Das meiste habe ich von den Kindern gelernt

Das Feld der Inklusion ist weit. Ihre Vorteile jedoch sind überall und für alle gleich groß. Bart Vanmechelen, Teil des Leitungsteams der neuen Sektion, gibt anhand seiner Berufsbiografie einen Überblick über die Komplexität dieses Arbeitsfeldes.


Ob ich Lust hätte, die 4. Klasse zu übernehmen? An diese Frage hatte ich überhaupt nicht gedacht, als ich vor gut 33 Jahren in den Sommerferien die Parcivalschool, eine heilpädagogische Schule im Herzen von Antwerpen, besuchte. Zwar hatte ich während meines Studiums der Angewandten Psychologie eine breite theoretische Grundlage in Schulpsychologie und Didaktik der Lernbehinderung erworben. Und ich hatte dank meines Praktikums in der Sozialtherapie ein gutes Auge dafür entwickelt, wann es jemandem nicht gut ging. Auch hatte meine Ausbildung in Social Development am Emerson College mich gelehrt, wie künstlerische Praxis und die Gestaltung des Sozialen Lebenskräfte für die individuelle und soziale Entwicklung freisetzen können. Aber konnte ich auf der Grundlage dieses Wissens eine Gruppe von zehn Kindern mit Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten unterrichten? Die Situation war dringend: Die Lehrerin hatte während der Sommerferien beschlossen, an eine andere Schule zu wechseln, und das neue Schuljahr stand vor der Tür. So überraschend und unerwartet diese Frage auch war, sie hat mich tief berührt und einen starken Willen in mir geweckt. Sie erinnerte mich an die Worte von Bernard Lievegoed: An wichtigen biografischen Knotenpunkten hat man die Chance, seine innere und äußere Biografie zu verbinden. Nur so kann man das Leben in vollen Zügen leben und mit Herz und Seele für andere da sein. Könnte ich das für die Kinder tun? Könnte ich der Lehrer werden, der ihnen weiterhelfen kann? Meine Unsicherheit war groß, aber meine Willenskraft war geweckt. Ich fühlte mich gestärkt durch meine Kollegen, Kolleginnen und meine Frau, die als Kunstlehrerin an derselben Schule zu arbeiten begann. Sie gaben mir Zuversicht und sahen in mir Möglichkeiten, die ich selbst noch nicht kannte. Und das gab mir Mut!

«Ich werde schon kommen und das Klassenzimmer in den entsprechenden Farben lasieren, aber in der Zwischenzeit suchen Sie bitte weiter nach einem erfahrenen Lehrer», sagte ich zunächst. Während ich die Klasse vorbereitete, kamen die Kolleginnen und Kollegen und sagten mir, dass sie mir gerne mit Rat und Tat zur Seite stehen würden, um mir den Einstieg zu ermöglichen. Der erste Schultag rückte immer näher. «Suchen Sie trotzdem weiter nach einem ‹richtigen› Lehrer, ich werde die Kinder übernehmen, bis ein Lehrer die Klasse übernehmen kann.»

In Gesprächen mit der Lehrerschaft zeigte sich dann, dass die Schule als Organisation von den Erkenntnissen der anthroposophischen Organisationsentwicklung profitieren würde. Das war eine Gelegenheit, das Gelernte in die Praxis umzusetzen, und mein Funke. Sehr oft dachte ich an die weisen Worte von Jörgen Smit während einer Tagung der Jugendsektion: «Wir sind unseren Aufgaben nicht gewachsen, aber wir wachsen an unseren Aufgaben.» Fünf Jahre lang arbeitete ich dort mit vollem Einsatz und lernte durch Versuch und Irrtum alle Facetten dieses wunderbaren Berufs kennen: vom Selbststudium bis zur Selbstverwaltung, von Kinderkonferenzen bis zu Elternabenden und Hausbesuchen, vom Klassenspiel bis zum Weihnachtsspiel. Und im Vorstand von der Planung eines neuen Gebäudes bis zur Spendensammlung und den Verhandlungen über den Kauf von Bauland. Aber das meiste habe ich von den Kindern gelernt, in vielen kleinen Schritten.

Lebensfreude

Es wurde schnell klar, dass diese Kinder aus verschiedenen Gründen mehr Zeit zum Lernen benötigten. Sie brauchten mehr Wiederholungen und kleinere Übungsschritte, um ihre Konzentration und ihr Gedächtnis zu stärken oder ihre Feinmotorik zu verbessern. Es machte mir Spaß, Übungen zu finden, die ihnen dabei helfen konnten. Vor allem aber kämpften sie mit großer Unsicherheit und geringem Selbstwertgefühl. Sie hatten alle die Erfahrung gemacht, dass sie in ihrer früheren Schule zurückgeblieben waren, dass sie nicht immer richtig verstanden hatten, was von ihnen erwartet wurde, und dass sie in den Augen der Lehrer und Eltern versagt hatten und nicht mehr in der Schule bleiben konnten. Sie hatten ihre Freunde zurücklassen müssen und fühlten sich nicht wohl dabei. Es beeindruckte mich zutiefst, was dies in ihnen ausgelöst hatte. Mehr noch als die Vorbereitung von Übungen erforderte dies meine eigene vertrauensbildende Haltung der Vorsicht, Begeisterung und Ermutigung. Und wir arbeiteten hart daran, mit Spiel und künstlerischen Übungen, wieder Freude ins Leben und Lernen zu bringen.

So suchte ich den Kontakt zu den Förderlehrern und Heilpädagoginnen mehrerer Waldorfschulen. Ich konnte viel von ihnen lernen, versuchte sie aber auch zu motivieren, dafür zu sorgen, dass Kinder, die mehr Unterstützung brauchen, trotzdem in ihren eigenen Klassengruppen bleiben können. Wir haben über die Bedeutung einer guten Diagnose nachgedacht, aber auch darüber, wie man die Selbstverständlichkeit des Vertrauten bewahren kann. Wir lernten voneinander, wie wichtig die Zusammenarbeit mit Klassen- und Fachlehrern und Therapeutinnen ist und wie der Waldorflehrplan alle Facetten des Schullebens verbinden kann und gleichzeitig viele Möglichkeiten bietet, ihn auf jedes Kind zuzuschneiden.

Wertschätzende Blicke

Und so viel Dank schulde ich den Schulärztinnen und Ärzten, die aus der anthroposophischen Menschenkunde heraus Ratschläge geben konnten. Ich werde nie vergessen, wie der niederländische anthroposophische Arzt und Spezialist Ate Koopmans für Kinderbesprechungen uns bewusst gemacht hat, aus welcher inneren Haltung heraus wir Kinder beobachten können: «Dein Blick kann sie wertschätzen, sodass sie sich vertrauensvoll hingeben, oder er kann giftig sein, wenn du urteilend schaust, sodass sie sich schüchtern zurückziehen. Nur im ersten Fall kann man zu einer fruchtbaren Diagnose kommen.»

Nach der achten Klasse wurde ich gebeten, in einer kleinen heilpädagogischen Tagesstätte für Kinder mit schweren Mehrfachbehinderungen als Leitungskraft einem Team von Heilpädagoginnen und Therapeuten anzugehören. Aufgrund der Komplexität ihrer Behinderungen benötigen diese Kinder sehr viel Betreuung und Therapien. Doch auch sie können lernen, voll am Leben teilzunehmen, mit individueller Unterstützung. Die Lehrer und Lehrerinnen der Parcivalschool kommen, um sie in dieser Hinsicht zu unterstützen. Mein Schwerpunkt lag jetzt mehr auf der Politik und Unterstützung der Zusammenarbeit zwischen Mitarbeitenden, Eltern, externen Fachärztinnen und -ärzten und der gesamten Organisation, einschließlich der (subventionierenden) Behörden. So schaffen wir gemeinsam optimale Lernmöglichkeiten für Kinder, die keine Schule besuchen können, sodass ihr Recht auf Erziehung ebenso gewährleistet ist wie das Recht auf Betreuung und Pflege. Gleichzeitig wurde ich beauftragt, gelegentlich gemeinsam mit Lehrenden Kinder in Schulen unserer Region zu beobachten und die Lehrenden zu beraten, wie sie Kindern mit Förderbedarf in ihren Klassen helfen können. Auch hier wurde deutlich, dass dies nur nachhaltig ist, wenn es ein breit abgestütztes Schul-Leitbild gibt, in dem sowohl Lehrer, Eltern, (Schul-)Ärztin und Therapeuten aus einer gemeinsamen Sicht zusammenarbeiten können. Sehr intensiv und ergreifend waren oft auch die Elterngespräche, in denen ich erfuhr, welche Auswirkungen, aber auch welche neuen Lebens- und Erfahrungsbereiche sich eröffnen, wenn man ein Kind mit besonderen Bedürfnissen bekommt, und wie viel man durch gute Zusammenarbeit erreichen kann.

Auf diese Weise lernte ich die Herausforderungen kennen, denen sich Lehrerinnen, Heilpädagogen, Ärzte und Therapeutinnen heute zunehmend stellen müssen, und den individuellen Förderbedarf von Kindern, die sich nur schwer oder mit viel Unterstützung in die Regelklasse integrieren können. Es handelt sich um eine komplexe Dynamik mit vielen Dimensionen und Schichten, bei der jedes Mal ein Kreis von Menschen um das Kind gebildet werden muss.

Vielfältige Inklusion

Dies ist nur eine Geschichte aus einem beruflichen Werdegang, aber ich hoffe, sie vermittelt eine Vorstellung davon, wie viele verschiedene Themen rund um die Inklusion in den Schulen zusammenlaufen. Es ist faszinierend, auf unseren regionalen und internationalen Konferenzen zu sehen, welche Erfahrungen wir in diesem Bereich austauschen können. Einerseits gibt es weltweit eine große Vielfalt in der Organisation des Bildungswesens. Andererseits gibt es gemeinsame Entwicklungen und viel gegenseitige Anerkennung beim Austausch von Erfahrungen und den Herausforderungen, vor denen wir stehen.

So hat beispielsweise die 2006 verabschiedete Behindertenrechtskonvention weltweit einen starken politischen und gesellschaftlichen Impuls gegeben, um die Barrieren zu beseitigen, die Menschen mit Behinderungen daran hindern, ihre gleichen Rechte auszuüben. Ein möglichst barrierefreies Schulangebot für Kinder mit Behinderungen wird in diesem Zusammenhang als wichtige Voraussetzung gesehen. Wir stellen in vielen Ländern fest, dass die Politik hierauf entsprechend eingeht. Ziel ist es, so vielen Kindern wie möglich den Zugang zur Regelschule zu ermöglichen, gegebenenfalls mit angemessenen Anpassungen, und nur, wenn unbedingt notwendig, in einem besonderen Rahmen.

Dies ist nicht nur für Kinder wichtig, die zusätzliche Unterstützung benötigen. Alle Kinder profitieren davon, wenn sie von klein auf lernen, Rücksicht auf Mitschüler und Mitschülerinnen zu nehmen, die Schwierigkeiten haben oder deren Fähigkeiten auf einem ganz anderen Gebiet liegen. Außerdem können sie von und mit diesen Kindern oft besondere Sozial- und Lebenskompetenzen erlernen. Besondere Maßnahmen, die notwendig sind für die eine oder den anderen, kommen letztlich allen Kindern zugute.

Um eine Gesellschaft zu erreichen, in der alle Menschen, unabhängig von ihren Talenten und Fähigkeiten, die gleichen Rechte haben und diese voll ausüben können, ist es wichtig, dass alle Kinder und Jugendlichen die Fähigkeiten und Haltungen erlernen, die das möglich machen.

In unserer weltweiten heilpädagogischen Bewegung haben wir das Privileg, diese Entwicklungen aus einer großen kulturellen Vielfalt heraus zu betrachten und uns gegenseitig zu inspirieren. Aus diesem Grund haben wir in unserer Sektion eine internationale Onlinearbeitsgruppe eingerichtet, um mit- und voneinander zu lernen. Dort tragen erfahrene Kolleginnen und Kollegen Beispiele guter Praxis zusammen, um sie zu diskutieren und den Kolleginnen und Kollegen, die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im schulischen Kontext unterstützen, zur Verfügung zu stellen. Der Schwerpunkt liegt auf der Unterstützung von Lehrenden und Heilpädagogen und Heilpädagoginnen in der Zusammenarbeit innerhalb der Schule und mit Therapeutinnen und Ärzten. Auch die Zusammenarbeit mit den Eltern ist ein wichtiges Thema. Nicht zuletzt geht es um die Entwicklung von Übungen, die an die Fähigkeiten und die Lebensphase der Kinder angepasst sind. Und welche professionelle Haltung erfordert eine solch komplexe Dynamik? Aus welcher Kraftquelle fließen unsere Inspiration und Intuition?


Kontakt Wer seine Erfahrungen in diese Arbeitsgruppe einbringen und sie in Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen weiter ausbauen möchte, wendet sich bitte an Bart Vanmechelen: bart.vanmechelen@goetheanum.ch

Bild Volkstanz während der Tagung am Goetheanum, Foto: Matthias Spalinger

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare