erlebnis am anderen. In echter Beziehung zu sein und den Unterschied zu meinen abstrakten Erlebnissen als Avatar im Internet, der vielleicht mit 100 unwirklichen Wesen in Kontakt ist, zu spüren, ist zentral. Die Sehnsucht, in Beziehung zu kommen und auch erste Sexualität und Berührung zu erleben, ist im Jugendalter groß.

Ist die Lage dramatischer für die jetzt jugendliche Generation?

Ich schaue gerne auf die positive Seite. Wir können noch viel mehr tun für Kinder und Jugendliche, die die Pandemieeinschränkungen erlebt haben. Vieles, was essenziell ist, war enorm erschwert. Insofern: Ja! Ich würde es als dramatisch bezeichnen und auf keinen Fall wiederholen wollen. Doch die grundsätzliche Herausforderung, zwischen virtueller und realer Welt zu leben und nicht darin verloren zu gehen, hat sich in den Jahren davor längst angebahnt. Um dem zu begegnen, müssen wir eine Pädagogik, die zu Gesundheit und Freiheit führen soll, grundsätzlich neu denken und tun.


Bild Karin Michael, Foto: Xue Li

Veranstaltung Vom 29. Mai bis 1. Juni findet am Goetheanum der internationale Kongress ‹Lebenskräfte erschließen in einer Welt der Erschöpfung› statt. Veranstalterin ist die interdisziplinäre Arbeitsgruppe Care I (Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit).

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Footnotes

  1. Infos unter: Tessin Zentrum
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