Beginnt das heutige Rechtsleben da, wo ich selbst für die Gleichheit Sorge trage, sie also nicht nur dem Staat überlasse? Eine kleine Feldstudie auf der Behörde.
Ich musste in der knappen Zeit von 8 bis 10 Uhr versuchen, auch ohne Termin dranzukommen, um meinen neuen Pass zu beantragen. Sonst würde ich nicht in den Urlaub fahren können. Wohlweislich war ich also schon um 7.15 Uhr vor Ort, in der Wartehalle des Bürgeramtes Weimar. Mit den fünf Menschen, die schon dort waren, begann eine zarte, freundliche und gut gelaunte Spielerei über das Ende der Schlange, nach der ich mich erkundigte. Der kurz nach mir eintretende Herr wurde dann von mir wiederum etwas feixend begrüßt mit der Anmerkung, dass ich gerade das Ende der Schlange sei. Auch er hatte den Blick des Orientierungssuchenden und die Frage, ob wir alle das gleiche Schicksal teilten. Wie alle, die von nun an den Raum betraten und uns anschauten. Manche fragten direkt, anderen wurden die Umstände erklärt. Jemand erzählte, er sei um 4 Uhr in Franken losgefahren, um hier ein Kfz-Kennzeichen zu bekommen. Die ältere Dame, die bis dahin etwas abseits gestanden hatte, getraute sich, zuzugeben, dass sie eigentlich auch noch vor mir an der Reihe sei. «Kein Problem, nehmen Sie doch bitte hier Platz.» Nach weiteren zehn Minuten waren wir schon so viele, dass wir auf die Idee kamen, es wäre durchaus lukrativ, dienstags früh hier ein Café zu eröffnen. Gemeinsames Lachen. Man könnte sich auch noch anders die Zeit vertreiben, wenn man nicht zu scheu dafür wäre, oder zu ruhebedürftig. Eine Fragerunde oder ein Wortspiel machen. Es erschien kurzzeitig möglich, dass einander unbekannte Menschen sich wieder frei und freudig begegnen können in Ansammlungen außerhalb jedweder politischer Lager oder Ansichten. Und mir kam es vor, als sei das medienkreierte Deutschlandbild eigentlich gar nicht am Boden der Tatsachen zu finden, sondern in einer Metaebene in der Cloud.
Nach weiteren zehn Minuten und dreißig Personen mehr geriet die Schlange ein wenig ins Wanken, fragmentierte sich, denn die gestiegene Anzahl der Wartenden verursachte wieder mehr Anonymität. Wir näherten uns 7.45 Uhr und ein Querschnitt deutscher Bürger und Bürgerinnen hatte sich versammelt: alt, jung, mit Kindern oder Klientinnen, transgender, Barbiestyle, zurückhaltend, laut erzählend, Anzüge, Jogginghosen, zerschlissener Ellenbogenstoff und teurer Lippenstift, müde, zugewandt, in sich gekehrt, mit Kopfhörern, sich Gesundheit wünschend nach dem Niesen. Die Blicke der ab jetzt Eintretenden waren eher verzweifelt ob der Länge der Schlange. Aber jemand erklärte, dass es dann eigentlich ganz schnell ginge, hätte man erst mal die Wartenummer gezogen. Jemand goss sich Tee ein und meinte, er hätte letzte Woche aufgegeben. Und die Frau, die die Erste gewesen war, stellte sich allmählich an die Maschine, um den Neuankömmlingen nun mit Körperpräsenz deutlich zu machen, dass es eine Schlange gab. Ihr Freund witzelte, sie sei der Bodyguard des Automaten. Wir lachten wieder. Die Dynamik hatte sich geändert, aber die Stimmung war immer noch gut. Am Ende waren etwa fünfzig Menschen im Raum. Alle gleich vor dem Gesetz und in ihren Anliegen, die mit der Behörde geklärt werden mussten.
Das erste Mal kam mir das Rechtsleben so unmittelbar ins Gespür. Für Geistesleben und Freiheit bringe ich recht schnell Verständnis auf. Aber hier war eine Gleichheit anwesend, die wir für gewöhnlich Vater Staat überlassen, beziehungsweise von der wir glauben, dass er sie zu regeln habe. Hat er ja auch. Doch an diesem Morgen wurde mir klar, dass wir diese Verantwortung nicht einfach so aus uns aussondern können. Denn sie liegt in mir. Ich gestalte mit, ob es gut geht zusammen oder ob es knallt, weil irgendwer sich vordrängelt und irgendwer starr auf seinem Recht beharrt. Das ist ja in Deutschland nicht unüblich: denn «der Gesetzgeber sieht vor», auch wenn ich nicht weiß, wer konkret das sein soll. Am Dienstagmorgen wollten alle das Gleiche, nämlich die Nummer aus dem Automaten, um Dinge zu klären, und waren gleich in der Tatsache, dass sie etwas brauchten, auch wenn ich auf Platz 6 war und der Letzte erst an 56. Stelle. Ich fragte mich, ob es etwas gäbe, was wir alle in dieser Art und Weise wollen könnten, was uns einen würde, also was wir so wollen miteinander und aneinander als Gleiche unter Gleichen. Gut leben miteinander? Frieden? Die Erde pflegen? Dann würde sich die Gleichheit in den Privatangelegenheiten verkehren zu einer Gleichheit im gemeinsam zu verantwortenden Gemeingut. Würde dann aus der Gleichheit Menschlichkeit werden? Kann die Sphäre des Rechtslebens, als Mitte aufgefasst, als Herzrhythmussystem, uns erlauben, im Gleichen doch miteinander ins Spiel zu kommen, beweglich zu sein? Das müssten wir wollen.
Um 7.45 Uhr wurde die Maschine freigeschaltet. Der Mann, der nach mir gekommen war, ließ die Frau vor, die es nicht bemerkt hatte, dass sie eigentlich ihn hätte vorlassen müssen. Er schien in dem Moment Zeit dafür zu haben und nicht sein starres Recht durchsetzen zu müssen. Als ich kurz nach 8 Uhr auf Platz 7 gehen durfte, erwartete mich ein luftballongeschmückter Arbeitsplatz mit einer Beamtin, die eine Schärpe um hatte. Ich fragte gleich, ob sie Geburtstag hätte. Nein! Es war ihr letzter Arbeitstag. Und ich gratulierte ihr herzlich. Wir lachten. Pünktlich zur Redaktionssitzung war ich an meinem Arbeitsplatz zurück.
Foto Meizhi Lang