Die Gedanken des Paulus von Tarsus sind in altgriechischen Briefen niedergeschrieben. Um sie in ihrer Tiefe zu verstehen, lohnt es sich, bis zu dieser Quelle zurückzugehen. Olivier Coutris hat dies getan und dabei die erste Philosophie der Freiheit in der christlichen Geschichte enthüllt. Diese anspruchsvolle Philosophie der Freiheit, die auf einem individualisierten und von Konformismus befreiten Denken beruht, führt zu einem Bewusstsein der Menschlichkeit, das alle Zugehörigkeiten und Religionen überwinden kann.
«Passt euch diesem Zeitalter nicht an, sondern lasst euch umgestalten durch die Erneuerung der Intelligenz, damit ihr prüfen könnt, was der Wille Gottes ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.» (Römer 12,2) So spricht Paulus zu den Römern. Dieser Vers ist ein Wunderwerk der Kürze und ein wahres philosophisches Kompendium. Das griechische Verb ‹suschēmatízō›, das ‹sich konformieren› bedeutet, enthält die Vorstellung, einem Schema unterworfen zu sein. Paulus fordert seine römischen Gesprächspartner also auf, sich nicht den zu ihrer Zeit vorherrschenden Schemata zu unterwerfen.
Die Erneuerung der Intelligenz
Die innere Umgestaltung oder Metamorphose (Verb: ‹metamorphóō›), zu der er ermutigte, bestand in einer Erneuerung der Intelligenz. Das Wort ‹anakainōsis› (Erneuerung), das sich aus der Vorsilbe ‹ana›1, die eine Umkehrung nach oben, zum Ursprung, zum Geistigen anzeigt, und ‹kainōs›, das auf das Neue hinweist, zusammensetzt, bedeutete wörtlich ‹mit Bewusstsein wieder neu sein›. Hier finden wir ein Echo der Idee der ‹Leere›, die vom Buddhismus oder in jüngerer Zeit zum Beispiel von Krishnamurti (1895–1986) gelehrt wird, und es verweist auch auf die zentrale Idee des ‹reinen Denkens› von Rudolf Steiner.
Diese Erneuerung betrifft ‹noós›, die Intelligenz – nicht die intellektuelle Fähigkeit in dem Sinne, wie wir sie heute verstehen, sondern die Intelligenz, die das Individuum mit dem Geist verbindet. Von dem Moment an, in dem ein Mensch an einem Ort und zu einer Zeit geboren wird, ist er von einer Kultur, einer Religion, einem wissenschaftlichen oder politischen Denken geprägt. Diese angeborenen Vorurteile zu überwinden, ist der erste Schritt zur individuellen Verwirklichung. Der zweite Schritt besteht darin, sich über die persönliche Sphäre zu erheben, um die Objektivität der Intelligenz (‹noós›) zu erreichen, durch die sich das Individuum in die Einheit der Welt einfügt. Wladimir Wernadsky (1863–1945) verstand die ‹Noosphäre› als die gemeinsame geistige Sphäre der gesamten Menschheit. Diese geistige Gemeinschaft der Menschheit ist aber das Gegenteil von Konformität, von ‹Einheitsdenken›.
Wer der Konformität entkommen will, muss mit einer Arbeit an der Sprache beginnen. Dies ist eine echte johanneische Aufgabe, denn laut Johannes war am Anfang das Wort, der ‹Logos› – ein griechischer Begriff, der aus der indoeuropäischen Wurzel ‹*leg-› entstand, die die Essenz der Verbundenheit ausdrückte. Sie findet sich in ‹Religion›, ‹Legalität›, ‹Lesen›. Am Anfang war eine Verbindung zwischen allem, am Anfang war die Einheit, eine aktive Einheit. Steiner schlug daher vor, zunächst die Bedeutung der Wörter wieder aufzunehmen, neu zu erlernen, zu verstehen, und er legte besonderen Wert auf die Entwicklungsfähigkeit der Welt und des Wissens über die Welt: «Erkenntnis erlangen beruht eben nicht bloß darauf, dass man etwas mehr reden lernt, als die anderen Leute reden, aber geradeso redet wie diese, sondern es ist wirklich das Erwerben eines anderen Stückes Welt.»2
Sich von Automatismen befreien
Im Mittelalter wurden die Sieben freien Künste praktiziert, um die Seele zu befreien. Die berühmte Schule von Chartres forderte ihre Schüler auf, zuerst ihre Seele zu reinigen, um sich den Konzepten auf gesunde Weise nähern zu können. Die erste der freien Künste, die Grammatik, bestand darin, herauszufinden, was Wörter bedeuten und wie man sie anordnen sollte, um sich auszudrücken. ‹Grammatik› kommt vom griechischen ‹gramma›, das jede Kommunikationseinheit bezeichnet, sowohl Buchstaben, mit denen man Wörter schreibt, als auch Musiknoten oder eine Gewichtseinheit zum Austausch von Materialien (zum Beispiel: ein Gramm). Die Grammatik war die Grundlage der Kommunikation. Indem die Schüler sie übten, befreiten sie sich von den traditionellen Kommunikationshindernissen und lernten so, einander zu verstehen. Die Briefe des Paulus sind aufgrund ihres hohen semantischen Gehalts ein Vorgeschmack auf diese Kunst.
«Wer meint, etwas zu kennen, der hat noch nicht erkannt, wie man erkennen soll.» (1. Korinther 8,2) Diese Worte klingen wie ein Sutra von Buddha oder ein japanisches Koan. Paulus wusste, dass der Weg der Erkenntnis – der innere Weg – mit Stolpersteinen gespickt ist. Was wir zu kennen glauben, ist das Ergebnis unserer Konditionierungen und unserer begrenzten Sinne, die daher Quellen von Illusionen sind. Ungeübtes Erkennen beruht wesentlich auf Automatismen. Nur wenige Menschen wissen, wie ihre Gedanken und Wahrnehmungen entstehen. Ein Kind wird mit einem unendlichen Potenzial geboren. Es kann zum Beispiel jede Sprache der Welt lernen, da es noch universell und von ungeahnter Weisheit erfüllt ist. Durch die Inkarnation tritt es aus der Universalität heraus, um sich als Individuum in die Menschheit einzuschreiben. Die Wiedererlangung einer wahren Erkenntnis ist in gewisser Weise eine zweite Geburt; daher kann man mit Paulus sagen: Erkennen (auf Französisch: ‹connaître›, co-naître: mit-geboren werden) bedeutet, im Bewusstsein wieder die Universalität zu erreichen, aus der alles Sein hervorgeht.
So kommentiert Steiner das Wort des Paulus an die Korinther: «Wohl sieht der Mensch nicht Wahrheit, wenn er hinausschaut mit seinen Augen, er sieht nicht die Wirklichkeit, wenn er in das schaut, was draußen ist. Warum nicht? Weil er sich selbst bei seinem Herunterstieg in die Materie die äußere Wirklichkeit zur Illusion umgegossen hat! Der Mensch ist es selbst, der die äußere Welt durch seine Tat zur Illusion gemacht hat!»3 Die Welt, die durch den Filter der Sinne gesehen wird, ist tatsächlich eine Illusion, die der Tatsache innewohnt, dass man verkörpert ist. Aber der Mensch kann sich von seinen Filtern befreien und übersinnliche Fähigkeiten entwickeln. Nicht die Welt ist eine Illusion, sondern nur die Art und Weise, wie der Mensch sie wahrnimmt. Der Mensch schafft seine eigenen Illusionen, indem er die Welt nur mit seinen gewöhnlichen Sinnen wahrnimmt.
Das Bewusstsein als Quelle
Paulus war der erste christliche Autor, der von ‹Bewusstsein› sprach, aber auch einer der Ersten, der sich mit der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins beschäftigte. In seinen Briefen kommen die Wörter ‹synesis›4 und ‹syneidesis›5 an rund dreißig Stellen vor. Diese Wörter können mit ‹Gewissen› oder ‹Bewusstsein› übersetzt werden. Wir werden im Folgenden den Wortlaut ‹Bewusstsein› wählen.
In Verbindung mit dem Verb ‹syniēmi›, das ‹durch Gedanken zusammenbringen› bedeutet, drückt der Begriff ‹synesis› die Bewegung aus, die im Prozess des Bewusstseins am Werk ist. Philosophisch gesehen war der zweite Begriff, ‹syneidesis› (‹syn›- und ‹eidō›), stärker und spiegelte das wider, was das Bewusstsein selbst war. Im Griechischen war ‹syn-› ein assoziatives Präfix. Und das Verb ‹eidō› bedeutete ‹sehen› und ‹auffassen›. In Verbindung mit diesem Verb bezeichnete das Substantiv ‹idea› sowohl eine geistige Idee als auch eine Form in der materiellen Welt. Wenn Platon (428–348 v. Chr.) zum Beispiel von einem Dodekaeder sprach, sah er nicht nur die Form, sondern auch die Idee durch die Form. Zu dieser Zeit waren Sehen und Auffassen eins. Mit der Zeit wurden gewisse menschliche Fähigkeiten schwächer. Das griechische Verb ‹eidō›, das im Lateinischen zu ‹video› wurde, verlor seine spirituelle Dimension und drückte nur noch den sinnlichen Aspekt des Sehens aus.
Der Begriff ‹Bewusstsein› (‹syneidesis›) wurde etwa 700 Jahre v. Chr. von griechischen Philosophen in Kleinasien geprägt. Er blieb auf die Philosophie beschränkt, bis Paulus ihn benutzte, um über Gott zu sprechen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit näherte sich ein Mensch der geistigen Welt durch sein Bewusstsein, durch sein individuelles Bewusstsein! Zweitausend Jahre später ist diese kühne Erfindung immer noch nicht richtig angekommen.
Es wird angenommen, dass Paulus seine Briefe in den Jahren 50 bis 67 verfasste, bevor Markus, Lukas, Matthäus und Johannes ihre Evangelien geschrieben hatten. Er war also der erste christliche Autor, was gewöhnlich vergessen wird. Daher stellt sich die Frage: Woher nahm Paulus seine Inspiration, wenn er die Evangelien, die es noch nicht gab, nicht gelesen hatte und er kein Augenzeuge von Jesus Christus gewesen war? Die Antwort liegt in einem Wort: ‹syneidesis›, das Bewusstsein! Auf dem Weg nach Damaskus, während seiner übersinnlichen Begegnung mit Christus, machte Paulus die erschütternde Erfahrung des absoluten Bewusstseins. Von diesem Moment an scheute er keine Mühe mehr, das philosophische Konzept des Bewusstseins in eine völlig neue Annäherung an die göttliche Welt einzubinden.
Für Paulus gibt es keinen Gegensatz zwischen Wissenschaft und Religion. Wenn Wissenschaft und Religion mit den beiden als gegensätzlich geltenden Fähigkeiten des Wissens und des Glaubens in Verbindung gebracht werden, rührt die Gegensätzlichkeit dann nicht von der Art und Weise her, wie Erkenntnis und Glaube verstanden werden? Und welchen Platz nimmt das Bewusstsein in diesem Zusammenhang ein? Steiner stellte einen ebenso überraschenden wie paulinischen Grundsatz auf: «Denn im religiösen Empfinden wird das Geistbewusstsein, in der Geisteswissenschaft die Geist-Erkenntnis […] errungen.»6
Das Gesetz im Herzen
Der Dekalog – zehn Worte Jahwes, die von Moses überliefert wurden – erschien zu einer Zeit, als die Menschen noch nicht die volle Möglichkeit besaßen, sich in ihrem Ich zu erfassen. Das Ereignis von Golgatha änderte dies insofern, als der Archetyp des Bewusstseins – das ‹Ich bin›, das als ‹Christus› bekannt ist – für jeden Menschen zugänglich wurde. Paulus entging dies nicht: «Denn wenn die Heiden, die das Gesetz nicht haben, auf natürliche Weise den Inhalt des Gesetzes vollziehen, so sind sie, obwohl sie das Gesetz nicht haben, selbst das Gesetz. Sie machen das Werk des Gesetzes bekannt, das in ihre Herzen eingeschrieben ist, indem ihr Bewusstsein für sie Zeugnis ablegt und auch ihre Argumentationen, die einander anklagen oder entschuldigen.» (Römer 2,14–15)
Mit unerbittlicher Logik sagte Paulus im Wesentlichen: Wenn jemand aus eigenem Antrieb ein Verhalten annimmt, ohne von außen dazu aufgefordert worden zu sein, zeigt das, dass in ihm ‹etwas› wirkt. Wenn er sich darüber hinaus dessen bewusst ist, was ‹in ihm wirkt›, dann braucht er das Gesetz nicht mehr. Paulus legte diese Ideen vor den Gesetzeslehrern dar! Da er ein fanatischer Pharisäer gewesen war, wusste er genau, was das Gesetz war und wie gefährlich es für den war, der es wagte, ihm zu widersprechen.7 Hatte er nicht die Steinigung des Stephanus befohlen?8 Nur sein Bewusstsein gab ihm im jüdischen Umfeld den Mut, den Vorschlag zu wagen, das Gesetz aufzugeben.
Paulus zufolge zielte das hebräische Gesetz darauf ab, das individuelle Ich zu entwickeln, für das es eine Art Pädagoge war. ‹Paidagōgos› bedeutete wörtlich ‹derjenige, der das Kind führt›, solange das Kind nicht in der Lage ist, sich selbst zu führen. Deshalb schreibt Paulus: «Bevor der Glaube aufkam, wurden wir gemeinsam unter dem Gesetz eingesperrt gehalten, bis der Glaube offenbart wurde, sodass das Gesetz bis zu Christus unser Pädagoge war, damit wir durch den Glauben gerechtfertigt werden konnten. Da aber der Glaube gekommen ist, so stehen wir nicht mehr unter Abhängigkeit von dem Pädagogen.» (Galater 3,23–25) Paradoxerweise führten die Mäander der Evolution dazu, dass die großen christlichen Kirchen ebenfalls die Haltung eines ‹Pädagogen› einnahmen und das Gesetz bewahrten. Aber Paulus, indem er behauptete, dass jeder, der zu seinem Ich gelangt, selbst das Gesetz ist, nahm bereits eine Philosophie der Freiheit vorweg, einen ethischen Individualismus, der später insbesondere von den deutschen Idealisten und dann von Steiner formuliert wurde.
Notwendigkeit der Häresien
Paulus legt, wie auch die Anthroposophie, großen Wert auf die soziale Bedeutung seiner Lehre. Als erster Architekt des Christentums gründete er Gemeinden, die er ‹ekklesia›9 nannte. Dieser Begriff wurde im Lateinischen zu ‹ecclesia› und im Französischen zu ‹église› (Kirche). Natürlich gab es zu Paulus’ Zeit noch keine Kirche, weder katholisch, protestantisch noch orthodox! Es ist bedauerlich, ‹ekklesia› mit ‹église› (Kirche) zu übersetzen, da dieses Wort so konnotiert ist. Welche Bedeutung hatte ‹ekklesia› zur Zeit des Paulus? Das Wort, das aus der Vorsilbe ‹ek-› und dem Substantiv ‹klesis› gebildet wurde, wies auf eine ‹Versammlung nach einem Aufruf› hin. Der Begriff, der von verschiedenen religiösen Konfessionen übernommen wurde, hatte ursprünglich eine universelle Bedeutung. Zuschauer, die sich in einem Saal versammeln, um ein angekündigtes Konzert zu hören, bilden eine ‹ekklesia›. Darüber hinaus verwenden einige Sprachen das Wort ‹église› (Kirche) auch für die Mauern, in denen sich eine religiöse Gemeinschaft versammelt.
Zwei Wörter wären angemessen, um ‹ekklesia› ohne konfessionelle Konnotation zu übersetzen. Es kann ‹Gemeinschaft› verwendet werden, das auf Französisch ‹communauté› eine geteilte (Präfix ‹cum-›) Verantwortung (‹munis›) ausdrückt. Man kann ‹ekklesia› auch mit ‹Versammlung› übersetzen, was im Französischen (‹assemblée›) auf dem indoeuropäischen Radikal ‹*sem-› basiert, das ‹eins› bedeutet und Identität ausdrückt, auch in Verbindung mit Sem, dem Sohn Noahs, der ‹den Namen tragen› sollte. Die semitischen Völker, die Erben von Sem, hatten gerade das Ich, den Namen, zu entwickeln. Die Übersetzung mit ‹Versammlung› lenkt die Aufmerksamkeit auf die Pluralität der Individuen.
Zeigte Paulus doktrinäre Kompromisslosigkeit, wie es oft behauptet wird? Sein Brief an die Korinther lässt daran zweifeln: «Denn erstens habe ich gehört, dass, wenn ihr euch zu einer Versammlung zusammenfindet, Spaltungen unter euch entstehen, was ich zum Teil auch glaube. Denn es müssen freie Wahlen (‹hairesis›) unter euch sein, damit die, die sich bewährt haben, unter euch offenbar werden.» (1. Korinther 11,18–19) Paulus erinnerte die Korinther daran, dass es nicht verwunderlich sei, dass es in einer menschlichen Versammlung zu Zwietracht, ‹skhisma› oder ‹Schismen›, komme, da es für ihn wesentlich sei, dass jeder eine freie Auswahl habe, eine ‹hairesis›. Es ist eine sprachliche Ironie, dass das Wort ‹hairesis›, transliteriert in ‹Häresie›, in den Augen der Kirche zu einem Laster wurde, das es auszurotten galt. Die Bekämpfung von Ketzerei – Häresie – ist ein Angriff auf die Wahlfreiheit.
Pädagogik der Geisteswissenschaft
Paulus’ soziales Anliegen stützte sich auf pädagogische Qualitäten: «Wer in Zungen redet, baut sich selbst auf; wer aber prophetisch redet, baut die Versammlung (‹ekklesia›) auf. Ich will, dass ihr alle in Zungen redet, vor allem aber, dass ihr prophetisch redet. Wer prophezeit, ist größer als der, der in Zungen redet, es sei denn, er legt es aus, damit die Versammlung erbaut wird. Und nun, Brüder, wenn ich zu euch komme und in Zungen rede, was nützt es euch, wenn ich zu euch rede ohne Enthüllung, Erkenntnis, Prophezeiung oder Lehre?» (1 Korinther 14,4–6)
Was meinte er mit ‹oikodomē› (‹Aufbau›, ‹Erbauung›)? Die Griechen betrachteten das Haus (‹oikos›) als die grundlegende räumliche Zelle der Menschen. Aus diesem Grund sind viele Wörter um ‹oikos› herum konstruiert, wie ‹Ökologie›, ‹Ökonomie›, ‹Diözese›, ‹Metöke› … Das Haus war die Einheit des Lebens, so wie ‹gramma› die Einheit der Kommunikation war. Daher war die Erbauung, ‹oikodomē›, der Bau des Hauses, für Paulus ein höchst bedeutsames Konzept.
Was Paulus mit ‹in Zungen reden› bezeichnet, bedeutet, in einer Sprache zu reden, die als himmlisch oder inspiriert gilt, aber für die Zuhörer unbekannt oder unverständlich ist. Ihm war es jedoch wichtig, dass das Wort erbaulich ist. Paulus schrieb also jedem aufbauenden Wort diese vier grundlegenden Eigenschaften zu: ‹apokalupsis› (Enthüllung), ‹gnōsis› (Erkenntnis), ‹propheteia› (Prophezeiung), ‹didachē› (Lehre). ‹Apokalupsis› setzt sich aus der Vorsilbe ‹apo› (Begriff der Enthüllung) und ‹kalux› (Kelch) zusammen.10 Die ursprüngliche Bedeutung von ‹Apokalypse› war ‹Enthüllung›, ‹Offenbarung›, also die Entfernung des Schleiers, der etwas verdeckt. Paulus wollte, dass die geistige Wahrheit enthüllt wird, damit sie für die Versammlung nützlich sei. Die Rede sollte auch ‹Gnosis› bringen (die Erkenntnis, wie sie oben definiert wurde, und nicht als eine Menge von Wissen), sowie ‹Prophezeiung› und ‹Lehre›. Während heutzutage eine Prophezeiung, ‹propheteia›, einen eher abwertenden, divinatorischen Unterton hat, hatte sie bei Paulus eine ganz andere Bedeutung. Das Verb ‹propheteuō›, das Offenbaren eines Gedankens (Verb ‹phemi›) im Voraus (Präfix ‹pro-›), bedeutete ‹das göttliche Wort auslegen›, also geistige Realitäten verständlich erklären, die sonst dem gewöhnlichen Sterblichen unzugänglich bleiben würden. Er war der Meinung, dass es besser sei, zu schweigen, als ein Wort ohne diese vier Qualitäten zu äußern.
Steiner hatte ein ähnliches pädagogisches Anliegen: «Es ist den Leuten unangenehm, zuzugeben, dass das Geistige wirklich auch eingesehen werden soll. [..] Nun besteht alle Geisteswissenschaft darinnen, dass das Geheimnis eben enthüllt werde, dass das Geheimnis wirklich vor die Welt hintrete.»11 Er verwendet hier das Verb ‹enthüllen› in dem Sinne, wie Paulus und Johannes es verwenden.
Für die gesamte Menschheit
Weder Paulus noch die Anthroposophie betrachten das Christentum als ein religiöses Bekenntnis. Der Wendepunkt von Golgatha ist eine Tatsache, die der gesamten Menschheit gemeinsam ist, ebenso wie die Kontinentaldrift. Es sollte nicht mit dem Aufkommen einer neuen Religion gleichgesetzt werden.
Paulus kündigt den Kolossern an, dass er «das Geheimnis» enthüllen soll, «das seit Äonen und Generationen verborgen war und nun seinen Heiligen offenbart wurde. Gott wollte ihnen den Reichtum und die Herrlichkeit dieses Geheimnisses unter den Heiden kundtun: Christus in euch, die Hoffnung und die Herrlichkeit. Wir verkündigen es, indem wir es jedem Menschen vor den Geist stellen und jeden Menschen in aller Weisheit lehren, damit wir jeden Menschen in Christus vollkommen machen.» (Kolosser 1,26–28) Das Mysterium Christi, das Paulus offenbart wurde, ermöglichte ihm, die Universalität der menschlichen Natur zu betonen. Über alle konfessionellen, sozialen und ethnischen Grenzen hinweg schrieb er an die Galater: «Es gibt weder Juden noch Griechen, weder Sklaven noch Freie, weder männlich noch weiblich; denn ihr seid alle eins in Christus Jesus.» (Galater 3,28)
In Anlehnung an die paulinische Botschaft betonte auch Steiner die Universalität und Zeitlosigkeit Christi: «Das wahre Verständnis eines jeden, der sich zum Christus bekennt, beruht darin, dass er sich bewusst wird, dass der Christus-Impuls sich nicht beschränkt auf einen Teil der Erde – ein Irrtum wäre dies. Die Realität ist so, dass seit dem Mysterium von Golgatha wirklich wahr ist, was Paulus schon sagte für die Gebiete, für die er zu sprechen hatte. Paulus hat verkündet: Christus ist gestorben auch für die Heiden. – Verstehen aber muss die Menschheit, dass der Christus gekommen ist, nicht für ein bestimmtes Volk, für eine bestimmte, beschränkte Zeit, sondern für die gesamte Erdenbevölkerung, für alle.»12
Freiheit nährt die Gemeinschaft
«Vor dem Kommen des Glaubens wurden wir gemeinsam unter dem Gesetz eingesperrt gehalten, bis der Glaube offenbart wurde, sodass das Gesetz bis zu Christus unser Pädagoge war, damit wir durch den Glauben gerechtfertigt werden konnten. Da aber der Glaube gekommen ist, stehen wir nicht mehr unter der Abhängigkeit des Pädagogen.» (Galater 3,23–25) Paulus machte das Bewusstsein – also Christus – zum bestmöglichen Weg in die Freiheit: «Christus hat uns zur Freiheit befreit, darum steht aufrecht und lasst euch nicht wieder durch das Joch der Sklaverei festhalten.» (Galater 5,1)
Trotz des Anscheins ist «zur Freiheit befreit» kein Pleonasmus. Sich vom Bekannten zu befreien, ist eine gute Sache, aber kein Selbstzweck. Es ist in Mode, sich im ‹Loslassen› zu üben, um frei zu werden – aber wofür? Paulus antwortete auf diese Frage: Frei werden um der Freiheit willen! Was ist Freiheit? Ausgehend von seiner direkten Sicht auf Christus beschreibt Paulus die Freiheit auf eine für seine Zeit revolutionäre Weise: «Weil ich allen gegenüber frei war, habe ich mich allen gegenüber zum Sklaven gemacht, um möglichst viele zu gewinnen. Ich bin den Juden wie ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen; denen, die dem Gesetz folgen, wie dem Gesetz folgend – obwohl ich selbst nicht dem Gesetz folge –, um die zu gewinnen, die dem Gesetz folgen; denen, die ohne Gesetz sind, wie ohne Gesetz – obwohl ich nicht ohne Gesetz von Gott bin, sondern nach dem Gesetz Christi –, um die zu gewinnen, die ohne Gesetz sind. Ich bin schwach geworden um der Schwachen willen, um die Schwachen zu gewinnen. Für alle bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten. All dies tue ich durch die fundamentale Botschaft, um daran Mit-Teilhaber zu sein.» (1. Korinther 9,19–23)
Weit davon entfernt, ein perverser, manipulativer Heuchler zu sein, wie er oft dargestellt wird, entwickelte Paulus wie ein Vorläufer das, was Steiner später den «Sinn für das Ich des anderen» nannte, das heißt ein intimes Verständnis des Andersseins. Paulus war auf dem Weg zum höheren Ich so weit fortgeschritten, dass er in der Lage war, das – potenzielle – Ich seiner Gesprächspartner wahrzunehmen; er war von einer starken Kraft des Mitgefühls beseelt. In diesem paulinischen Sinn wird Freiheit heute immer noch missverstanden. Untrennbar mit dem christlichen Impuls verbunden, steht die Freiheit im Zentrum der Anthroposophie, die Steiner wie folgt formuliert: «Ein sittliches Missverstehen, ein Aufeinanderprallen ist bei sittlich freien Menschen ausgeschlossen. […] Aber mitten aus der Zwangsordnung heraus erheben sich die Menschen, die freien Geister, die sich selbst finden in dem Wust von Sitte, Gesetzeszwang, Religionsübung und so weiter. […] Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen.»13
Den Ephesern gegenüber formuliert Paulus mit außerordentlicher Schlichtheit den Kontext, in den jeder Einzelne seine Arbeit einbetten kann: «Die Heiden (Nationen) sind Miterben, Mitkorporierte (zu einem Leib vereint), Mitbeteiligte an der Verheißung in Christus Jesus durch die grundlegende Botschaft.» (Epheser 3,6) Diese Trilogie von ‹mit› enthält ein wahres zeitliches Geheimnis. ‹Sunklēronomos› (Miterbe) besagt, dass die Menschen durch Erbschaft, also durch eine gemeinsame Vergangenheit, vereint sind. ‹Sussōmos› (Mit-Korporierter) sagt, dass die Menschen an einem einzigen Leib teilhaben, in diesem Fall am Leib Christi als sozialem Leib. Daher sind sie in der Gegenwart vereint. ‹Summetochos› (Mit-Teilnehmer) sagt, dass die Menschen durch ihre Taten (‹metechō› bedeutet ‹teilnehmen an›) vereint sind, die sie in die Zukunft führen. Kurz gesagt, die Menschen sind durch die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft in Christus, das heißt im Bewusstsein, miteinander verbunden. In diesem Sinne sprach Steiner 1923 auf der Weihnachtstagung mit einem ähnlichen Nachdruck wie Paulus über die Bedeutung der individuellen Arbeit im gemeinsamen Werk: «Die anthroposophische Gesellschaft lebt nur durch das, was in ihr gearbeitet wird.»14 Ebenso hat die gesamte Menschheit denselben vergangenen Ursprung, sie ist in einem gegenwärtigen Bewusstsein vereint und erzeugt sich selbst in der Zukunft durch die Arbeit aller menschlichen Individuen, die an dieser Erbauung ‹teilhaben›.
Durch diese Skizze rund um die Paulusbriefe haben wir also erahnt, wie sein Denken tatsächlich eine ursprüngliche Philosophie der Freiheit mit menschheitlicher Dimension bildet. Wir verstehen dann, warum Rudolf Steiner das Denken des Paulus als Grundlage der Erkenntnistheorie der Anthroposophie betrachtete: «Die Erkenntnistheorie auf paulinische Basis zu stellen, war die Aufgabe meiner beiden Schriften ‹Wahrheit und Wissenschaft› und ‹Die Philosophie der Freiheit›. Diese beiden Bücher stellen sich hinein in das, was die große Errungenschaft der paulinischen Auffassung vom Menschen ist in der westländischen Welt.»15 Trotz der zwei Jahrtausende, die uns von Paulus, dem ersten der christlichen Autoren, trennen, kann seine spirituelle Kraft uns in unserer individuellen Suche inspirieren, erleuchten und anregen.
Übersetzt aus dem Französischen von Louis Defèche.
Footnotes
- Diese Vorsilbe erscheint in ‹anthrôpos› [der Mensch als Mensch], wörtlich ‹derjenige, der mit Bewusstsein auf seine Ursprünge zurückblicken kann›
- Rudolf Steiner, Anthroposophie. Eine Zusammenfassung nach einundzwanzig Jahren. GA 234, 27.1.1924, Dornach 1994.
- Rudolf Steiner, Der Christus-Impuls und die Entwicklung des Ich-Bewusstseins. GA 116, 8.5.1910, Dornach 1982.
- Σύνεσις (5 Mal) 1 Kor 1,19, Eph 3,4, Kor 1,9, Kol 2,2, 2 Tim 2,7.
- Συνείδησις (24 Mal) Röm 2,15, Röm 9,1, Röm 13,5, 1 Kor 8,7, 1 Kor 8,10, 1 Kor 8,12, 1 Kor 10,25, 1 Kor 10,27, 1 Kor 10,28, 1 Kor 10,29, 2 Kor 1,12, 2 Kor 4,2, 2 Kor 5,11, 1 Tim 1,5, 1 Tim 1,19, 1 Tim 3,9, 1 Tim 4,2, 2 Tim 1,3, Tim 1,15, Hbr 9,9, Hbr 9,14, Hbr 10,2, Hbr 10,22, Hbr 13,18.
- Rudolf Steiner, Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha. GA 175, 20.2.1917, Dornach 1996.
- Blasphemie wurde mit dem Tod bestraft. Paulus wurde sogar mehrmals gesteinigt und zum Sterben zurückgelassen.
- Der Text der Apostelgeschichte verwendet das Verb ‹sunodokeô› (mit Inbrunst denken), eine Anspielung auf den Fanatismus des jungen Pharisäers, der noch nicht Paulus, sondern Saul hieß.
- In den Briefen gibt es 42 Vorkommen des Wortes ‹ekklesia› (ἐκκλησία).
- ‹Kalux› ergab im Französischen ‹calice›, den Teil der Blume, der die Blütenblätter umgibt und verdeckt, solange die Blume noch nicht aufgeblüht ist.
- Rudolf Steiner, Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. GA 260a, 30.1.1924, Dornach 1987.
- Rudolf Steiner, Okkulte Untersuchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt. GA 140, 18.11.1912, Dornach 2003
- Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit. Kapitel IX, Die Idee der Freiheit. GA 4, Dornach 1995.
- Rudolf Steiner, Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. GA 260a, 17.2.1924, Dornach 1987.
- Rudolf Steiner, Der Christus-Impuls und die Entwickelung des Ich-Bewußtseins. GA 116, Dornach 1982.