Auf dem Friedhof wird das Leben weit. So weit, dass es an seinen Rändern beginnt, Himmel zu werden. Abwesenheit ist der Rahmen, in dem es hier erscheint. Seine unsichtbaren Spuren führen in die Welt des Hörens. Als stilles Glimmen in großer Weite. Nach oben gibt es keine Farben. Im Licht des Gewesenseins bricht sich meine Substanz. Wenn ich keinen Körper mehr habe, werdet ihr mein Körper, so riesig oder so klein, wie ihr viele oder wenige seid. Meine Sinnlichkeit hat ihre Seite gewechselt. Ich bin nun eine Sternschnuppe in deinem Träumen. Bin das milde Licht, in dem du schläfst. Wir haben die Temperatur eurer Erinnerungen. Wir sind der große Raum für alles euch Kostbare, was nicht und nicht mehr im Äußeren ist. Unser Gewicht vergrößert selbst das Leuchten der Birke im Novemberlicht. Solange wir in euch leben, werden wir euch vertiefen und erhöhen.



Gesäumte Lebensspannen, geronnen in die Gravuren der Zeit. Zarte Blütenwedel verhüllen einen Namen. Dort drüben küsst eine Frau ihre Hand und streichelt dann den kalten Stein. Die Buche birgt eine Inschrift, die nur selten Besuch bekommt. Der Tod macht uns zu Nomaden, Wandernde hier wie da. Ihr Mann, dein Sohn, euer Freund, meine Mutter, seine Nachbarin im Namen aller Verstorbenen. Verlieren und Lieben schaffen in unseren Herzen die gleiche Dehnung. Im Antlitz der Gegangenen werden wir wehrlos, verletzlich und schön wie ein Neugeborenes. Deine Toten will ich dir lassen. Das Toteste hier sind die vertrockneten Blumen auf dem Komposthaufen. Am Ort der Dämmerung wächst das Leben leise ins Echte hinein, selbst bei Tageslicht.
Die Verstorbenen leben in meinen Eingeweiden, da, wo es flau wird. Sie bewohnen die Freiräume zwischen den Zeilen. Sie schenken mir die Präsenz ihres abwesenden Lebens, so weiß wie die Rückseite einer bemalten Leinwand. Und doch hat das Weiß den Klang ihres Wesens. Die Sinnlichkeit, die wir gemeinsam bewohnen, ist die Wärme der Liebe, manchmal auch die Hitze der Wut, die kühle Brise eines Sommerlachens. Wie willst du sein?, fragen sie in mir. Wie willst du leben? Ich möchte in Augen schauen, und nicht zögern, zu umarmen. Ich möchte lieben, so, dass Menschen sich nicht verlieren. Ich möchte um dich sein wie ein sonnendurchwärmtes Herz, das nach dir schaut und auf Erkennen hofft.


Ohne den Sinn meines Sterbens würde mich das Leben überwuchern. Die Verstorbenen tragen diesen Sinn, den wir von unserer Seite aus nie wirklich zu fassen kriegen, genau wie sie. Manchmal ist es lange still. Irgendwann ein Summen, Resonanz zweier Seiten, wie zarte Luft. Darin zeichnet sich eine Berührung.
Von 2019 bis 2021 verbrachte Yves Berger die Novembertage auf dem Friedhof seines Heimatdorfes, um eine Serie von Monoprints zu malen. Jeden Tag, mit seinen Ölfarben und vier Aluminiumplatten ausgestattet, suchte er nach einer Begegnung, die seine Augen fesseln würde. Die Bilder werden in einem Buch veröffentlicht mit dem Titel ‹Book of Life›.








