In ‹Die Sphinx des digitalen Zeitalters – Aspekte einer Menschheitskrise› schildert Rainer Patzlaff eindrücklich und sachkundig die Entwicklungsaufgabe, vor der wir als Menschheit im beginnenden Zeitalter der Bewusstseinsseele stehen. Meistern wir die Aufgabe, winken ein erhöhtes Bewusstsein und übersinnliche Fähigkeiten. Scheitern wir, droht in ‹Ahrimans digitalen Klauen› der Verlust der Freiheit und Würde unserer Individualität.
In ‹Die Erziehung des Kindes› erklärte Rudolf Steiner, dass die Aufgabe des Ich darin besteht, «dass es die anderen [Wesens-]Glieder von sich aus veredelt und läutert. […] Es heißt der [menschheitlich] vom Ich aus umgewandelte Astral- oder Empfindungsleib die Empfindungsseele, der umgewandelte Ätherleib wird Verstandesseele und der umgewandelte physische Leib die Bewusstseinsseele genannt.»1 Diese Umwandlung der Leiber geschieht gleichzeitig, geht jedoch mit jeweils unterschiedlicher Geschwindigkeit voran, sodass man von verschiedenen Umwandlungsphasen, von verschiedenen Kulturzeitaltern der Menschheit sprechen kann. Dem Kulturzeitalter der Empfindungsseele folgte zuletzt, mit Beginn der Antike vor gut 2500 Jahren, die Verstandesseelenkultur. Seit dem 20. Jahrhundert treten wir in das Kulturzeitalter der Bewusstseinsseele ein.
Das Rätsel der Sphinx
In einem ersten Erzählstrang führt Patzlaff zunächst aus, dass der Übergang von einem in das nächste Kulturzeitalter stets gekennzeichnet ist von einer Verengung, einer Schwelle, an der sich alle Entwicklungsimpulse auf eine letzte große Aufgabe konzentrieren und an deren Ende sich eine neue Zeit ausbreitet. Im anbrechenden Zeitalter der Verstandeskräfte standen wir vor der Aufgabe, aus dem mythischen Denken heraus ein eigenständiges Denken, ein Selbstbewusstsein zu entwickeln, mit dem der Mensch des neuen Zeitalters in Freiheit sich selbst bestimmen kann. Als Signum dieser Schwellenaufgabe gebrauchten schon die frühen Griechen das mythische Bild vom Rätsel der Sphinx, jenem Untier, das den Zugang zur Stadt Theben versperrte und jeden tötete, der nicht ihr Rätsel lösen konnte:
Was ist das?
Morgens geht es auf vier Beinen, mittags auf zwei und abends auf drei.
Und es ist am schwächsten, wenn es die meisten Beine hat.
Heute naheliegend, verlangt des Rästels Lösung jene Art abstrakter Denkleistung, die den Menschen damals fremd war. Sie verfügten noch über ein dämmerhaftes Hellsehen, wodurch mit jeder sinnlich-äußeren Wahrnehmung auch übersinnliche Wesenheiten der geistigen Welt wahrgenommen wurden. Erst durch das Hingeben der Verbundenheit mit der geistigen Welt war es dem Menschen möglich, das Rätsel der Sphinx zu lösen, von der «anschaubaren Wirklichkeit eines Säuglings, eines Erwachsenen und eines Greises völlig abzusehen und die drei Erfahrungen auf ein einziges Merkmal zu reduzieren, nämlich die Anzahl der Beine»2. Aus dem abstrakten Denken heraus war es in der Folge möglich, sich von der Welt zu unterscheiden und als Eigenwesenheit zu empfinden.
Die Sphinx des digitalen Zeitalters
Seither hat der Mensch das abstrakte Denken mit der Entwicklung der Logik und der diskursiven Argumentationskultur perfektioniert und mit der Erfindung des Computers ganz und gar vom menschlichen Denken und seiner Wahrnehmungswelt abgelöst. Die Individualität konnte gleichsam zu einem starken Selbstbewusstsein erwachen, das unabhängig von allen Seinsgemeinschaften auf eigenen Beinen steht. Wir haben das Entwicklungsziel der Verstandesseelenkultur erreicht!
Was uns jedoch menschheitlich abhanden gekommen ist, ist die Verbundenheit zur geistigen Welt. Diese Verbundenheit zurückzuerobern, so Patzlaff, und als eine nun selbständige Wesenheit wieder einzutreten in die geistige Welt, darin besteht die heutige Schwellenaufgabe. Es ist wichtig, dass wir diese Aufgabe angehen, denn das abstrakte Denken, losgelöst von jeglicher Spiritualität, entwickelt nun eine Neigung zum Bösen, auf die schon Steiner hingewiesen hatte und die auch Patzlaff auf dem Vormarsch sieht. Damit einhergehend pervertiert auch unser Selbstbewusstsein in einen immer brutaler werdenden Egoismus. Es entstehen Gefühle von Enge und Einsamkeit, die wiederum eine Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach Wiederverbindung mit der Welt und den Menschen schüren.
Verbunden über die geistige Welt, würde sich diese Sehnsucht in aller Vollkommenheit erfüllen. Am Ende spricht Patzlaff davon, dass nach Überschreiten der Schwelle die Fähigkeit des geistigen Hörens wartet, das Weltenwort, das alle Menschen bei voller Wahrung ihrer Individualität miteinander verbindet und uns eine übersinnliche Wahrnehmung reiner Gedanken und Empfindungen ermöglicht.
Wie aber verbinden mit der geistigen Welt? Steiner deutete an, dass wir einer Zukunft entgegengehen, in der sich auf natürliche Weise wieder gewisse hellseherische Fähigkeiten entwickeln werden. Trotzdem kann niemand in der geistigen Welt bestehen, der nicht ausreichend auf die Loslösung des Bewusstseins vom materiellen Körper vorbereitet ist. Und darum wartet, so Patzlaff, als Sphinx des digitalen Zeitalters jene Gestalt an der Schwelle, die «zu allen Zeiten demjenigen entgegentritt, der in bewusster Weise als Einweihungsschüler auf die Schwelle der übersinnlichen Welt zugeht»: der Hüter der Schwelle, der nur diejenigen passieren lässt, die ihren Doppelgänger, der aus unseren «Schwächen, Einseitigkeiten, Egoismen, Begierden, verborgenen Trieben und Gelüsten bis hin zu verbrecherischen Neigungen» besteht, bezwungen und in ein altruistisches höheres Selbst verwandelt haben.
Die Herausforderung, vor der wir stehen, ist gewaltig, und es ist nur allzu verständlich, wenn wir davor zurückschrecken. Dennoch könnte man, schlicht mangels Alternativen und mit der stetig zunehmenden Sehnsucht nach übersinnlicher Verbundenheit im Nacken, darauf hoffen, dass immer mehr Menschen den Willen aufbringen, ihren Teil der Herausforderung anzugehen. Die Situation mag ein wenig erinnern an Gnu-Herden, die auf ihrer Wanderung durch die Serengeti den Grumeti-Fluss durchqueren müssen, mit steilen Ufern, starker Strömung und hungrigen Krokodilen. Die Herde hadert, gewahr der Gefahren, doch der soziale Druck wird schließlich so groß, dass sich die ersten in den Fluss wagen, weitere folgen. Und dann gibt es kein Halten mehr.
Ahrimans List
Ein zweiter Erzählstrang zieht sich durch das Buch, der sich immer mehr mit den Ausführungen zur Menschheitsentwicklung verstrickt und eine bemerkenswerte Dramaturgie erzeugt. Er wird durch einen kurzen Blick auf die Digitaltechnik eingeführt, angefangen bei der Entwicklung der Telegrafie mittels Morse-Codes im 19. Jahrhundert und dem Prinzip von Quantisierung und Binärcodes. Es folgen sachkundige Ausführungen zur Entwicklung von Fernsehen, PC, Internet, Smartphone und künstlicher Intelligenz sowie zu aktuellen Verfahren zur Generierung und Manipulation von Bild und Ton, virtueller Realität und humanoider Robotertechnik. Den Zusammenhang zur Menschheitsentwicklung könnte man mit dem hinterlistigen Bau einer Scheinschwelle beschreiben, die einen eleganten Übergang verheißt, in Wahrheit aber in die kollektive Gefangenschaft führt – Ahrimans teuflische List.
Mit dem Wiedereintritt in die geistige Welt steht uns ein übersinnliches Kommunikationsmedium in Aussicht, durch das wir, «im live gesprochenen Wort von Mensch zu Mensch», die innere seelische und geistige Wahrheit unseres Gegenübers verstehen. Lügen, täuschen, verwirren, dies alles hätte ein Ende – ein Horrorszenario für das ahrimanische Böse, welches nach Macht über die Seelen und Leiber der Menschen giert. «Die Furcht vor dieser Möglichkeit treibt die ahrimanischen Geister um.» Sie wirken daher mit all ihrer Macht auf den Bau einer digitalen Scheinwelt, die uns einerseits von der geistigen Welt fernhalten und andererseits voll unter ahrimanische Herrschaft stellen soll. Es geht ums Ganze!
Der Bau und die Heranführung des Menschen an die digitale Scheinwelt vollzog sich in drei Schritten: Mit der Entwicklung von Kraftmaschinen im 18. Jahrhundert übernahm die Technik das, «was der Mensch bis dahin unter Aufbietung seiner Willenskräfte körperlich leisten musste». Mit der Medienrevolution im 19. Jahrhundert wurde es möglich, das Gefühlsleben der Menschen zu beeinflussen und zu lenken. Mit der Entwicklung des Computers im 20. Jahrhundert konnte schließlich das menschliche Denken in Maschinen ausgelagert werden. Durch das Zusammenschmieden unserer Seelenkräfte mit der digitalen Welt gelang es, unser Ich an eine authentisch wirkende geistige Welt anzudocken, die wie die echte eine Aussicht auf kollektive Verbundenheit und Gedankenübertragung verspricht. Und das ganz ohne die Notwendigkeit, sich mit seinem unangenehmen Doppelgänger auseinanderzusetzen. Anders herum ermöglicht diese Verbindung immer massiver werdende subtile Eingriffe in das Innere unseres Daseins, bis in die intimsten Bereiche. Sie «ermöglicht die totale Kontrolle über den Menschen, sodass er gesteuert, indoktriniert, diszipliniert und nach der Ideologie der Machthaber zurechtgebogen werden kann.»
Ahrimans Aporie
Das Resultat unseres bisherigen Irrwegs ist bitter: Internetsucht, soziale Vereinsamung, moralischer Verfall. Rainer Patzlaff führt den Lesenden gnadenlos die Schattenseiten der Digitalisierung vor Augen, und trotzdem entsteht am Ende der Eindruck, noch verschont worden zu sein, verschont von Details, «die zu grausam sind, um sie zu drucken». Rainer Patzlaffs Buch wäre eine bedrückende Lektüre, gäbe er uns nicht ab und an einen Hoffnungsschimmer an die Hand, eine «Ironie des Weltenschicksals». Ausgerechnet die Technologien, die vom Bösen geschaffen wurden, um uns zu beherrrschen, könnten uns am Ende dienen, um die Schwellenaufgabe ins globale Bewusstsein zu heben: «Jeder muss in sich das Feuer des Mutes entfachen, um das vielköpfige Ungeheuer in der eigenen Seele zu bezwingen.» Sind wir erst in der Lage, zu erkennen, «worin das Geistig-Reale des Menschen besteht», sind wir vor Ahrimans Täuschungen gefeit und können den Kampf gegen das Böse für uns entscheiden.
Buch Rainer Patzlaff, Die Sphinx des digitalen Zeitalters. Aspekte einer Menschheitskrise, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2021
Grafik: Fabian Roschka