Werden wir sesshaft!

Die größte Änderung menschlichen Lebens war der Wechsel von der Jäger- und Sammlerkultur zum Ackerbau. ‹Neolithische Revolution› bezeichnet der Archäologe Gordon Childe diese Umstülpung des ganzen Lebens. Wir Menschen hörten auf, uns das Leben zu holen, und begannen, es zu kultivieren, Schaf und dann Ziege zum Haustier zu machen, Weizen und Emmer anzubauen. Wir domesitizierten das Leben. Bezogen auf das Leben wurden wir sesshaft, doch wie ist es mit dem Geist? Wir sammeln die Klugheit der Ahnen und Geister, die vor uns gelebt haben, und jagen nach dem Einfall, der Lösung des Problems nach. «Wir stehen auf Schultern von Riesen», hat vor fast 1000 Jahren Bernhard von Chartres notiert, und nach ihm haben es viele, wie Isaac Newton, noch einmal gesagt. Wir sind Jäger und Sammler des Geistes. Wo wir jagen und sammeln, da sitzen wir auf der Schulter von Kant und Steiner, von Buddha und Jesus und sind so klug und weitsichtig, weil wir ihr Wissen und Vermögen haben.

Jetzt bauen wir Maschinen, die viel besser sammeln und jagen können als wir, weil sie nicht nach guten Worten und Sätzen Ausschau halten, sondern das ganze Vergangene auf einmal in den Blick nehmen und dann aus dieser unfassbaren Sammlung das Beste erjagen. Die künstliche Intelligenz (KI) ist die absolute Sammlerin und Jägerin der Gedanken. Jetzt macht sie noch Fehler, sie halluziniert, wie KI-Wissenschaftler und -Entwicklerinnen sagen. Weil die Entwicklung von KI exponentiell verläuft, werden diese Fehlschüsse der Jägerin KI vermutlich bald verschwinden. Spätestens dann wird es etwas albern, wenn wir weiter Jägerin und Sammler spielen.

Werden wir geistig sesshaft! Wie einst die Jäger und Sammler vor 12 000 Jahren – in Göbekli Tepe zuerst, später im ganzen Nahen Osten – Schafe und Ziegen zähmten, den Acker bestellten, einen Herd errichteten und ihr Leben in die Hand nahmen, so gilt es heute, geistig sesshaft zu werden: den Geist zu zähmen und ihn in die Hand zu nehmen. Das geht nicht mit Jagen und Sammeln, sondern ruft nach dem schöpferischen Geist in uns allen. Geist zu jagen und zu sammeln, ist etwas anderes, als Geist wie eine Gärtnerin zu züchten, wie ein Bauer ihn heimisch zu machen. Ich vermute, wir haben diesen Unterschied in seiner Tiefe noch längst nicht begriffen. Wer den Geist sammelt und jagt, hat ihn außer sich. Wer ihn züchtet und pflegt, hat ihn bei sich.

«Frei wovon – frei wofür?», das ist die vielgebrauchte Losung, wenn es um das Hereinbrechen neuer Technik geht. Ob Auto oder Telefon, Internet oder Flugzeug – all diese Technologien befreiten von etwas und für etwas. Wo wir für das ‹Für› zu träge sind, da wird aus dem Auto krankmachender Bewegungsmangel, aus dem Internet vereinsamende Naturentfremdung, da wird die Technik, die uns doch befreien sollte, zur Fessel. Wo wir das ‹Für› ergreifen, wird aus dem Flugzeug Weltgewandtheit, aus dem Internet Bildung und neue Begegnung. Wenn nun KI die neue Jägerin und Sammlerin wird, dann ist es der Ruf – wie zur Zeit der Neolitischen Revolution, als Pflanze und Tier heimisch wurden –, nun mit der digitalen Revolution den Geist zu beheimaten. Wie geht das? Ihn in sich zu finden, sich mit Jagen und Sammeln nicht mehr zufriedenzugeben, sondern zum Schöpfer, zur Schöpferin zu werden. Dass das alte Wissen gegenwärtig ist, das schenkt uns die KI, dass das zukünftige Wissen und Fühlen gegenwärtig sind, das schenkt uns der Geist in uns allen, wenn wir vom Jäger und Sammler zur Gärtnerin und Züchterin werden. Lassen wir es, den Geist zu jagen, alten Geist sammeln zu wollen, und lernen wir, ihn zu schöpfen, wie die Künstler und Künstlerinnen es uns lehren. Dann gelingt die Arbeitsteilung zwischen dem maschinellen Jagen und Sammeln von Ideen und dem menschlichen Hervorbringen und Kreieren von Ideen. Werden wir geistig sesshaft!


Titelbild Wir bohren uns tiefer in den Erdleib und verlassen unsere Erde. Beides mit und für künstliche Intelligenz (KI). Die Mitte halten wir Menschen. Mit der Bildauswahl zu unserem KI-Schwerpunkt stellen wir die Frage: Was ist der Körper von künstlicher Intelligenz? Oben links: eine der größten Kupferminen der Welt in Chuquicamata, Chile (Foto: Bruna Fiscuk). Kupfer hat eine hohe Leitfähigkeit und wird in Kabeln für die Stromversorgung und bei der Datenübertragung verwendet. Oben rechts: SpaceX-Satellit (Foto: SpaceX). Unten links: Data Center cern in Bern, Schweiz (Foto: Florian Hirzinger). Unten rechts: Glasfaser-Anschüsse in einem Serverraum (Foto: Albert Stoynov/Unsplash).

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