Wirklichkeit, Wahrheit und Realität

Über die Beziehung dreier Begriffe zu sich selbst und den menschlichen Seinssphären.


1. Wie ist die Beziehung und was ist der Unterschied zwischen den drei ähnlichen Wörtern Wirklichkeit, Wahrheit und Realität? Vom Instinkt her beschreiben sie alle offensichtlich etwas Gemeinsames, dennoch lassen sie sich feiner differenzieren. Im alltäglichen Sprachgebrauch neigt man dazu, dasjenige, was vor einen gestellt wird, was schon da ist, als die Wirklichkeit, die Wahrheit oder die Realität anzusehen. Dann verfügen diese Wörter nicht mehr über ein einzigartiges Wesen. Ein Wort war am Schöpfungsanfang die Offenbarung eines Wesens und danach Träger desselben. Könnte es unter allen Umständen durch ein anderes Wort ersetzt werden, hätte es keinen Sinn mehr, zu existieren, zu sein. Wie ein Mensch. Die Wörter wurden und werden nicht als Diener geschaffen, die Sprache zu verschönern. Sie sind umgekehrt die Herren der Sprache. Wie ein Mensch zur Gesellschaft. Mit der immer weiter und tiefer fortschreitenden Materialisierung und Intellektualisierung verlieren sie allmählich die mit der ursprünglichen Quelle des Wesentlichen verbundene Zauberkraft und anschließend ihre Aura. Wie ein moderner Mensch.

2. Wie können diese drei Wörter wieder belebt werden, damit sie ihr eignes ‹Ich› wiederfinden? Für mich gibt es zwei Wege. Zum einen bringen wir diese Wörter in eine Metamorphose – jedes Wort geht in das andere über oder wandelt sich in das andere um. Die Wörterwelt wird zu einem Verwandlungsmeer. Zum anderen suchen wir das Gegensätzliche des jeweiligen Wortes, um es zu bestimmen, anzuregen und dann voranzutreiben. Diese beiden Prinzipien entsprechen denen in der Farbenlehre, und zwar dem Übergangsprinzip und dem Komplementaritätsprinzip.

3. Die Wirklichkeit ist oder weist auf etwas, das wirksam ist, das sich verwirklichen kann und sich verwirklichend ist. Sie ist ein Mix aus beiden Seiten, nämlich dem Wirksamen und dem bereits Verwirklichten. Dazwischen spannt sich ein Verwirklichungsprozess, die sogenannte ‹Erscheinung›. Entweder durch die Menschenseele oder die Naturseele verwirklicht sich das Wirksame. Poetisch gesagt, es entzündet die Seele dermaßen, dass sie zum Scheinen und Leuchten kommt. Deshalb bezieht sich die Erscheinung immer auf das Lichtvolle und das Farbige. So dient die ‹Erscheinung› als das Gegensätzliche der ‹Wirklichkeit›.

Zeichnung: Gilda Bartel, Dirk Schultz

Die Wahrheit ist etwas, das wahr ist, wirklich ist. Sie ist das Erkennen der Wirklichkeit. Das Gegenteil davon ist das Unwahre, die Illusion, in der alten indischen Kultur die Maya. Woher stammt die Illusion? Das Tier nimmt die Welt ‹wahr› und lebt in die Welt hinein. Wie wunderbar ist seine Wahrnehmungsweise. Trotzdem dient diese wahre, doch einseitige Wahrnehmungsweise nur zum Überleben. Dagegen ist das Bestreben, aus der Welt beziehungsweise dem Makrokosmos heraus loszugehen, die Inhärenz des Menschen, um seinen eigenen Mikrokosmos aufzubauen. Natürlich muss er dafür einen hohen Preis zahlen: die weisheitsvolle Wahrnehmungsfähigkeit des Tieres zu verlieren und in die Illusion zu geraten. Grundlegend stammt die Illusion aus der Unvollkommenheit der Menschen und ist eine notwendige Phase der Menschenentwicklung vom Tierischen zum Göttlichen. In dieser Phase wird die leuchtende Erscheinung auf das schattenhafte ‹Phänomen› reduziert, entweder das kulturelle oder das Naturphänomen. Das Phänomen pendelt zwischen Erscheinung und Illusion. Es ist eine goetheanistische Frage, wie es sich erneut in die sinnvolle Erscheinung erheben lässt, anstatt in die Illusion zu rutschen. Die aus der äußeren Erscheinung angeregte innere Erscheinung als eine seelische Offenbarung ist zwar lebendig, aber noch nicht hinreichend wahr, weil sie im Zeitlich-Räumlichen beschränkt ist. Nur jene Erscheinungen hinter dem Phänomen, also das Gesetzmäßige und das Wirksame, sind wahr, weil sie über das Zeitlich-Räumliche hinaus bestehen und sich im Ewigen befinden. Wissenschaft heißt, sowohl die Gesetzmäßigkeit als auch die wirksame Kraft zu erkennen. Deswegen hat die Wahrheit öfter, wenn auch nicht immer, mit der Wissenschaft zu tun. Sie ist der Gral der Wissenschaft. Die heutige Wissenschaft ist jedoch nur halb wahr, denn sie strebt, bewusst oder unbewusst, bloß nach der Gesetzmäßigkeit und vergisst das Wirksame. In diesem Sinne kann nur die Geisteswissenschaft als Wissenschaft angesehen werden, dagegen sind solche Gesetzmäßigkeiten, die in der gegenwärtigen Wissenschaft die wirkenden Kräfte verneinen, also auch eine Illusion, nur denkerisch anstatt bildhaft, ein nüchternes und totes Ding. Man muss lernen, wie die aus dem Makrokosmos vom Geistigen durchdrungene kulturelle oder natürliche Erscheinung durch ihr Wahrnehmen und eins werdendes Mitfühlen wieder in ihrem eigenen Mikrokosmos erscheinen kann. Der Mensch muss lernen, wie sich die im Mikrokosmos erzeugten Empfindungen und Erfahrungen durch das Denken dermaßen extrahieren beziehungsweise abstrahieren lassen können, dass die Wahrheit, also die von der Gesetzmäßigkeit durchdrungene Kraft oder die von der Kraft durchdrungene Gesetzmäßigkeit, erkannt werden kann. Zuletzt gewinnt man das im Bewusstsein kristallisierte Resultat, nämlich die Erkenntnis. Dadurch werden die im Mikrokosmos innewohnenden geistigen Kräfte geschult. Sie lernen, wie Kinder zu ihrem Vorbild, den Geistern im Makrokosmos, zu werden. Der Mensch wird Schöpfer, wie sein Vorbild im Makrokosmos.

Realität ist nur ein gefrorener Moment der Weltmetamorphose.

Die Realität könnte sein, was bereits verwirklicht ist. In diesem Fall ist ihr Gegenteil das Potenzial, welches noch nicht entfaltet ist. Sie könnte auch als ein zurzeit noch nicht Vollendetes gesehen werden. Dann ist das Gegenteil das Ideal, das vollkommen ist. Manchmal weist die Realität auf das hin, was schon an der materiellen Welt angelandet ist. Das Gegensätzliche ist dann die Fantasie, die noch in der seelischen Welt schwebt. Die Realität ist die Frucht der Wirklichkeit und der Ausgangspunkt sowie die Bedingung für die nächste Offenbarung der Wahrheit. Würde man die Realität direkt als die Wirklichkeit oder Wahrheit betrachten, dann würde man von ihrem Phänomen angezogen werden und in die Illusion fallen. Wahr ist, dass die Realität nur ein eingefrorener Moment der Weltmetamorphose ist. Sie löst sich im nächsten Moment auf und verwandelt sich in die nächste Realität.

4. Ein Beispiel: Ein Apfelkern wächst zu einem Apfelbaum heran. In diesem Kern, also diesem Samen, schlummert schon zu Beginn ein potenzieller Baum. Mithilfe der Erde, des Wassers, des Sonnenscheins und der Luft wird dieser Samen im Jahreslauf zu einem echten Baum. Das ist die Wirklichkeit. Die im Samen schlummernde Kraft muss sich nach einer Gesetzmäßigkeit offenbaren, um ein Apfelbaum statt ein Birnbaum zu sein. Das ist die Wahrheit. Jeder Moment dieses Wachstumsprozesses ist eine Erscheinung. Dieser hier und jetzt stehende bereits erwachsene Apfelbaum ist die Realität, woraus neue Samen und dann neue Bäume hervorgehen können. Würde man daran glauben, dass ein Schöpfer ihn geschaffen habe oder dass die Erde gezaubert wäre oder dass dies zufällig geschehe, dann würde man sich irren und in die Illusion fallen. Die Wahrheit ist, dass sich der Baum selbst erschaffen hat.

5. «Im Anfang war das Wort, / und das Wort war bei Gott, / und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden / und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.» Das ist der Anfang des Johannesevangeliums. Durch das göttliche Wort wurde die Welt geschaffen. Es und das Sein waren also identisch. Das menschliche Wort ist eine Nachahmung dieses göttlichen Wortes. Durch den Sprachgenius in jedem Volke wurde eine Facette des göttlichen Wortes, das ganzheitlich wesentlich ist, mit dem menschlichen Wort in der Volkssprache gegriffen beziehungsweise begriffen. Es war zwar einseitig, doch lebendig. In der gegenwärtigen digitalen Welt ist diese letzte Lebendigkeit verloren gegangen. Nun ist ein Leichnam, nämlich das abstrakte trockene Wort, übrig geblieben. Wie die menschlichen Wörter, aus heiligem Grund geschaffen und schon da, wieder aus der ursprünglichen schöpferischen Quelle herausgeholt werden können, ist in heutiger Zeit eine Herausforderung. Und zugleich eine Aufgabe für jede Kultur, wahrscheinlich auch für die Anthroposophie.

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