Aufmerksamkeitsökonomie

Aufmerksamkeit ist heute zu einer Währung geworden. Das heißt, es hat Gewicht, dieses oder jenes mitzubekommen oder als bekannte Persönlichkeit im Gespräch zu sein. Welche Gesten liegen im eigentlichen Aufmerksamsein?


Der CSU-Politiker und Ministerpräsident Bayerns Markus Söder nutzt Social Media wie kaum ein anderer deutscher Politiker. Deshalb wurde er neulich vom ‹Spiegel› als ‹Socialist› bezeichnet.1 Jedoch wer Aufmerksamkeit ‹generiert›, drängt sie anderen auf. ‹Aufmerken›, als Verb, als Tätigkeit, ist etwas anderes. ‹Aufmerken› kann ich nicht künstlich herbeiführen. Das heißt, ich kann es sehr wohl, aber es wird so nur eine äußerliche Aufmerksamkeit entstehen, von der man bald bemerkt, dass sie nicht hält, was sie versprach. Wahres Aufmerken hat Ereignischarakter. Oft weiß ich gar nicht, warum ich aufmerke, warum meine Aufmerksamkeit auf etwas gefallen ist, warum sie dort bleibt oder immer wieder dorthin zurückkehrt. Ich muss mein eigenes Aufmerken auch bemerken, mir bewusst machen, nachklingen lassen, und kann es staunend erforschen.

Wo ich aufmerke, wo ich mit der Wahrnehmung – sei es der sinnlichen oder der im weitesten Sinne übersinnlichen, denkerischen Wahrnehmung – an etwas ‹hängen bleibe›, gibt es meist einen Anlass, eine Ursache, einen Grund. Es sind solche Gründe, die wahrhaft Aufmerksamkeit generieren und erschaffen können. Sie sind soziale Medien ganz anderer Art und währen nicht nur eine Zeit lang. Sie brauchen keine Merkliste und überdauern das wahllose Drücken der Fernbedienungstaste beim Zappen ebenso wie das lässige Weitersurfen beim Googeln. Sie überdauern den nur stierend gebannten Blick, der auf sie fiel, und überwintern im Zusammenhang, den sie stiften, ohne ihn plakativ zu präsentieren. Sie legen eine Spur. Und der aufmerksam Gewordene folgt ihr, aber anders als auf Instagram. Er folgt ihr nicht sofort (was ‹instant› übersetzt bedeutet), sondern allmählich und dann immer mehr. Er merkte auf, weil umgekehrt auch eine Aufmerksamkeit auf ihn gefallen war. Denn es gibt nichts, das unsere Aufmerksamkeit weckt, dessen Aufmerksamkeit nicht auch wir geweckt haben. Wir leben in verborgenen Zusammenhängen, und manchmal, wenn es sein soll, wird der Schleier fortgezogen und es wird uns Einblick gestattet, ja geschenkt. Als zum Beispiel Rudolf Steiner mit acht Jahren ein hellseherisches Erlebnis in einem Bahnhofswartesaal hatte, wurde er zum ersten Mal in dieser Weise einer geistigen Welt bewusst, er ‹sah› sie, sah in sie hinein. Doch die geistige Welt sah auch ihn. Auch sie nahm ihn wahr, wurde aufmerksam auf ihn. Ähnlich sind die Evangelien vor allem Geschichten von Menschen, die plötzlich in ihrem Leben aufmerkten, die an dem Christus-Jesus etwas wahrnahmen, das sie immerzu an ihn denken ließ, das sie ihn aufsuchen und in seiner Nähe erzittern ließ, weil da etwas war, das sie verfolgte, das sie verstehen wollten, weil auch er, Christus, aufmerkte, wenn er jemanden sah oder ansah und im Innersten dessen Schicksal erkannte.

Kunst des Aufmerkens

Wir sind dankbar für Aufmerksamkeiten, kleine oder große. Sie treten auch als soziales Ritual auf, als Geste, und auch das hat seine Berechtigung. Jeder, der etwas dargeboten hat, bedankt sich am Ende beim Publikum für die Aufmerksamkeit. Aber nur wenn er gut, wenn er geistesgegenwärtig war und wirklich etwas zu sagen, zu geben hatte, wird er sein Publikum zu fesseln und zu begeistern vermocht haben, zu berühren. Und sie, die Zuschauenden und Zuhörenden, bedanken sich mit dem Applaus genauso für die Aufmerksamkeit, die er umgekehrt ihnen geschenkt hatte, indem er sie als Publikum ernst nahm und indem er sie an etwas erinnerte, was sie vergessen hatten, ein Gefühl, eine Erkenntnis, ein Zusammenhang. Kunst macht aufmerken, Kunst stiftet geistig-seelischen Kontext. Sie ist immer die Kunst der Verbindung: Sie macht Verborgenes bewusst. Das Gegenteil der Aufmerksamkeit ist daher die Unverbindlichkeit. Deren Folge ist Einsamkeit, ein Zustand, wo niemand einen bemerkt, wo niemand aufmerkt, wenn ich etwas sage, wenn ich etwas stammelnd vorbringe und leider nicht ‹sofort› perfekt ausdrücke, und daher die Aufmerksamkeit einer Runde bereits wieder zum Nächsten wandert, allenfalls noch einmal freundlich oder mitleidig nickend.

In diesem Zusammenhang kann man auch an die Schule denken, einen Lebensabschnitt, den wir alle, zumindest die meisten von uns, kennengelernt und durchlaufen und wohl oft auch durchlitten haben. Hier ist, mit Pausen, permanente Aufmerksamkeit gefragt. Auf Schülerinnen und Schüler, die unaufmerksam sind, die ‹nicht mitkommen›, die sich einfach nicht merken können, was ein Akkusativ ist oder wie man Wurzeln berechnet, fällt wiederum die besondere Aufmerksamkeit der Notenkonferenz. Sie werden betrachtet, besprochen und gefördert. Oder sie werden, wenn sie ‹stören›, sanktioniert, und in der Schulakte landen Vermerke. Aber vielleicht gälte es, die Ursache der zwanghaften Störmanöver zu erforschen, und warum gerade diese Kinder permanent Aufmerksamkeit erregen wollen. Ist vielleicht umgekehrt für sie die Schule, diese Art des Unterrichts, eine Störung für ihre Seele, für ihren Geist? Und wenn diese Kinder und Jugendlichen nur ein einziges Mal in ihrem Wesen tiefer bemerkt würden, tiefer wahrgenommen, würden sie augenblicklich dankbar aufmerken und innehalten? Und wie müsste eine Lernatmosphäre beschaffen sein, in der auch die Lehrenden von zumindest den älteren Klassen in ihrem Sosein erkannt und unterstützt würden? Ohne dass in den üblichen Kanälen ständig und sofort Bemerkungen hin- und hergingen, wie unmöglich, wie unfähig, wie ungerecht oder überfordert der oder die da vorne doch sei.

Innenraum wird frei

Die Unverbindlichkeit ist die Schwester der Künstlichkeit. Wo wir unaufmerksam sind, vermehren wir die Einsamkeit. Wo wir ökonomisch lieben wollen, vertreiben wir die Liebe mit der Zeit. Wer sich wach jemandem widmet, der hilft diesem durch vollkommen offenes, ruhiges Zuhören. Und wenn der andere hundertmal anfinge, hundertmal stammelte und tastete nach dem einen Wort, das es trifft: Der aufmerksam Zuhörende hört nicht auf, ihm zu helfen, und bringt es am Ende mit hervor. Wo ich aufmerke, spüre ich meine Aufgabe. Ich spüre, dass etwas oder jemand mich braucht – und nicht nur benutzt. Oft werde ich in diesem Moment erst einer Aufgabe gewahr, und der andere, den ich bemerke, wird der seinen gewahr. Natürlich erzählt es auch stets etwas Objektives, wenn eine Person oder ein Ereignis ein gewisses öffentliches Interesse auf sich zieht, selten ist es nur Kalkül oder Zufall. Manchmal liegt darunter eine tiefere Sehnsucht der Menschen. Oder es berührt ein Thema, das in der Luft liegt. Für alles, was in dieser Weise im Leben vorkommt, kann ich mich interessieren, gelassen und unvoreingenommen, gehört es doch zur Zeit, in der ich lebe und Mensch bin. Um moralisches Bewerten geht es nicht. Wenn Aufmerksamkeit indes als Währung gilt, als Tauschmittel, als etwas, das einen materiellen Wert darstellt, ab wann wird sie dann inflationär? Wann verfällt sie, wird nutzlos, wird schal? Wann wird Aufmerksamkeit, die jemand erhält und kumuliert, beschämend? Beschämend für den, der um sie buhlt und nicht mehr unterscheiden kann, ob er sie aus Mitleid erhält oder aus echter Neugier. Beschämend für eine Gesellschaft, die Impulsen folgt, die in einen seltsam beliebigen, amoralischen öffentlich-intimen Käfig führen. Ist in diesem Käfig, mit dem wir uns, so scheint es, schon abgefunden haben, die spirituelle Armut noch bemerkbar? Es ist ja nicht so, dass wir sie nicht selbst manchmal ahnten: als Konsumenten von Werbung, von auf uns zugeschnittener, programmierter Zuwendung, die uns ein menschenähnlicher Roboter zuteilwerden lässt, oder als Wählerinnen und Wähler. Wir schenken Dingen Aufmerksamkeit, die es gar nicht verdienten, und verlieren so anderes aus dem Blick.

Vielleicht braucht es in Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie auch eine Aufmerksamkeitsökologie, einen hygienischen Umgang mit gezielter Wahrnehmung. Zum wohltuenden menschlichen Geständnis ‹Ich kann mir nicht alles merken› mag sich dann der stille Dank ganz anderer Wesen gesellen, für die wieder innerer Raum frei wird, wenn wir nur durch einen spätsommerlichen Park gehen. Eine Clematis, eine Linde, ein Kind und ein Engel merken alles. Sie merken auf, weil wir da sind.


Bild Das Versprechen der Mona Lisa: Endlose Aufmerksamkeit oder stoische Unverbindlichkeit? Das meistgesehene Kunstwerk der Welt hängt im Louvre in Paris. Foto: Emma Vendetta

Fußnoten

  1. Beitrag ‹Der Socialist›, in: Der Spiegel, Nr. 33, 8. August 2025.

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