Anfang November 2024 veranstaltete der Zweig am Goetheanum in der Schreinerei ein erstes Kolloquium zu übersinnlicher Wahrnehmung. Mit knapp 200 Teilnehmenden war die innovative und integrative Initiative erfolgreich.
Der Zweigvorstand verwirklichte einen in der Anthroposophischen Gesellschaft überfälligen Impuls, das Phänomen übersinnliche Erfahrung weder zu isolieren noch zu verschweigen, sondern ihm auf dem Podium das Wort zu übergeben. Das Kolloquium wurde über eine längere Zeit mit dem Vorstand und den Referentinnen und Referenten vorbereitet. Entsprechend gut organisiert und inhaltsvoll war auch der Ablauf. Auffallend war die Zurückhaltung der Vorstandsmitglieder des Zweiges selbst, die sich in ihren Voten kurzgefasst haben. Nach einer Eröffnungsansprache von Andreas Heertsch wurde das Wort praktisch ununterbrochen den Podiumsteilnehmenden und dem Publikum übergeben. Zur Einstimmung wurde eine Übung in gemeinsamer Stille durchgeführt. Übereinstimmend zeigten die Wortmeldungen aus dem Publikum: Eine solche verinnerlichte Besinnung kann in einem geschlossenen Raum unmittelbare und nachvollziehbare Wirkungen erzeugen.
Was für Menschen?
Der erste Eindruck vom Podium war überraschend. Jeweils am Vor- und Nachmittag präsentierten zwei Männer und eine Frau die eigene Vergangenheit und den gegenwärtigen Umgang mit übersinnlicher Erfahrung. Fast wie abgesprochen bestiegen die Teilnehmenden das Podium in lockerer Alltagsbekleidung – alter Pullover, ein T-Shirt, Kleider über Kleidern, keine Sonderlinge in Rampenbeleuchtung. Es wurde damit betont: Wir sind Praktiker und sprechen aus der Werkstatt, hier wird gearbeitet und nicht präsentiert. Corinna Gleide, Gunhild von Kries, Frank Burdich, Karsten Massai, Thomas Mayer und Dorian Schmidt kennen einander und stehen regelmäßig in Kontakt. Sie sprechen über ihre Ergebnisse und vergleichen die Resultate. Unter ihnen herrschen Akzeptanz und Respekt, auch dann, wenn die Mitteilungen nicht übereinstimmend sind.
Auch der biografische Verlauf dieser sechs Menschen zeigt Kongruenzen. Der Quellpunkt ihrer Hellsichtigkeit urständet in der Vergangenheit, oftmals durch eine Erfahrung, deren Stärke überragend war und die sich in dieser Intensität nicht wiederholte. Sie gab jedoch Anlass, die Selbstentwicklung, die aus Richtlinien von Rudolf Steiner stammt, konsequent weiterzuverfolgen. Prägnant waren die Erzählungen der Eingeladenen, die bis zum ‹Einbruch der Hellsichtigkeit› eine rein materialistische Weltanschauung in sich trugen. Das Periodensystem und molekulare Bindungen, die die Welt zusammenhalten, waren der Inhalt ihres Alltags. Ein eindringendes parasinnliches Erleben änderte alles und führte zum Schulungsweg.
In Reichweite von allen
Zu den von Rudolf Steiner meistgelesenen Sätzen gehört dieser: «Es schlummern in jedem Menschen Fähigkeiten, durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann.» Referentinnen und Referenten wiederholten am Podium: Erfahrungen sind für alle zugänglich, sofern die Aufmerksamkeit dafür geschult wird. Hierin liegt die unübersehbare Polemik, die vielleicht auf einem Folgekolloquium erst besprochen werden kann. Der erste Satz aus Rudolf Steiners ‹Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?› führt zu einem Schwellenerlebnis und einer Begegnung mit dem Hüter der Schwelle. Rudolf Steiner skizzierte selten einen sanften Weg, der zum Schauen von Elementarwesen, der ätherischen Welt, von aurischen Erscheinungen an Menschen und Natur führt. Andeutungen davon mögen im Vortragswerk vorhanden sein, diese fehlen jedoch in seinen zu Lebzeiten veröffentlichten Werken und in den vier Mysteriendramen. So waren die ermutigenden Voten vom Podium durchaus erfrischend und auch potent, aber es bleibt verborgen, ob das in dieser Form auf jeden Menschen übertragbar sein könnte.
Übungen auf praktischem Feld
Die sechs Gruppen mit rund 30 Teilnehmenden am Vor- und Nachmittag waren ein zentraler Bestandteil des Kolloquiums. Hier trat die Werkstatt nochmals deutlich in den Vordergrund. Es wurde weder diskutiert noch theoretisiert, sondern praktiziert. Erfahrungen wurden im Anschluss ausgetauscht. Ein schriftlicher Rückblick kann den intimen Ergebnissen und Wortmeldungen nicht gebührend Rechnung tragen. Dennoch waren wir uns überwiegend einig, dass Phänomene im Raum wirksam waren, ob es sich um ein Heranholen von Verstorbenen oder von positiven und negativen Energien handelte, die wir in Fremdobjekte schickten, um diese wiederum in denselben Objekten zu erkennen. Die schüchterne, aber durchaus bedeutende Wortmeldung einer Teilnehmerin, die nicht mit Sicherheit unterscheiden konnte, was nun aus der Erinnerung steigt und was tatsächlich übersinnliche Erfahrung ist, bleibt außen vor.
Dank an den Goetheanum-Zweig
Seit Jahren wird über übersinnliche Erfahrung in Sekundärliteratur geschrieben und sie wird in Vorträgen und Seminaren behandelt. Umstritten war immer, ob diese Mitteilungen einen Platz neben dem Werk von Rudolf Steiner haben. Der Vorstand des Goetheanum-Zweiges hat mit dieser Veranstaltung das Eis gebrochen und mit dem ersten Kolloquium die Stoßrichtung klar dokumentiert. Kontrovers bleibt jedoch die Thematik. Ob die Vorstandsmitglieder der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft stille Zuschauende sind oder sich aktiv in die Diskussion einbringen werden, bleibt abzuwarten.