Sich abwenden ist keine Option

Trump postulierte seinen Amtseintritt als ‹Tag der Befreiung›. Da lohnt sich zu klären, was ‹Freiheit› tatsächlich ist und bedeutet. Wie tragen und nutzen wir sie für die Gemeinschaft? Dazu teilt Laura Scappaticci ihre Gedanken aus Amerika mit uns.


Ich war gerade dabei, das Mittagessen für unsere drei Teenager zu kochen, als ich begann, die Amtseinführung zu verfolgen. Ich wollte eigentlich nicht, aber eine SMS von meiner besten Freundin ließ mich einen Nachrichtenlink öffnen und auf meinem Handy zuschauen. In diesem Moment bat Mariann Budde, eine Bischöfin der Episkopalkirche, den neuen Präsidenten, «sich der Menschen in unserem Land zu erbarmen, die jetzt Angst haben». Dann wurde die Nationalhymne gesungen, und meine Zwiebeln brannten an. Ich konnte nicht länger zusehen. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, mitzuerleben, was auf unser Land zukommen würde.

Rudolf Steiner kannte seine Zeit und reagierte auf sie mit einer Vision für die positive Entwicklung der Menschheit. Sich abzuwenden war für ihn keine Option, warum also sollte es für mich eine sein? Mit diesem Gedanken im Hinterkopf beschloss ich, mir ein paar Tage später die dreißigminütige Antrittsrede des Präsidenten doch anzusehen. Als ich nach einer Aufzeichnung suchte, fand ich Videos mit komödiantischen Interpretationen, Kommentaren zu den Outfits der Anwesenden, insbesondere zu einem Hut – Schichten um Schichten an Ablenkung also. Bei einem Link zur vollständigen Rede schließlich musste ich fast alle Nebenübungen Steiners gleichzeitig anwenden, um das durchzustehen. Gleichmut, Positivität und Aufgeschlossenheit halfen mir, zuzuhören und diese vielen Beifallsbekundungen zu verstehen, die Trump erhielt, während er über Ölbohrungen, die Ausweitung unseres Territoriums und das Ende aller Kriege durch die Macht der USA sprach. Ich war in der Lage, meine Antipathie zu kontrollieren, als ich den lautstarken Beifall beobachtete. Meine Achtsamkeitsübungen hielten mich davon ab, auszuschalten, auch wenn sie nicht verhindern konnten, dass sich ein Sorgenschauer durch meinen Körper kräuselte, als Trump sagte, er sei «von Gott gerettet worden, um Amerika wieder groß zu machen».

«In Amerika ist das Unmögliche genau das, was wir am besten können», rief Trump einer jubelnden Menge zu. Mit jedem vergehenden Tag scheinen Gleichmut und Positivität für viele von uns immer unmöglicher zu werden. Ich habe keine Antworten, ich mache mir Sorgen über die kommende Zeit und frage mich, wie die Zukunft meiner Kinder aussehen wird. Natürlich kann ich objektiv darüber nachdenken, denn die Auswirkungen von Trumps Durchführungsverordnungen haben sich noch nicht direkt und persönlich auf mein Leben ausgewirkt. Ich bin keine Einwanderin, die ihre Abschiebung fürchtet. Ich bin nicht transsexuell, und darin verletzlich und verliere mein Recht auf Beschäftigung in bestimmten Branchen somit nicht. Ich arbeite nicht für die Regierung, um mich für Gleichberechtigung, Vielfalt und Inklusion einzusetzen, auch wenn meine Schwester das tut. Sie könnte ihren Job verlieren, wenn dieser Artikel veröffentlicht wird.

Der Trend zum Nationalismus nimmt weltweit zu und spiegelt sich auch auf lokaler Ebene wider. In meinem Wohnort reden die Nachbarn nicht viel miteinander. Die Kinder bleiben in ihren Gärten und spielen. Es gibt keine Straßenfeste, bei denen wir gemeinsam dabei sind. Wir denken hauptsächlich an unsere eigenen Familien und unsere eigenen Bedürfnisse. Menschen aus meinem Bekanntenkreis planen wegzugehen, nach Kanada oder Europa und raten uns das Gleiche.

Trump sagte, dass der 20. Januar 2025, der Tag seiner Amtseinführung, ein ‹Tag der Befreiung› sei. Ich frage mich, wie wahre menschliche Befreiung oder Freiheit aussieht. Sie liegt weder im unterkühlten Vermeiden des Schmerzes, den die Menschen erleben, noch in der brennenden Hitze hasserfüllter Proteste, und auch nicht in der Flucht von dem Ort, den wir Heimat nennen. Sie liegt in etwas anderem. Vielleicht ist sie ein vertieftes Einfühlen in die Anwesenheit oder fehlende Anwesenheit von Herzenskräften in jedem Erlass, in jeder Nachricht und in jeder E-Mail, ein seelisches Bewusstsein, das durch Expertise, Prunk und die Gelehrsamkeit hindurchgeht. Dies könnte zu einer neuen Befreiung von materialistischen Ideologien führen, zu einem Ausbalancieren der geistigen Kräfte, die heute in der Welt wirken. Eine Auferstehung des einander Verstehens, von Mensch zu Mensch, kann dann stattfinden.

Wir werden also bleiben, uns auf die Welt einlassen, wie Steiner es tat. Wir werden mehr Gemeinschaft schaffen, anstatt uns weiter zu isolieren. Wir werden auch der Angst, dem Hass und unseren eigenen Vorurteilen widerstehen, geleitet von diesen Worten Steiners, der in seiner Zeit gelebt und gehandelt hat. «Für ihn [den Geheimschüler] soll es Freude am Entstehen, am Werden geben; und nur dann darf er die Hand bieten zu einer Vernichtung, wenn er auch imstande ist, aus und durch die Vernichtung neues Leben zu fördern. Damit ist nicht gemeint, daß der Geheimschüler zusehen darf, wie das Schlechte überwuchert; aber er soll sogar am Schlechten diejenigen Seiten suchen, durch die er es in ein Gutes wandeln kann.»1


Bild Ella Lapointe, Election 2024

Fußnoten

  1. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1992, S.111.

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