Am 9. September 2024 ist Karen Swassjan gestorben. Zahlreiche Publikationen, Seminare und Vorträge zeugen von seinem kompromisslosen Engagement für die Anthroposophie.
Ich habe ihn nur zweimal bei Vorträgen erlebt, aber alles gelesen, was mir zugänglich war. Und dies nicht nur mit Interesse, sondern oft auch mit Hochgenuss. Denn dieser Mensch, der als Armenier das Deutsche als Fremdsprache erwerben musste, schrieb in dieser Sprache so gelenkig wie virtuos – und immer auch mit spitzester Feder.
Er muss sich wohl von Nietzsche den Hammer ausgeliehen haben, mit dem er, ihm gleich, philosophierte. Es ging ihm immer um das, was Anthroposophie ist und zu sein habe, aber so, dass er den ‹Schnabel› seines Denkens an imaginären (zuweilen auch identifizierbaren) Gegnern wetzte, die es zurechtzuweisen galt. Im Gange seines Philosophierens teilte er unermüdlich nach links und rechts Backpfeifen aus und hat sich damit wohl nicht immer Sympathie erworben. Das schien auch nicht seine Absicht gewesen zu sein, denn das Einstehen für die Wahrheit war für ihn eine Mission, die im Sumpf ihrer allgegenwärtigen Veroberflächlichung, Verdrehung und Verballhornung zu geschehen habe. Sein geistesverwandter Mitstreiter war der Kunstmaler und Anthroposoph Karl Ballmer (1891–1958), ein Unverstandener, auch ein radikaler Kämpfer für Rudolf Steiner. In seinem Buch ‹Die Karl-Ballmer-Probe›1 hat Swassjan ihn gewürdigt, aus dem Vergessen hervorgeholt und Seite an Seite mit ihm für das ‹Ereignis Rudolf Steiner› gekämpft.
Er blickte nicht vom Subjekt Anthroposoph auf das Objekt Anthroposophie, sondern umgekehrt von der Anthroposophie rückwärts-reflexiv auf sein Subjekt und ließ sich mehr infrage stellen, als Fragen zu beantworten. «Wo wir mit unserem Bewusstsein nicht hinreichen – die Welt des Imaginativen, Inspirativen und Intuitiven –, da haben wir uns nicht als Anthroposoph, da sind wir in das Wesen Anthroposophie eingegliedert. Nicht die Anthroposophie ist dann in uns, sondern wir sind in ihr, nicht wir denken sie, sondern sie denkt uns.»2
Swassjan hatte nichts übrig für die dualistische Sicht auf die Anthroposophie, er fand das arrogant und hatte dadurch in seiner Frankophilie vielleicht mehr gemeinsam mit den Exponenten der French Theory (Derrida, Bourdieu, Foucault und andere), als ihm lieb war. Er reagierte gereizt auf jede Spur einer Patina von Selbstgefälligkeit, Überheblichkeit und sah darin den schäbigen Versuch, Rudolf Steiners atemberaubende Größe auf das eigene Niveau herunterzuschrumpfen und ‹behandelbar› zu machen.
Für manche war diese Größe Rudolf Steiners, die Ballmer und Swassjan vertraten, schlicht zu groß. Sie witterten Vergötterung. «Sagt man nun, Rudolf Steiner sei Pädagoge geworden, so ist das zwar richtig, muss aber präzisiert werden. Ein Pädagoge lehrt und erzieht von außen, und er schafft dafür ein Verhältnis zwischen sich selbst und den anderen. Was er seinen Schülern gibt, ist sein Wissen […] Beim Pädagogen Steiner ist das aufs Genaueste umgekehrt. Sein Wissen ist kein Ziel, sondern nur ein Mittel zum Ziel. Er gibt den anderen (seinen Schülerinnen und Zuhörern) nicht sein Wissen, sondern – als Wissen in Form des Wissens – sich selbst, sein Selbst. Dafür aber darf er nicht mehr er selbst sein, das heißt, er muss verzichten, sein eigenes, persönliches Selbst an sich zu tragen und zu leben. Da nun der Modus Vivendi und Operandi seines Ich absolute Schenkung ist, verschenkt er sich selbst, sein Selbst an die anderen und lebt sein Leben weiter in den Beschenkten. Karl Ballmer hat das in die prägnante Formel gefasst: Ich der Andere.»3 Zugegeben, das ist harte Kost und dicke Post zugleich. Was dem Verständnis entgegensteht, ist aber lediglich die Tatsache, dass Swassjan solche höchst subtilen Gedanken nicht in Gesäusel verpackt, sondern ungegart auf den Tisch stellt und dadurch provoziert, schockiert. Was nicht heißt, dass ein solcher Gedanke es nicht wert sein könnte, einmal ins Seelenleben aufgenommen zu werden, um zu beobachten, was dann geschieht.
Etwas Atemloses ist in Swassjans Schriften zu spüren. Er schrieb apokalyptisch, so, als gälte es, noch vor dem Sturz in den Abgrund, ins Nichts, alles zu sagen, was die Zeit erfordert. Damit nicht alle zu Fall kommen, sondern wenigstens ein Häuflein sich den eigenen Boden unter den Füßen schafft und die Schöpfung aus dem Nichts mit Rudolf Steiner, den er den Kommenden nannte, weiterführt. «Natürlich steht es uns frei, Rudolf Steiner hochnäsig zu zerschwätzen, in der festen Überzeugung, dieses Thema sei nicht seriös und keinen Deut wert. Doch steht es uns auch frei, zu wissen, dass wir, indem wir ihn totschweigen und zerschwätzen, im Grunde nur uns selbst zerschwätzen und totschweigen, unser eigenes Ich, welches wir besonders da hochzuschätzen wissen, wo es kaum zu Größerem fähig ist, als Missgeburt und Abschaum seiner selbst zu sein, ungeachtet aller ihm von außen anhaftenden Visitenkarten und Auszeichnungen. Und noch steht es uns frei, zu wissen, dass es einmal (vielleicht sehr bald schon) – unmerklich, lautlos – zu spät und unwiederbringlich sein wird.»4 So sprechen eigentlich Propheten aus der Not der Zeit heraus.
Jetzt, wo er in der Welt der Verstorbenen weilt, kann sich das Antipathische, das die Atmosphäre seines Wirkens durchströmte, in Sympathie und Dankbarkeit verwandeln. Denn er hatte die undankbare Aufgabe, wie ein Hüter vor dem Tor einer allzu gefälligen Anthroposophie zu stehen und jedem, der seinem Geist begegnete, alles Unwahrhaftige zurückzuspiegeln. Wahrhaft ein mühsamer Job. Ich glaube, er hat ihn recht gut gemacht.
Bild Karen Swassjan, 2006
Footnotes
- Karen A. Swassjan, Die Karl-Ballmer-Probe. Edition LGC, Siegen 2013.
- Karen A. Swassjan, Rudolf Steiner. Ein Kommender. Verlag am Goetheanum, Dornach 2003, S. 327.
- Karen A. Swassjan, Verschüttete Welt. Aufsätze – Studien – Essays. Nadelöhr, Aarau 2021, S. 225.
- Karen A. Swassjan, Rudolf Steiner. Eine Einführung. Edition Morel, Dornach 2017, S. 105.