In Jesus ist der Logos selbst persönlich geworden.1
Dieses Buch ist nicht das erste, womit Rudolf Steiner für das Publikum «ganz esoterisch wurde»2, denn dieser Schritt geschah schon anhand von Goethes ‹Märchen› im ‹Magazin für Literatur› 1899 (zu Goethes 150. Geburtstag). Es ist aber die erste so explizite Darstellung der Initiationswissenschaft. Damit stellt Rudolf Steiner die Weichen von einem akademischen zu einem spirituellen Weg.
Schritte zurück in der Zeit
Lange war das Buch vorbereitet worden, denn schon im Wiener Gespräch mit Wilhelm Neumann, dem Theologen, späteren Rektor der Universität und Zisterzienser-Ordenspriester, den Rudolf Steiner im Kreise um die Dichterin Marie Eugenie Delle Grazie traf, teilte er schon seine Ansichten über die Natur Christi und die Reinkarnation der Seele.3 In den früheren Publikationen nach diesem Gespräch finden sich davon zunächst keine Spuren. Das macht auch insofern Sinn, als Rudolf Steiner später öfter erläuterte, durch das philosophische Denken komme man zum Vatergrund der Welt, aber nicht unmittelbar zu Christus.4 Und zuerst hat er philosophische Schriften geschrieben, das heißt gezeigt, wie man mit dem Erdengehirn über den Geist, über die Fragen der Wahrheit und Freiheit denken kann. Damit findet man sich erst allmählich auch tatsächlich in die geistige Welt hinein. Wichtiger als das logische Schlussfolgern der Philosophie wird ab dann das geistige Erinnern. Das Esoterische geht hinaus auf den Ursprung, wandelt gewissermaßen zurück durch die Zeiten zu den Quellen unseres geistigen Lebens. Dementsprechend haben wir zuerst die drei rein philosophischen Schriften (GA 2 bis 4), dann eine Schrift über Nietzsche, dem er noch gerade im Leben begegnet war (GA 5) und als Nächstes das zusammenfassende Buch über den Geist Goethes (eine Geist-Biografie, nicht eine Lebensgeschichte im üblichen Sinne), wobei er Goethe nicht mehr auf Erden hat treffen können. Um die Jahrhundertwende schreibt er ‹Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert› (von Kant und Goethe bis Darwin und Haeckel), also über die Goethezeit und deren Folgen (erst später erweitert zu GA 18). Wir haben dann weiter die Darstellung des vorhergehenden Mittelalters und des Anfangs der Neuzeit in ‹Die Mystik› (GA 7). Dann erst geht es in das Altertum und das frühe Mittelalter mit ‹Das Christentum als mystische Tatsache› (GA 8). Also ein Weg zurück in der Zeit. Zeichnen wir einige Linien nach.
Der Weltengrund und die Freiheit
In ‹Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung› (GA 2) heißt es schon: «Der Weltengrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen; er hat sich nicht von der Welt zurückgezogen, um sie von außen zu lenken, er treibt sie von innen; […] Die höchste Form, in der er innerhalb der Wirklichkeit des gewöhnlichen Lebens auftritt, ist das Denken und mit demselben die menschliche Persönlichkeit.»5 Dadurch, dass der Mensch denkt und Geist hat, kann er sich zur Freiheit erheben. Der Mensch erlebt den Geist zunächst nur als Gedanken. Eben deswegen ist man ja frei, dadurch, dass man selbst denkt und der Weltengrund es uns Menschen überlässt, ihn zu verstehen. Wir Menschen finden – so am Schluss der ‹Philosophie der Freiheit› – den einheitlichen Weltengrund, die Idee als «gemeinsames göttliches Leben in der Wirklichkeit […] Die Welt ist Gott.6 Die Philosophie kommt hier zum Vatergrund. Der Christus findet sich hier nicht unmittelbar. Dazu braucht es die Frucht, die man sich erwirbt durch diese philosophische Schulung, eben «die Anschauung […], dass der Mensch in einer wahrhaftigen Geistwelt drinnen lebt. In diesem Buche ist erstrebt, eine Erkenntnis des Geistgebiets vor dem Eintritte in die geistige Erfahrung zu rechtfertigen.»7 Die Persönlichkeit ist geistiger Natur (deswegen sollen die Menschenwissenschaften ‹Freiheitswissenschaften› sein, so heißt es in den ‹Grundlinien›8. Der Philosoph (und jeder, der ernsthaft denkt) ist zwar unbewusst hellsehend, denn die Idee ist schon geistig. Man hat sich aber von den Gehirnwirkungen zu befreien, um sie bewusst zu erleben, eben als das «ungeoffenbarte Licht», das geistige Licht, das in dem Sinnenschein nicht (er)scheint.9
Zum weiteren Erleben des Geistes braucht es, kurz gesagt, das Aufgeben der irdischen Persönlichkeit. Da gehen wir über die Schwelle mit Goethes ‹Märchen›, denn die zentrale Tat ist dort dieses Opfer der Schlange: «Was ein Mystiker wie Jakob Böhme mit den Worten ausgesprochen hat: der Tod ist die Wurzel alles Lebens, das hat Goethe mit der sich opfernden Schlange zum Ausdruck gebracht.»10 Die Mystik ist geschichtlich gesprochen diese Überwindung des persönlichen Ich-Bewusstseins. Rudolf Steiners Buch ‹Die Mystik› schildert die verschiedenen Arten dieser Selbstüberwindung bei Meister Eckhart, Johannes Tauler, Jakob Böhme, Angelus Silesius und anderen. Auch wird die Problemstellung der mittelalterlichen Scholastik und der christlichen Dogmatik scharf umrissen. Der Gott ist nicht nur Erkenntnisbild der Seele, sondern lebt darin. Das eigene Leben im Innern ist Gottes Leben selbst. Das anzuerkennen, hinderte den Mystiker die dogmatische Theologie (Augustin), die Gott und Mensch durch den Sündenfall unverwischbar trennte.
Beachten wir, dass Rudolf Steiner es hier umgeht, sich mit Thomas von Aquin ausdrücklich auseinanderzusetzen. Wer aber den Hinweisen der Zitate von Karl Werner und Otto Willmann nachgeht, findet, dass sich Rudolf Steiner hier über seine eigenen Denkleistungen in seiner vorigen Inkarnation in der Scholastik aufklärte. Das Thema dieses Buches und die Selbsterkenntnis der Individualität gehen hier Hand in Hand.
Das Erkennen des Christus-Impulses
Wer über die Leibesgrenzen hinaus sich ins flutende übersinnliche Licht hineinfindet, wird Mühe haben, das Ich-Bewusstsein aufrechtzuerhalten. Er macht die Erfahrung, dass es ihm in dem Maße gelingt, als er sich im Sinnesbewusstsein ein Verhältnis ausgebildet hat zu Christus und dessen Tat auf Golgatha.11 Galt im christlichen Mittelalter, dass Christus die Auferstehung der gläubigen Seele bewirkt, und wirkte der Christus tatsächlich in den Seelenuntergrund, wurde dies deswegen noch nicht bewusst verstanden. Die Taten von Christus als Erwecker von Lazarus – historisch und überzeitlich zugleich zu erfassen, das war die Aufgabe, die sich Rudolf Steiner in ‹Das Christentum als mystische Tatsache› stellte.
Einen großen Unterschied muss die unbefangene Beobachtung zwischen den vorchristlichen und den christlichen Mysterien feststellen. Das alte Mysterium war die Wiedergeburt des der Natur verborgenen Göttlichen in der menschlichen Seele. Die niedere Natur im Menschen muss dazu erst «zu Grabe getragen werden». Davon sprechen die Mysterien in verschiedenen Zeiten und Ländern unterschiedlich, doch einig sind sie darin, dass der Mensch aus sich heraustreten sollte, um das Göttliche auferstehen zu lassen. Bei Christus selbst ist nun umgekehrt die Initiation nur die Taufe im Jordan, die Innewohnung der Christuswesenheit in Jesus, das Fleischwerden des Wortes. Durch Tod und Auferstehung, als er sich enthüllt für seine Gemeinde, wird offenbar, dass das Geistige im Irdischen Bestand hat: «In Jesus ist der Logos selbst persönlich geworden.» Durch völlige Überwindung der irdischen Persönlichkeit durch den Logos ist der Gegensatz der Seele und des Geistes gehoben. Im Vergleich zu den antiken Mysterien darf man sagen: In Jesus ist Person geworden, was uralte Tradition in den Mysterien war. Der Vater ist in der Seele ganz tätig geworden. In Jesus ist Christus dessen ‹Ich› geworden. Diese Vergottung muss «dem Menschen als das größte Ideal erscheinen, mit dem er sich durch seine wiederholten Leben in der Zukunft immer mehr vereinigen soll.»12 Was vielleicht gleicherweise schon in Wien zu Pater Neumann zum Ausdruck kam.
Persönliches – Überpersönliches
Im Buch finden wir Darstellungen der alten Mysterien, der Evangelien und der Apokalypse, wie auch den Mysterienhintergrund der griechischen Philosophie von Heraklit bis zu Platon und den Neuplatonikern. Über Aristoteles, den Urheber der abendländischen wissenschaftlichen Philosophie, die mit den reinen Gedanken arbeiten wird, schweigt Rudolf Steiner. Nachdem er sich aber diese Position von Christus als Initiator der zukünftigen Kulturepochen klargemacht hatte, konnte er seine Philosophie in eine Anthroposophie, die mit dem Christus-Impuls im menschlichen Ich rechnet, übergehen lassen und Geisteslehrer für einen neuen Schulungsweg werden.
Veranstaltung
‹Rudolf Steiner lesen und verstehen›. Studientagung der Sektion für Schöne Wissenschaften am Goetheanum, vom 1.–4. Mai 2025 mit Andre Bartoniczek, Anna-Katharina Dehmelt, Ariane Eichenberg, Volker Frankfurt, Eckart Förster, Christiane Haid, Jaap Sijmons und Renatus Ziegler.
Mehr Infos Sektion für Schöne Wissenschaften
Fußnoten
- GA 8 (1989), S. 107.
- GA 28 (2000), S. 392. Die Worte beziehen sich auf den Vortrag mit dem gleichen Titel wie der Aufsatz ‹Goethes geheime Offenbarung› für den Kreis von Gräfin und Graf Brockdorff. Der Aufsatz selber sei aus dem «Vorhof der Esoterik» noch «wenig esoterisch» (ebd. S. 391).
- GA 28 (2000), S. 126.
- GA 137 (1993), S. 57–58.
- GA 2 (2022), S. 125.
- Erstausgabe, Berlin 1894, S. 238–239.
- GA 4 (2021), S. 9.
- GA 2 (2022), S. 117.
- GA 137 (1993), S. 48–53.
- GA 30 (1989), S. 94.
- GA 137 (1993), S. 154 und GA 25, Kap. VII und VIII.
- GA 8 (1989), S. 151.