Macht, Einfluss und Reichtum der USA machten die Amtseinführung von Donald Trump zu einem globalen Ereignis. Menschen auf der ganzen Welt schauten zu und fragten sich: Was bedeutet das? Wonach fragt es in mir?
Der neue Präsident kündigte eine ‹Revolution des gesunden Menschenverstands› an, ein Motiv, das gerade überall widerhallt. Seine Revolution meint jedoch eine Priorisierung nationaler Interessen, die Ausbeutung energiereicher natürlicher Ressourcen, eine Zunahme der Industrialisierung und des Konsumverhaltens sowie des Wettbewerbs mit anderen Ländern.
In einem Zeitalter außergewöhnlicher wissenschaftlicher und technologischer Macht mag die Sorge um den gesunden Menschenverstand vielen befremdlich vorkommen. Darüber wunderten sich auch alteingesessene Politiker und Politikerinnen, die sowohl in der republikanischen als auch in der demokratischen Partei verdrängt worden waren. Seit mehr als einem Jahrhundert suchen Denker und Denkerinnen nach Wegen, die instrumentelle, wirtschaftliche und technologische Rationalität besser mit Werten und Qualitäten des menschlichen Maßes und mit dem Leben selbst zu verbinden. Dies ist das Herzstück der Soziologie Max Webers. Es steht im Mittelpunkt der Anliegen der ‹neuen Linken›, Hannah Arendts ‹Vita activa› im Gegensatz zur ‹Vita contemplativa›, und der Neokonservativen, die in letzter Zeit ihre Machtpositionen aufgeben mussten. In unterschiedlicher Weise schauen sie alle auf diese ‹Intelligenz›, die das menschliche Leben auf der Erde umgestaltet (definiert als Fortschritt) und zugleich den ethischen Bedenken, Fähigkeiten und Werten des Menschen widerspricht und sie untergräbt. Diese ‹neue Intelligenz› entfaltet sich durch die Faszination für Logik und Mathematik und die Praxis des Testens von Hypothesen und des Experimentierens. Sie wird assoziiert mit einer Vision der Welt als große Maschine, die durch Berechnung kontrolliert und manipuliert werden kann, wobei allen Phänomenen abstrakte Funktionen zugewiesen werden. Diese Form des Wissens ist von Natur aus auf Herrschaft und bewusste oder unbewusste Unterwerfung des Einzelnen unter ein rationales System ausgerichtet. Die hochgradig disziplinierten und spezialisierten Formen der modernen instrumentellen Vernunft finden ihren Ausdruck in einer Kultur des ‹Expertentums›. Eine spannungsgeladene Kluft ist dabei entstanden zwischen aktuell bestmöglichen technologischen Wissenschaftspraktiken und ‹gesundem Menschenverstand›.
In den Klüften
Wenn wir nicht wissen, woraus unsere grundlegenden Wirtschaftsgüter und Waren gemacht werden oder wie sie richtig entsorgt werden können, entsteht eine Spannung zwischen gesundem Menschenverstand und Fachwissen. Wie ist ein umfassendes Verständnis der schlechten Abbaubarkeit unserer genutzten Kunststoffe und der ökologischen Krise möglich, wenn die meisten Menschen über die grundlegendste Materialität ihrer täglich genutzten Produkte im Unklaren sind? Das gilt für Einwegbecher wie für unsere Telefone, die für die meisten von uns ein Rätsel sind.
2009 wurde deutlich, dass hart arbeitende Menschen, die ihr Geld sparen oder investieren, durch die Aktivitäten des Finanzsektors alles verlieren können, während Letzterer von Steuerzahlenden finanzierte Rettungsgelder erhält. Für viele ist dies ein Beispiel für einen hoch spezialisierten Ansatz in der ‹Wirtschaftswissenschaft›, der den gesunden Menschenverstand weitgehend ausschließt und verlangt, dass wirtschaftliche Entscheidungen von Experten diskutiert und entschieden werden. Etwas Ähnliches können wir im Gesundheitswesen beobachten. In den USA, einem Land, in dem die meisten Menschen religiös oder spirituell orientiert sind, verlangten die Vorschriften des öffentlichen Gesundheitswesens im Zusammenhang mit Covid-19 von Menschen, dass sie ihre sterbenden Angehörigen im Stich lassen. Menschen wurden angewiesen, nicht zur Arbeit zu gehen, mit der rationalen Begründung, dies würde Leben retten, obwohl sie arbeiten müssen, um ihr Leben und das ihrer Kinder zu sichern. Auch hier kann man verstehen, dass viele dies als einen Konflikt zwischen ‹gesundem Menschenverstand› und dem Diktat von Fachleuten empfanden. Gerade werden entlassene Militäroffiziere begnadigt, die Impfungen verweigerten. Und Robert Kennedy Jr., der sich in vielerlei Hinsicht gegen die Expertisekultur im Gesundheitswesen wendet, wurde für die Leitung des Gesundheitsministeriums nominiert.
Beim US-Militär finden wir diese Kluft auch. Heute wird fast ein Sechstel des Bundeshaushalts der USA für das Militär aufgewendet, mit 800 Militärstützpunkten auf der ganzen Welt und ‹Antiterror›-Einsätzen in fast 85 Ländern in den letzten Jahrzehnten.1 Die meisten Menschen in den USA wissen das nicht. Eine der wichtigsten Aktivitäten des Landes ist also für die Menschen weitgehend unsichtbar und jenseits des ‹gesunden Menschenverstands›. Friedensversprechungen und das Ende der ‹ewigen Kriege› sind eine ernste Angelegenheit, und manche sehen in der Haltung des neuen Präsidenten Hoffnung gegenüber Konflikten und der konventionellen Kultur. Die Nachrichtendienste spielen in diesen Fragen eine Schlüsselrolle. Seit Jahrzehnten verweisen Untersuchungen darauf, dass sie den ‹gesunden Menschenverstand› und die Zukunft des Landes zu lenken versuchen. Viele glauben an die Möglichkeit einer Verwicklung der Geheimdienste in den innerstaatlichen Terrorismus, einschließlich der Ermordung von John F. Kennedy2 und Martin Luther King Jr.3 Eine von Trumps ersten Handlungen war die Anweisung, alle verbleibenden geheimen Dokumente im Zusammenhang mit diesen Morden zu entsiegeln.4
Dieses Gefühl der Spannung zwischen den ‹Gemeinen›, dem Volk (Demos), und den Expertinnen und Experten ist in fast allen Bereichen des modernen Lebens zu spüren. Es handelt sich nicht um ein wirtschaftliches Problem, auch nicht um eines der staatlichen Verwaltung. Und es ist kein technisch lösbares Problem. Optimistische Reden, die kein Gespür dafür haben oder diese Spannungen unterschätzen, wirken unehrlich. Eine politische Kampagne, die zu aufgesetzt, zu poliert und kompetent im herkömmlichen Sinne ist, macht einen unheimlichen, roboterartigen Eindruck.
Soziale Imaginationen
Das Erlernen von Logik und Rationalität erfordert Anstrengung und ist durch Disziplin und Organisation gekennzeichnet. Wenn wir darüber nachdenken, was das Gemeinsame ist (die Demokratie verlangt dies), können wir nicht sagen, dass es streng logisch, systematisch oder kalkuliert ist. Soziale Theorien unterscheiden sich von sozialen Imaginationen.5 Diese bestehen aus Bildern, Geschichten und Vorstellungen, die mit Werten und Bedeutung durchdrungen sind. Sie sind mit den Orten, an denen wir leben und arbeiten, den Menschen, die wir kennen, und den Aktivitäten, an denen wir teilnehmen, verwoben. Sie sind durchdrungen von Gefühlsqualitäten, Stimmungen und ethischen Dimensionen und Horizonten. Hier können wir intuitiv nach dem ‹gesunden Menschenverstand› suchen. Dies bringt uns zu einem sehr wichtigen Punkt. Das Feld, von dem wir erwarten, dass es die Orientierungen entwickelt, die wir ‹gesunden Menschenverstand› nennen, hat sich in den letzten Jahrzehnten radikal verändert. Mit Radio und Fernsehen hat sich dieser imaginative Erfahrungshorizont radikal gewandelt. Heute sind Bildschirme und Bilder allgegenwärtig, und die Fähigkeit, zwischen Wachen und Träumen, Bildern und Realität zu unterscheiden, hat sich verändert. Werbung und die Fähigkeit, Konsum- und Verbrauchszyklen zu steuern, stellen eine hohe Kunst der visuellen Kultur und ihr politisches Gegenstück dar – es ist die Fähigkeit, den ‹gesunden Menschenverstand› durch unterbewusste Propaganda zu formen.6
Während wir sehen, wie alte Konkurrenten durch neue populistische politische Bewegungen an den Rand gedrängt werden, spüren wir instinktiv die Angst vor unserer Lage: die Verwundbarkeit der Wahrheit des Lebens auf menschlicher Ebene angesichts einer Intelligenz, die dem Menschen nicht gerecht werden kann. Zugleich wird unser ‹gesunder Menschenverstand› manipuliert und untergraben durch die Revolution der Kommunikationstechnologien und die aktuelle Nutzung der visuellen Kultur. Es besteht ein Gefühl der Gefahr und der Dringlichkeit, auch wenn viele nicht merken, dass sie desorientiert sind oder ‹unter Drogen› gesetzt wurden. So wie man im Traum auf eine Phantomgestalt losgeht, die ein tatsächlicher Eindringling im Zimmer sein könnte, besteht auch die Gefahr, dass der Träumende sich selbst verletzt oder einen Freund, der gar nicht eindrang. Unser ‹gesunder Menschenverstand› ist in einem vagen Zustand von Unklarheit, auch wenn wir fühlen, dass etwas nicht stimmt.
Was würde eine ‹Revolution des gesunden Menschenverstandes› eigentlich bewirken? Goethe hat in seiner Farbenlehre und in seinen Beiträgen zur Biologie eine Art des Verstehens entwickelt, die die instrumentelle Rationalität ergänzt. Der innere Kern seiner Methode war, dass jedes Experiment nur durch die größte praktische Vielfalt von (richtig geordneten) Gegenexperimenten erhellt werden kann. Die einzelnen Phänomene wurden nicht durch Berechnungen aus allgemeinen Prinzipien erklärt, sondern das Allgemeine ergibt sich am Schluss aus der größten Vielfalt der Besonderen, und, welch Wunder, in Form eines Einzelnen: dem ‹Urphänomen›.7 Kürzlich wurde nachgewiesen, dass Goethes Ansatz in der Wissenschaft eine wichtige Rolle bei der Entstehung der ökologischen Bewegung und der Formulierung ihrer Kernbotschaft spielte: Die Erde, einschließlich der Menschen und ihrer Wirtschaft, ist ein zusammenhängendes, lebendiges Ganzes8 – eine Sichtweise, die das nationale Bewusstsein züchtigt und eine Art globale Bürgerschaft unterstützt. Ein Aspekt dieser Bewegung waren neue Ansätze im Finanz- und Bankwesen, die entstanden, als Goethes theoretischer Beitrag zum ‹gesunden Menschenverstand› durch Personen wie Rudolf Steiner, Daniel Dunlop und Walter Stein in der assoziativen Ökonomie eine praktische und ethische Entsprechung fand. Sie waren in der Lage, die ethischen und wirtschaftlichen Auswirkungen zu verstehen, die mit dieser Kultur des disziplinierten ‹gesunden Menschenverstands› oder der Urteilskraft verbunden sind. Diese Kultur offenbart einen ‹Imperativ› der gegenseitigen Abhängigkeit, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und des guten Willens, der der sozialen und wirtschaftlichen Spezialisierung und der Arbeitsteilung innewohnt.9
Dies steht in krassem Gegensatz zu der ‹Revolution des gesunden Menschenverstands›, die sich die neue Regierung in den USA auf die Fahnen geschrieben hat. Das Schüren von Nationalismus, des wirtschaftlichen Wettbewerbs und der Ausbeutung von Ressourcen (ohne Rücksicht auf die planetarischen Grenzen und die globalen Zusammenhänge) ist in Wahrheit eine Art tragisches Gegenbild des gesunden Menschenverstands und stellt eine Illusion mit einem abscheulichen Kern dar.
Bild Ella Lapointe, Election 2024
Fußnoten
- Phil Klay, Uncertain Ground: Citizenship in an Age of Endless, Invisible War. Penguin Publishing Group, 2022.
- James W. Douglass, JFK and the Unspeakable: Why He Died and Why It Matters. Simon and Schuster, 2010.
- William F. Pepper, An Act of State: The Execution of Martin Luther King. Verso Books, 2018.
- Freigabe von Unterlagen im Zusammenhang mit den Ermordungen von Präsident John F. Kennedy. Das Weiße Haus. Verfügbar unter: whitehouse.gov.
- Charles Taylor, Modern Social Imaginaries. Duke University Press, 2004.
- Hilary Osborne, What is Cambridge Analytica? The firm at the centre of Facebook’s data breach. The Guardian, 18 March 2018.
- Arthur Zajonc, David Seamon (Hrsg.), Goethe’s Way of Science: A Phenomenology of Nature. Albany, SUNY Press, New York, 1998.
- Dan McKanan, Eco-Alchemy: Anthroposophy and the History and Future of Environmentalism. University of California Press, 2017.
- 2024 fand am Goetheanum eine Veranstaltung statt, die sich mit der globalen Bedeutung dieser Wirtschaftsansätze befasste. Siehe auch die Überlegungen von Otto Scharmer hier: kosmosjournal.org.