Alles in der Welt ist bewusst

Vor vielen Jahren unterhielt ich mich im Treppenhaus des Stuttgarter Rudolf-Steiner-Hauses mit der Frau eines Kollegen. Irgendetwas muss mich empört haben, denn ich redete recht engagiert – und schob meine rechte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger in Richtung der zuhörenden Dame. Noch während des Gesprächs wurde mir diese zuvor unbewusste Geste bewusst, und mir war klar: Sie wurde mir bewusst, weil mein Gegenüber sie aufmerksam wahrgenommen und in ihr Bewusstsein aufgenommen hatte.


Es war eine meiner ersten Erfahrungen, dass Bewusstseine aufeinander wirken können, ohne Vermittlung von Sprache oder ähnlichem, einfach durch einen gemeinsamen Bewusstseinsraum. Man kennt das vielleicht auch von der abendlichen Rückschau: Eine kleine Holprigkeit im Verkehr mit einem Mitmenschen, eine Frage in Bezug auf eine Schülerin oder einen Patienten wird noch mal ins Bewusstsein genommen, dort vielleicht ein wenig bewegt – und am nächsten Tag hat sich in der Begegnung mit dem Mitmenschen etwas verändert, bewusst oder unbewusst; aber klar ist, dass die vorabendliche Rückschau irgendwie mit dieser Veränderung zusammenhängt.

Bewusstsein ist also nichts notwendig voneinander Abgetrenntes in dem Sinne, dass jeder sein eigenes hat und es keine Überschneidungen gibt – wobei wir froh sein können, dass es oft doch recht abgetrennt ist und nicht alles, was durch mein Bewusstsein zieht, gleich Weltbedeutung bekommt. Aber gerade wenn ich in meinem Bewusstsein etwas aktiver werde als normalerweise, lässt sich wenigstens anfänglich beobachten, wie Bewusstseine ineinander greifen.

Bewusstsein ist aber auch nichts Einheitliches, überall Gleichartiges. Das zu verstehen und vorsichtig zu beobachten, lehrt Steiners ‹Geheimwissenschaft im Umriss›, in der es heißt: «Für die übersinnliche Anschauung gibt es keine ‹Unbewusstheit›, sondern nur verschiedene Grade der Bewusstheit. Alles in der Welt ist bewusst.»

Man kann die ‹Geheimwissenschaft› geradezu als eine Bewusstseinslehre auffassen: eine Lehre vom menschlichen Bewusstsein, das neben dem normalen Tagesbewusstsein ja mindestens noch Traum- und Schlafbewusstsein kennt; eine Lehre vom kosmischen Bewusstsein, wie es sich zum Beispiel anfänglich in Nahtodeserlebnissen zeigt; eine Lehre vom Bewusstsein in der Natur, das bei Steinen, Pflanzen und Tieren je unterschiedliche Grade aufweist; eine Lehre vom Bewusstsein geistiger Wesen, die in der Natur und in der Menschenwelt Verbindungen zwischen verschiedenen Bewusstseinen und Bewusstseinsgraden schaffen und die Welt schöpferisch-wirksam durchdringen. Über all diese Bewusstseinsformen klärt die ‹Geheimwissenschaft› auf: unterschiedlich im Grade, und doch ineinanderragend.

Der Schlüssel, um die Lehre vom Bewusstsein in der ‹Geheimwissenschaft› zu einer Erfahrung des Bewusstseins zu machen, liegt darin, dass wir Menschen unser eigenes Bewusstsein entwickeln und weiten können. Das geschieht eben durch Aktivierung, durch Konzentration und Meditation – auch das ein großes Thema der ‹Geheimwissenschaft›. Dadurch befreit sich das Bewusstsein von der Gegenständlichkeit und beginnt, sich als kraftvoll zu erleben. Es wird zu einer Welttatsache, weil es dann nicht mehr nur ‹mein› Bewusstsein ist. Ich tauche ein in die vielschichtige Welt des Bewusstseins, und vielleicht kann ich sogar – mit entsprechendem spirituellem Takt – wirksam werden: Stimmungen verändern, Bildekräfte modifizieren, Doppelgänger erlösen. Steiner beschreibt das als die Bewusstseinsformen von Imagination, Inspiration und Intuition, die es in der Zukunft zu entwickeln gilt.

Es ist natürlich gegenüber der akademischen Bewusstseinsforschung ein enorm erweiterter Begriff von Bewusstsein, den Steiner da entwickelt. Er überschneidet sich aber mit der akademischen Bewusstseinsforschung durchaus, etwa in der Beschreibung von Empfindungsseele und Verstandesseele. Die erste kennt die akademische Bewusstseinsforschung als ‹Phänomenales Bewusstsein›. Da geht es vor allem ums Erleben, auf das man zwar schließen, das man aber nicht unmittelbar beobachten kann. Der Philosoph Thomas Nagel hat das in die Frage gefasst: «What is it like to be a bat?» Was erlebt eine Fledermaus, wenn sie echolotend durch die Nacht fliegt? Wir wissen es nicht, genauso wenig wie wir beobachten können, was ein Mitmensch etwa an einer bestimmten Farbe erlebt. Es bleibt immer ein unbekannter Rest. Steiner formuliert: Das Bezeichnende des Bewusstseins ist es, «dass das Wesen in seinem Innern etwas erlebt, was zu der bloßen Gegenwirkung als ein Neues hinzukommt». Dieses Neue – Schmerz, Freude, qualitatives Erleben – bleibt beim Tier wie beim Menschen im Innern, eben im Bewusstsein.

In der Verstandesseele werden solche Erfahrungen reflektiert und befragt. Dazu Steiner: «Dies ist die Tätigkeit, durch welche sich das Ich von den Gegenständen der Wahrnehmung immer mehr loslöst, um in seinem eigenen Besitze zu arbeiten.» In der Philosophie wird diese Bewusstseinsform seit Jahrhunderten als ‹intentionales Bewusstsein› bezeichnet, in der akademischen Bewusstseinsforschung auch als ‹Bewusstsein zweiter Ordnung›. Und so geht es dann weiter in der ‹Geheimwissenschaft› durch verschiedenste Grade des menschlichen und außermenschlichen Bewusstseins, die dann in der akademischen Bewusstseinsforschung keine Entsprechungen mehr haben. Warum ist das eigentlich bisher zwischen den Buchdeckeln der ‹Geheimwissenschaft› und in den relativ kleinen anthroposophischen Kreisen geblieben? Warum hat niemand versucht, sich aus der ‹Geheimwissenschaft› heraus in die akademische Bewusstseinsforschung einzumischen und diese zu erweitern? Es wäre so notwendig, um aus der Enge eines Verstandesseelen-Bewusstseins und des damit verbundenen Reduktionismus, der nur das Physische und das alltägliche Gegenstandsbewusstsein anerkennt, herauszukommen. Vielleicht müssen wir nur mal den Fokus ein wenig verschieben und die ‹Geheimwissenschaft› nicht als schwer verständliche Einführung in esoterische Themen betrachten, sondern als Lehre vom Bewusstsein, von unserem und dem in der ganzen Welt ausgebreiteten. Es bleibt also für die nächsten 100 Jahre genug zu tun!


Veranstaltung

‹Rudolf Steiner lesen und verstehen›. Studientagung der Sektion für Schöne Wissenschaften am Goetheanum, vom 1.–4. Mai 2025 mit Andre Bartoniczek, Anna-Katharina Dehmelt, Ariane Eichenberg, Volker Frankfurt, Eckart Förster, Christiane Haid, Jaap Sijmons und Renatus Ziegler.
Mehr Infos Sektion für Schöne Wissenschaften


Siehe zu dem Thema auch den gleichnamigen Aufsatz in: Anna-Katharina Dehmelt, Kreuz und Rose, Stuttgart 2023.

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