Michaela Glöckler hat für die Herausgabe von Rudolf Steiners Buch ‹Grundlegendes zur Erweiterung der Heilkunst› in der ‹Kritischen Ausgabe (SKA)› das Vorwort geschrieben. Hier beschreibt sie zehn Besonderheiten dieses Werks.
Die von Rudolf Steiner über 40 Jahre entwickelte anthroposophische Geisteswissenschaft hat nicht nur Forscher, Künstlerinnen und sozial engagierte Menschen bis heute inspiriert. Sie hat bereits zu seiner Lebenszeit auch heftige Kontroversen hervorgerufen, bis zu massiver Gegnerschaft. Der Herausgeber von ‹Rudolf Steiner, Schriften – Kritische Ausgabe (SKA)›, Christian Clement, charakterisiert dies so:
«Die Tatsache, dass die periodisch aufflammende öffentliche Debatte über Steiner und die Anthroposophie, die oft sehr kontrovers und polemisch geführt wird, sich in der Regel an vereinzelten Äußerungen aus dem internen Vortragswerk entzündet, während Steiners Hauptschriften als solche außer in anthroposophischen Kreisen kaum irgendwo rezipiert werden, ist aus Sicht des Herausgebers ein Hauptgrund dafür, dass sein Konzept von Geisteswissenschaft für die meisten Zeitgenossen bis heute eine zwar hoch umstrittene, in der Substanz aber weitgehend unverstandene und daher rätselhafte geistige Schöpfung geblieben ist. Wer sich hingegen bemüht, Steiner von seinem eigenen Selbstverständnis her zu verstehen, für den kann Anthroposophie als durchaus einsichtiger und nachvollziehbarer Ausdruck einer reichen und weit in die Vergangenheit zurückreichenden Strömung im abendländischen Geistesleben verstanden werden, in die ein Platon und ein Paracelsus genauso gehören wie ein Böhme und ein Schelling.»
Mir scheint es wichtig, dass wir uns als Repräsentierende der Anthroposophie in diesem Spannungsfeld akademischer Diskurse sachdienlich behaupten lernen. So habe ich die Anfrage des Herausgebers und der Leitung der Medizinischen Sektion angenommen, die Einleitung zu ‹Grundlegendes …› im Rahmen der SKA zu schreiben, im Bemühen, dieses Werk im Kontext der heutigen Schulmedizin zugänglicher zu machen.
Bei der Arbeit sind mir Besonderheiten dieses Werkes bewusst geworden: Schon die Art, wie das Buch zustande kam, ist in Steiners Werk einzigartig: «Ich werde mit Frau Dr. Wegman ein medizinisches Buch schreiben», so Steiner am Dienstagabend, dem 2. Oktober 1923, in Wien während eines geselligen Abends zu einem langjährigen Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft. Die in unmittelbarer Nähe mit anderen Freunden im Gespräch stehende und damit benannte Co-Autorin Wegman berichtete später, dass sie von diesem Entschluss Steiners tatsächlich erst in diesem Augenblick Kenntnis bekommen habe. Sie kannte allerdings die vorausgegangenen vergeblichen Bemühungen Steiners, unter den bereits praktizierenden Ärzten einen Autor für ein ‹Vademecum› der Anthroposophischen Medizin zu finden.
Am Montagmorgen, dem 30. März 1925, starb Rudolf Steiner. Zwei Tage zuvor hatte er Wegman noch mit Freude das fertig korrigierte Fahnenmanuskript übergeben können, an dem er bis zuletzt gearbeitet hatte. Er hatte sich die Druckfahnen in zweifacher Ausführung kommen lassen. Nach Korrektur der ersten Fahne entschied er sich, noch ein einleitendes Kapitel zu schreiben, und nummerierte in der zweiten Fahne die bisherigen 19 Kapitel in nun 20 Kapitel um. Dabei las er das ganze nochmals durch und ergänzte weitere Korrekturen – ohne jedoch eine einzige substanzielle Korrektur doppelt zu machen. Er hatte genau vor sich, was er beim ersten Durchgang schon verbessert hatte. Da die Festlegung des Titels noch nicht erfolgt war, beauftragte Wegman ihre Kollegin und enge Mitarbeiterin Hilma Walter (1893–1976) nicht nur damit, die Drucklegung dieses Werkes zu besorgen, sondern auch den passenden Titel zu formulieren. So erschien dann im September 1925 ‹Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen›.
Zur den Besonderheiten des ‹Grundlegenden› im Werk Rudolf Steiners
1. Die Schrift ist das einzige Buch, das Steiner in Co-Autorenschaft geschrieben hat. Die eineinhalb Jahre, in denen das Manuskript entstanden ist, waren wohl die arbeitsreichsten in seinem Leben. Dennoch fand sich immer wieder Zeit, dieses Vorhaben weiterzuverfolgen, vor Ort in Dornach und im Kontext von Steiners Vortragsreisen, auf denen ihn die Co-Autorin Ita Wegman wo immer möglich begleitete.
2. Das Buch gehört zu den in der Öffentlichkeit am wenigsten wahrgenommenen Werken Steiners. Nur der holländische Arzt und Kollege Wegmans, Zeylmans van Emmichoven, hatte eine Besprechung verfasst.
3. Der Text ist formelhaft knapp verfasst. Es handelt sich um einen stringent aufgebauten methodischen Zugang zur Anthroposophischen Medizin. Das heißt, beim Studium der 20 Kapitel wird man angeregt, denken zu lernen, was sich im Gesundheits-/Krankheitskontinuum des menschlichen Organismus abspielt. Erläuternde Beispiele oder belegende Fakten sind auf ein Minimum beschränkt. Es handelt sich vielmehr um eine zeitunabhängige, reine Methodenbeschreibung, die je nachdem, wann und wo sie rezipiert wird, der Kontextualisierung in den jeweils aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft/Schulmedizin bedarf.

4. ‹Klassische Merkmale› der anthroposophischen Weltanschauung finden in der Darstellung kaum Erwähnung: weder die Gesetzmäßigkeiten von Reinkarnation und Karma noch Bezugnahmen auf das nachtodliche und vorgeburtliche Leben oder die zentrale Stellung des ‹Mysteriums von Golgatha›. Man gewinnt beim Lesen allerdings den Eindruck, dass es das gebündelte Wissen dieser Welt braucht, um den Menschen in seinem täglich neu gegebenen Spannungsfeld gesundender und kränkender Prozesse zu verstehen.
5. Steiner hat nur bezüglich dieses Werkes den Ausdruck ‹System› verwendet. Auf der Weihnachtstagung nennt er es «jenes ganz aus der Anthroposophie herauskommende medizinische System, das die Menschheit braucht». Auf die Frage aber, welches neue Paradigma damit in die Medizingeschichte hereinkommt, ergibt sich die mögliche Antwort: Es ist dies das Menschenbild der Anthroposophie, welches sich im Verlauf der 20 Kapitel in einmaliger Weise entfaltet. Im Sinne Thomas S. Kuhns (1922–1996) kann es als eine notwendige ‹Grundannahme› aufgefasst werden, die zu dem von vielen Menschen ersehnten Paradigmenwechsel in der Medizin beitragen kann.
6. Das Buch ist so aufgebaut, dass sich die einzelnen Kapitel gegenseitig beleuchten und jedes der Kapitel seinerseits auch unabhängig vom Kontext ‹für sich› verständlich ist. Es ist aufgebaut wie ein Organismus, in dem die einzelnen Kapitel jeweils wie ein erkenntnisstiftendes Organ eines Gesamtorganismus erscheinen.
7. Das Buch will eine Hindeutung sein auf eine neue medizinische Anschauung. Im Regelstudium der akademischen Medizin gilt es, eine Fülle von Fakten zu lernen bzw. ‹zu wissen›. Die ordnenden Gesichtspunkte der anthroposophischen Menschenkunde können für die neue Anschauung wegweisend sein.
8. Es ist ein stringent aufgebautes Meditationsbuch für ein bestimmtes Fachgebiet. Die anthroposophische Meditation nimmt ihren Ausgangspunkt beim Denken. Es wird nichts empfohlen, was man sich im Einzelnen mit Bezug auf Sinnhaftigkeit und Wirkensweise nicht zuvor gedanklich klargemacht hat. Den jungen Ärzten gab Steiner auf die Frage, was Meditieren sei, zur Antwort: das medizinische «Wissen in Andacht verwandeln». Es geht um ein tieferes Erkennen bzw. Erleben, von dem der ‹Wissensaspekt› der Ausgangspunkt ist.
9. Es werden die Grundlagen einer christlichen Mysterienmedizin beschrieben. Bereits die Überschrift des ersten Kapitels lässt dies anklingen, indem da von «wahrer Menschenwesen-Erkenntnis» die Rede ist, was dem Sprachgebrauch der alten Mysterien entspricht. Jeder Kranke erwartet vom Arzt, dass dieser die Ursache seines Problems durchschaut und die notwendigen Maßnahmen einleitet. Es geht bei diesem Erkenntnisringen im tiefsten Sinn um ‹wahre Menschenwesens-Erkenntnis›, um das Ecce-Homo. Daher kann ein japanischer Shintu-Priester sich in seiner spirituellen und wissenschaftlichen Praxis ebenso von dem anthroposophischen Erkenntnisweg anregen und bereichern lassen wie ein buddhistischer Mönch, ein Brahmane oder ein Angehöriger des jüdischen oder muslimischen Glaubens oder ein materialistischer Naturwissenschaftler. Christliche Spiritualität so verstanden, ist zugleich allgemeinmenschliche Spiritualität – so wird sie im ‹Grundlegenden› skizziert. Dazu gehört auch das in Kapitel I geschilderte Substanzverständnis in seinem christlichen Charakter: die Substanz dient im mineralischen Zustand allen Todesprozessen, in der Pflanzenwelt den Lebensprozessen, in der tierischen Natur allen seelischen Äußerungen und der Bewegungsfähigkeit. Im Menschen aber wird sie «Geist tragend».1
10. Es handelt sich um eine Art Zusammenfassung von Steiners Lebenswerk. Alles, was er geschrieben und getan hat, stand und steht im Dienst einer umfassenden Kulturtherapie – durch Überwindung des Egoismus, der alle Lebensbereiche durchzieht. Es erscheint stimmig, dass Steiners letztes Werk einem umfassenden Ausblick auf eine Humanmedizin der Zukunft gewidmet ist, in der sich die Erkenntnisse der empirischen Forschung mit denen der anthroposophischen Geistesforschung zur ‹Heilkunst› verbinden können – einem geschwisterlich-selbstlosen Dienst am Wohl von Mensch, Menschheit und Erde.
Buch Rudolf Steiner, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, SKA 15, frommann-holzboog, Stuttgart 2025.
Illustration Fabian Roschka
Fußnoten
- In der Schrift ‹Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit› – präzisiert Steiner diesen Aspekt auch im Hinblick auf die Entwicklung der Substanzialität der Erde:
«Künftig werden Chemiker und Physiker kommen, welche Chemie und Physik nicht so lehren, wie man sie heute lehrt […] sondern welche lehren werden: ‹Die Materie ist aufgebaut in dem Sinne, wie der Christus sie nach und nach angeordnet hat!› – Man wird den Christus bis in die Gesetze der Chemie und Physik hinein finden. Eine spirituelle Chemie, eine spirituelle Physik ist das, was in der Zukunft kommen wird.»








