Ziemlich spontan wollte sich Mitte Oktober eine Möglichkeit einstellen, den jungen israelischen Omer und die dreißig Jahre ältere palästinensische Faten zusammenzubringen.1 Wir wurden Zeugen eines großen, leisen Ereignisses.
Omer Eilam Alles begann vor ein paar Wochen, als ich mein Gedicht ‹Israel› an die Redaktion der Wochenschrift schickte. Gilda schlug dann vor, dass wir drei uns zu einem Gespräch treffen könnten, das die aktuellen Ereignisse und die Geschichte, die zu diesem Punkt geführt hat, aus israelischer, palästinensischer und deutscher Sicht beleuchtet. Zu dieser Zeit besuchte ich meine Familie in Israel, und Faten war in Bethlehem. Es ist ironisch und traurig, dass wir uns geografisch so nahe waren, aber uns aufgrund der politischen Realität nicht persönlich treffen konnten. Ich darf nicht nach Bethlehem und sie nicht nach Israel einreisen. So mussten wir auf eine andere Gelegenheit warten. Diese ergab sich ganz zufällig, als Gilda Berlin besuchte und feststellte, dass Faten wegen einer Vortragsreise in Deutschland ebenfalls dort war. Wir trafen uns in den Räumen der Stiftung Kulturimpuls, bei Bodo von Plato, meinem ehemaligen Lehrer am Goetheanum und einem lieben Freund. Mit uns waren zwei andere Frauen, die im Rahmen einer Studiengruppe über Ästhetik dort waren.
Als ich eintrat, saßen bereits alle an einem großen Tisch, auf dem eine Reihe von Gebäckstücken lag, darunter auch kleine Brownies, die Gilda gebacken hatte. Sie erinnerten mich an jene, die meine Mutter buk, als ich klein war. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde tauchten wir in das tiefe Wasser ein: Faten wurde gefragt, ob sie die Beziehung zwischen ‹durchschnittlichen› palästinischen Menschen und der Hamas erklären könne. Das ist eine von vielen Fragen, bei denen man, um eine sinnvolle Antwort geben zu können, Schritte bis ins Unendliche zurück machen muss. Und das tat Faten. Sie beschrieb detailliert und weit über eine Stunde lang die ethnischen Schichten der israelischen Gesellschaft, die Verbindung zwischen arabischen und europäischen Juden, das Osloer Abkommen und die Ermordung von Jitzchak Rabin, den Rückzug aus dem Gazastreifen und die Übernahme durch die Hamas, den begrenzten Charakter der Demokratie im Westjordanland und die Dynamik zwischen jüdischen Siedlerfamilien und ihren palästinensischen Nachbarn. Während ihrer Rede spürte ich stark den Drang, sie zu unterbrechen, nicht weil ich mit den Dingen, die sie sagte, nicht einverstanden war, sondern weil ich das Gefühl hatte, dass wir nur eingefahrene Denkmuster verstärken und noch tiefer in den Schlamm sinken würden. Doch etwas hielt mich davon ab: eine innere Stimme, die sagte: «Jetzt hörst du einfach zu.» Und das tat ich.
Als Faten fertig war, waren einige von uns von der schieren Menge an Informationen überwältigt und konnten sich keinen Ausweg aus dieser Katastrophe vorstellen. Gilda und Bodo fragten, wo all diese äußere Gewalt uns innerlich trifft und betrifft. Meine Antwort ging von der kürzlichen Ermordung des Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah aus, und wie Ministerpräsident Netanjahu daraufhin sagte, dass diese Ermordung «mit demjenigen abrechnet, der für die Ermordung unzähliger Israelis verantwortlich ist […]». Das Motiv für die Tötung war keine Analyse aus Sicherheitsgründen, sondern reine Rache. Diese Rache richtet sich nicht nur gegen Nasrallah und hört auch nicht bei ihm auf. Sie setzt ihre Reise in die Vergangenheit fort und macht Stationen bei der Zweiten Intifada, will alle Israelis rächen, die bei Selbstmordattentaten ums Leben gekommen sind, kommt zum Jom-Kippur-Krieg, will die Illusion der militärischen Überlegenheit Israels zurückgewinnen, die damals zerschlagen wurde. Aber das ist noch nicht alles. Sie geht weiter in die Zeit von Nazideutschland und dem Holocaust, wo das Blut von Millionen von Menschen, die in die Gaskammern geschickt wurden, den eigenen Blutdurst nährt. Und sie setzt ihre Reise in die tiefe Vergangenheit durch Jahrhunderte des Antisemitismus fort.
Doch diese karmische Welle von Gewalt und Rache, die uns in bestimmten Momenten der Geschichte überrollt, ist nicht auf das jüdische Volk beschränkt. Muslime und Christen kennen sie auch, wenn sie als Minderheiten leben. Und Afrikanerinnen und indigene Völker. Und die Liste geht weiter. Diese Welle ist eine universelle Welle, die tief in unserem Bewusstsein verankert ist und sich im Laufe der Geschichte auf einzigartige Weise manifestiert hat. Ich stelle sie mir erneut vor, diesmal nicht rückwärts, sondern auf mich zugehend, mich mit ihrem ganzen historischen Gewicht konfrontierend. Kann ich mich der Welle stellen, sie über mich hinwegspülen lassen und dabei aufrecht bleiben und nicht unter ihrem Gewicht zusammenbrechen? Kann ich beschließen, dass dieses Karma bei mir aufhört?
Dann erzählte ich von meinem Freund Aviv, der mir vor Jahren, als ich eine schwere Depression hatte, so sehr geholfen hat und der jetzt in Israel versucht, Heilungszeremonien für Israelis und Palästinenserinnen und Palästinenser zu organisieren. Und Faten erzählte von ihrem Freund Elias aus Gush Etzion, der sich in einer Initiative engagiert, um die Idee einer jüdisch-palästinensischen Föderation als mögliche Lösung des Konflikts zu fördern. Er meinte, diese Idee sei so schwer zu ‹verkaufen›, da sie im Wesentlichen auf gegenseitigem Vertrauen beruht, an dem es derzeit so sehr fehlt. In einer Nachrichtensendung, die ich vor einigen Tagen im deutschen Fernsehen gesehen habe, wurden Israelis und Palästinenser und Palästinenserinnen zu ihren Zukunftsaussichten befragt. Ihre Antworten waren praktisch identisch: Die Israelis sagten, dass sie nach dem 7. Oktober 2023 den Palästinensern nicht mehr vertrauen können. Und die palästinensischen Menschen sagten, dass sie nach dem, was sie in Gaza getan haben, den Israelis nicht mehr vertrauen können. Vielleicht ist das der Grund, warum wir alle hier in Berlin zusammengekommen sind – Israeli, Palästinenserin und Deutsche –, um das Vertrauen zu schaffen, dass es auf beiden Seiten noch Menschen gibt, die sich für den Frieden einsetzen und bereit sind, dafür zu arbeiten.
Am Ende des Treffens umarmten Faten und ich uns. Dann nahm sie eine hölzerne Brosche in Form der Taube, die den Ölzweig bringt, von ihrem Pullover und befestigte sie an meinem Hemd. Am Samstag darauf sang ich zusammen mit meinem Chor bei einem Friedenskonzert in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin. Ich trug die Brosche von Faten.
Hoffnung zum Überleben
Faten Mukarker Das Treffen mit Omer hat mir wirklich gutgetan. Es tut gut, wenn ich Menschen treffe, die noch an etwas glauben wie Zukunft und Versöhnung. Solche Menschen sind in Israel und Palästina rar geworden. Und es macht einen Unterschied, wenn man einem Menschen gegenübersitzt. Ich treffe ja sonst nie Israelis. In Deutschland höre ich oft, dass es in Israel/Palästina mit uns nie was wird. Diese Einstellung können wir uns, die dort leben, nicht leisten. Denn wir brauchen die Hoffnung nicht nur zum Leben, sondern zum Überleben. Der Hass, der geschaffen wurde, die Trauer darüber, was dieser Konflikt mit Menschen gemacht hat, ist unfassbar. Das Schlimmste ist, was wir auf beiden Seiten unserer Jugend damit antun. Einige sagen, dass wir mit der anderen Seite sprechen müssen. Aber es gibt viele, die das nicht mehr wollen. Ich hätte nie im Traum gedacht, dass die Welt zulassen würde, was jetzt in Gaza geschieht. Dieser Konflikt zeigt mir die Unmenschlichkeit dieser Welt und ihre Doppelmoral.
Es war nicht einfach für mich, Omer zu begegnen. Ich wusste ja gar nicht, wer das ist. Ein Israeli – da kommen sofort Bilder hoch. Das ist für ihn bestimmt genauso. Aber ich wollte ihn treffen und hören, ob es noch Israelis gibt, die sehen, dass in Gaza unschuldiges Blut fließt? Und er sieht es.
Zum Ende umarmten wir uns und er hatte mein Herz bewegt in seiner Art, wie er da saß, was er sagte. Ich bin ja auch nur ein Mensch. Er ist ein Lichtblick. Aber ein Lichtblick ist wie ein Augenblick. In dieser ganzen Dunkelheit ist er ein kleines Licht. Aber wir brauchen Licht. Netanjahu sagte, wir seien die Söhne der Finsternis und sie seien die Söhne des Lichtes. Wir waren an diesem Nachmittag zwei kleine Lichter in der Nacht. Mein Volk und sein Volk brauchen Heilung. Und wenn ich nicht selbst bei mir beginne, wird es nicht geschehen. Doch dafür muss das Töten aufhören.
Danke Omer, dass es dich gibt. Wir dürfen uns nicht nur als Masse wahrnehmen. Wir müssen jeweils unserem Volk zeigen, dass es auch auf der anderen Seite Menschen gibt, die menschlich geblieben sind.
Entwicklung im Unmöglichen
Bodo von Plato Wie ist eine Situation lebbar oder sogar lösbar, die historisch so gewachsen ist, dass ihre Gegenwart tödlich und ohne jede Aussicht ist? In Israel verschließen Erfahrung, Erzählung und Interessen alle lebbaren Entwicklungen – von den ganz menschlich-persönlichen bis zu den weltpolitischen. Egal auf welcher dieser Ebenen, eine Öffnung wird vermutlich letztlich in der Begegnung von Mensch zu Mensch ihren Maßstab finden. Und in einem Dritten.
Faten und Omer konnten sich nicht in Israel begegnen. Aber in Deutschland, in Berlin, in der Stiftung Kulturimpuls, die der Entwicklungsforschung gewidmet ist. Bevor sie ankamen, schienen mir die Begegnung und das Einander-Verstehen trotz der historischen und gegenwärtigen Gegebenheiten möglich. Als sie da waren und die Erzählung begann, glaubte ich immer weniger daran. Die gewachsene Entfernung schien zu groß, der Generationengraben zu tief, die Fremdheit zu tragisch.
Erst als die Zuhörenden, die nicht unmittelbar Betroffenen, die Zeuginnen und Zeugen ihre Sehnsucht nach dem scheinbar Unmöglichen einbrachten, ihre Sehnsucht nach dem Darüber hinaus, nach dem Menschlichen, änderte sich alles. Und nicht nur Begegnung und Verständnis, aber Zuwendung und Verbundenheit wurden möglich.
Die Verantwortung für Entwicklung im Unmöglichen scheint bei den anderen zu liegen, in ihrer Zeugenschaft, die sich geltend macht.
Gilda Bartel Ich kann nicht sagen, was die Rolle von Deutschland in diesem Treffen war. Ich war als Mensch anwesend, nicht als Deutsche. Wenn ich jedoch darüber nachdenke, würde ich gern einem Land angehören, das sich für den Frieden einsetzt, das Waffenlieferungen verweigert, egal in welchen Teil der Welt. Ich würde gern einer Nation von Friedensstiftenden angehören. Da dehnt sich das Wort Nationalität auf, vielleicht trifft nicht mal mehr Nation zu. Liegt hier bereits eine Schwelle zu einer Gemeinschaft, die über irdische Blutsbande hinausgeht und sich der Aufrichte und Aufrichtigkeit anvertraut? Wir hinterlassen Spuren aufeinander, solche und solche. Wir bilden neue Kontinente.
Israel
Ein Land wie ein Kind
Aus der Not geboren
Mit jahrhundertealten Narben
So tief
Es kennt sich nur damit.
Alte Wunden
Sie neigen zum Jucken
Rufen hungrige Nägel
Auf allzu empfindliche Haut.
Blut fließt
und quillt
und ertränkt
Jede Hoffnung auf Frieden.
Mit einem Finger wischt Es eine Träne ab
Mit dem anderen drückt Es tausend Abzüge.
Das Zittern
der Tragfläche
des Flugzeugs, als die Bombe abgeworfen wird
Spürt Es schon nicht mehr.
Das Blut seines Bruders schreit aus dem Boden
Aber sein eigenes Blut schreit lauter.
Das Komische an Blut ist …
Die richtige Menge sagt uns, wir sind Menschen.
Zu viel verwandelt uns in Tötungsmaschinen.
Sie sagen, Frieden verkauft sich gut …
Es weiß, seine Narben verkaufen sich besser.
Also benutzt Es sie
Um seine ganze Existenz zu rechtfertigen.
Doch auf dem Markt geht es heute vor allem um frisches Blut
Und obwohl die Menschen des Kämpfens müde sind
Sind sie noch nicht müde, Waffen zu verkaufen
Und Es nur allzu begierig, zu kaufen.
Nun ist Es also der Tyrann der Nachbarschaft.
Sie können nicht sehen, dass Es schmerzt;
Es kann nicht sehen, dass Es andere schmerzt …
Israel,
du hast großes Leid erduldet
und es auch zugefügt.
In dieser Dämmerstunde,
möge dein Schmerz dich verwandeln,
möge er dein Herz brechen
und tief in deine Seele eindringen,
um den Samen der ewigen Liebe zu finden,
der sich auf alle
durch alle
in allem
ausbreitet.
Mögest du frei sein, diesen Kreis der Gewalt zu beenden
und den Weg zum Frieden zu wählen.
Omer Eilam
Bild Faten Mukarker (rechts) und Omer Eilam. Foto: Bodo von Plato