Anthroposophie hilft, Vielfalt wieder einzuladen und Gesellschaften ohne Spaltung zu gestalten.
Es ist der Tag nach den US-Präsidentschaftswahlen, und ich sitze in meinem kleinen Café und versuche, das Ausmaß der Wahlergebnisse und einer weiteren Trump-Zeit in diesem Artikel zu fassen. Mein Laptop trägt einen Sticker, der die liberale Einstellung ‹Smashing the patriarchy› (deutsch: Das Patriarchat zerschlagen) anpreist. Ein Mann setzt sich mir gegenüber an den Tisch und ich fühle, wie mein Puls steigt. Ich frage mich, ob ihn der Sticker triggert und er vielleicht wütend wird, weil er glaubt, ich sei eine radikale Linke.
Für viele von uns in den USA ist diese Schicht der Angst allgegenwärtig. Sie verfolgt uns in Begegnungen mit Menschen, deren politische Vorlieben wir nicht kennen. Die Emotionen bestimmen diese Zusammentreffen und durchdringen unsere Meinungen; sie machen aus unserem Denken Urteile und Unbeweglichkeit und verhärten unsere Herzen.
Ich muss hier zugeben, dass es keine Möglichkeit gibt, das, was in den USA und auf der Welt passiert, zu vereinfachen. So viele Kräfte – sowohl geistige als auch materielle – spielen da rein, mit vielschichtigem Einfluss auf Individuen und die Erde. Viele fragen sich, was passiert, was wir nicht wahrnehmen können. Was passiert im Hintergrund? Welche mächtigen Menschen sind beteiligt? Welche geistigen Wesen mischen mit? Und was steht auf dem Spiel? Einige meinen, das Pendel würde nur von der einen zur anderen Seite schwingen und schließlich zurück in die Mitte kommen, aber viele glauben auch, dass jemand seine Hand an der Spitze des Pendels hat und die Richtung kontrolliert.
Echokammer der Einseitigkeiten
Im Land haben Menschen sich starke Meinungen gebildet, meistens über Themen, mit denen sie keine direkte Erfahrung haben, zum Beispiel Immigration, Wirtschaft, Frauenrechte. Diese persönlichen Vorstellungen, die aus dem emotionalen Bereich kommen, krallen sich an unserem Gefühlsleben fest, bis wir schließlich keine andere Wahrheit mehr zulassen. Außerdem ist der Kontrast zwischen diesen Wahrheiten extrem. Jede Seite sieht in der anderen die Zerstörung des Guten und der menschlichen Werte. Diese Dichotomien finden in der Welt ihr Echo: demokratisch und republikanisch, Männer und Frauen, Palästina und Israel. Zur gleichen Zeit bemühen sich viele um einen dritten Weg, einen Weg der Mitte. Aber dessen Entstehung ist unbequem und wir können leicht in die polarisierten Ecken zurückfallen, die uns vertraut sind.
Die jungen Menschen, mit denen ich arbeite, sagen mir, dass die Wahrheit schwer erkennbar sei. In den sozialen Medien erhalten sie direkte Nachrichten von Menschen, die behaupten, sie zu kennen und an ihnen interessiert zu sein, nur um dann herauszufinden, dass diese Leute gar nicht real existieren, sondern nur für Geld oder Ausbeutung geschaffen wurden. Auf der großen Bühne hören wir von ‹Deep Fakes› und ‹Fake News›.
In den USA, und ich vermute an den meisten Orten, wo es diese Spannungen gibt, ist die Wahrheit eine knifflige Sache. Was mir wahr erscheint, ist vielleicht nicht das, was dir wahr erscheint. Wir wollen die Komplexität der Fragen in den USA vereinfachen, aber ohne den Reichtum der verschiedenen Perspektiven und Wahrheiten kann nichts gelöst werden. Anthroposophie lädt uns zum Glück zu zwölf unterschiedlichen Ansichten ein, wenn es um soziale Themen geht. Rudolf Steiner schreibt in ‹Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?› – für mich ein Handbuch für Frieden –: «Auf Vertrauen und wahre Menschenliebe muss alles Wahrheitsstreben gebaut sein. Es muss darauf gebaut sein, obgleich es nicht daraus entspringen, sondern nur aus der eigenen Seelenkraft quellen kann. Und die Menschenliebe muss sich allmählich erweitern zur Liebe zu allen Wesen, ja zu allem Dasein.»1 Können wir unsere höheren Anteile, unsere Liebe, nutzen, um die subjektiven Wahrheiten hinter uns zu lassen oder wenigstens sie zu vergegenwärtigen?
Anthroposophie – eine Friedensbewegung
Anthroposophie ist aus der Asche, aus der Katastrophe entstanden, aus der tiefen Kluft zwischen den Ansichten, was wahr und gut ist. Waldorfpädagogik entstand aus dem Krieg, biodynamische Landwirtschaft aus der schädlichen Verwendung von Pestiziden und Chemikalien, Anthroposophische Medizin und Heilpädagogik aus dem Scheitern der materialistischen Auffassung von Gesundheit und Heilung.
Wegen dieser Anfänge glaube ich, dass die anthroposophische Bewegung eine Friedensbewegung ist, eine Bewegung in Richtung Ganzheit und weg von der Zerstörung. Als solche müssen wir uns fragen, wie wir zusammen weitergehen. Wie finden wir die essenziellen Wahrheiten von Liebe und Mitgefühl, Offenheit und dem Willen, das Gute zu schaffen? Kann Unglaube zu Akzeptanz werden? Können sich Siegesgefühle zu vertiefenden Gesprächen wandeln? Wo sind die Orte, an denen wir uns begegnen und miteinander sprechen? Während wir uns auf weitere vier Jahre mit Donald Trump als unserem Präsidenten einstellen, müssen wir lernen zu verstehen, welche Fülle von Wahrheiten in jedem Menschen, jeder politischen Partei und unserer ganzen Gesellschaft existieren.
Der Mann, der mir gegenübersitzt, hat ein Gespräch mit mir begonnen. Politik ist kein Thema darin und ich frage mich, ob er wählen gegangen ist. Viele gingen nicht zur Wahl. Er zeigt auf einen anderen Sticker auf meinem Laptop, ein kleines Bild aus Pennsylvania, wo ich aufgewachsen bin – einer der kritischen Swing States bei dieser Wahl. Er fragt, wie das Wetter dort sei, und erzählt, dass er gerade von San Diego nach Nordkalifornien gezogen sei. Er lächelt und sagt, manchmal sei das Wetter einfach zu gut gewesen, zu sonnig und zu perfekt. Zu einseitig, denke ich.
Übersetzung aus dem Englischen: Franka Henn
Bild Ella Lapointe, Election, 2024