Evolution im Doppelstrom der Zeit

Wenn ein Autor ein Sachbuch gründlich überarbeitet und mit Ergänzungen neu herausbringt, zeigt es zweierlei: Das Thema liegt ihm am Herzen und seine Forschungsergebnisse sind in einer Evolution begriffen.


Wer sich auf die Entdeckungsreise einlässt, zu der dieser ‹Reiseführer› einlädt, wird reichlich beschenkt. Es sei aber gleich gesagt: Es ist kein Buch, das bloß Interessantes, Wissenswertes vermittelt, das man sich lesend aneignet und dessen Information man im besten Fall im Gedächtnis aufbewahrt. Es handelt sich vielmehr um eine Handreichung, um selbst aktiv zu werden. Das lässt einen nicht unverändert zurück, sondern im Gegenteil: Innere Kräfte werden geweckt, das Denken mobil gemacht und wir werden zur Verantwortung aufgerufen. Die Stellung und Aufgabe des Menschen in der Weltentwicklung werden sinnstiftend und gesteigerte innere Kohärenz bewirkend erfahrbar gemacht.

Wer im Studium selbst erlebt hat, welche seelische Lähmung von der akademischen neodarwinistischen Evolutionstheorie und Anthropologie ausgeht, kann Huecks Anliegen gut nachvollziehen. Er formuliert, an Charles Darwin anschließend, sich vorzukommen wie ein Mensch, der farbenblind geworden war: «Hier wird deutlich ausgesprochen, wie die materialistische Auffassung das Verhältnis des Menschen zur Natur in gewisser Weise verödet und auch auf sein Selbstverständnis zurückwirkt. Solange in der Natur etwas Sinnvolles oder sogar Göttliches geahnt und empfunden wird, erhebt dieser Sinn den Menschen zur Gewissheit eines auch in ihm waltenden höheren Prinzips. Werden in der äußeren Natur nur tote, mechanische und materielle Dinge gesehen, dann erlischt auch die Flamme des geistigen Selbstbewusstseins. Vielleicht lässt sich also etwas Sinnvolles und Geistiges in der Natur (wieder)finden, wenn der Mensch in sich etwas Geistiges entdeckt, etwas, das sich selbst trägt und erklärt und gleichsam aus sich heraus leuchtet.»1

Neue Evolutionstheorie

Das schmälert nicht die Anerkennung der Leistung Charles Darwins, der den Entwicklungsgedanken in die Biologie, die Wissenschaft des Lebens, aufgrund seiner vielen Beobachtungen eingeführt hat. Aber die wesentliche Frage nach der Entstehung des Lebens auf Erden und der überreichen Vielfalt der Organismen bedarf zu ihrer Beantwortung eines Denkens, das selber lebendig ist und das das Leben als solches innerlich nachvollziehend erkennen lernt, so Hueck. Sein Ausgangspunkt ist deutlich: «Die Selbstbeobachtung des Erkennens und die Berücksichtigung des erkennenden ‹Ich› sind unhintergehbare Voraussetzungen einer tragfähigen Evolutionserkenntnis.» Gerade dieses haben die gängigen Wissenschaften im Laufe der vergangenen Jahrhunderte um der Objektivität willen auszuschließen versucht. Das hat aber inzwischen die Lebewesen, mit denen wir die Erde teilen, unsere Umwelt und zunehmend die Menschen selber zu Objekten gemacht. Der Erfolg der angewandten Wissenschaften und der Technologie schlägt in sein Gegenteil um, wenn nicht der Mensch als erkennendes, fühlendes und handelndes Wesen von Anfang an berücksichtigt wird. Das gilt auch für eine «notwendige neue Evolutionstheorie». Damit wird auch eine Forderung erfüllt, die von Thomas Nagel in seinem zeitgleich mit der ersten Ausgabe von ‹Die Evolution im Doppelstrom der Zeit› erschienenen Buch ‹Geist und Kosmos – Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist› (deutsche Übersetzung 2012) gestellt wurde: Der Mensch als wahrnehmendes und erkennendes Wesen und das Erkennen als solches sollten nicht fehlen. Das hatte schon Rudolf Steiner 1921 (GA 338, 15.2.1921, S. 114) als Ziel einer modernen Geisteswissenschaft ausgesprochen: «Es wird im Kosmos überhaupt nichts betrachtet, ohne dass man gleich den Menschen darinnen hat: Es bekommt alles nur dadurch Sinn und zugleich Erkenntnisboden, dass man es in Bezug auf den Menschen betrachtet. Nirgends wird der Mensch ausgeschlossen. Die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft führt unsere Weltbetrachtung wiederum zu einer Betrachtung des menschlichen Wesens zurück.»

Erkenntnisvorgänge

Der Mensch ist der Erkennende, deswegen sollte auch der Erkenntnisvorgang selbst genauestens unter die Lupe genommen werden. Anhand von Goethes ‹Metamorphose der Pflanzen› baut Hueck schrittweise und gut nachvollziehbar auf – das Denken wird dadurch lebendig, dass es das Leben beobachtend denken lernt, und nur so macht es sich fähig, Gestaltung und Entwicklung innerlich nachvollziehend zu verstehen. «Wenn das Ich so in Farben und Formen, in die Bewegungen, Lebenserscheinungen und Seelenäußerungen der Weltwesen eintaucht, sie in sich nachschafft, dann enthüllen sie ihm ihre seelischen und geistigen Eigenschaften.»

Einen zentralen Platz nimmt das Zeitkreuz ein (vom Autor immer großgeschrieben), das von Rudolf Steiner angedeutet und von Christoph Hueck in mehreren Metamorphosen angewendet wird: auf das Verständnis des Lebens in Entwicklung, auf den einzelnen Organismus, auf Zellfunktion und Erkenntnisvorgang. Die Zeit verläuft nicht nur von der Vergangenheit in die Zukunft, sondern es gibt auch einen gegenläufigen Zeitstrom, der von der Zukunft, von der Finalität, in die Gegenwart hineinströmt. Das kennen wir von unseren menschlichen Zielsetzungen, aber auch die Entwicklung von Organismen ist so zu begreifen – ihre Organe, Teile, Zellen, Chromosomen und Gene haben nur einen Sinn innerhalb der Gesamtheit, des ‹Typus›. Zwischen Vergangenheit (Vorfahren/Keim/Anlage = Abstammung) und Zukunft (potenzielles Entwicklungsziel), als horizontaler Doppelstrom dargestellt, und der vertikalen Polarität Autonomie (Art) und Anpassung (Umwelt) entwickelt sich der Organismus, sowohl ontogenetisch und phylogenetisch.

Der Affe stammt vom Menschen ab

In Bezug auf die Tierwelt wird sehr anschaulich dargestellt, auch anhand von embryologischen und phylogenetischen Evolutionsreihen, dass diese nur vom Typus ‹Mensch› her entwicklungsbiologisch zu verstehen sind. Das heißt, nicht der Mensch stammt von den niederen Tieren ab, sondern er ist als ‹Archetypus› von vornherein da und die einzelnen Tiere sind eher als frühzeitig spezialisierte Gestaltungen abgezweigt vom Stammbaum. Diese von Rudolf Steiner und anderen formulierte Evolutionslehre wird von Hueck erkenntnistheoretisch und mit vielfältigem Tatsachenmaterial wissenschaftlich nachvollziehbar begründet. Sich diese Einsichten selber zu eigen zu machen, ist äußerst fruchtbar. Die Welt sieht nachher anders aus. Ein Erkenntnisweg tut sich auf, der einen tief im Untergrund der Seele rumorenden Konflikt zwischen der modernen Wissenschaft, auch in der popularisierten Form (Stichworte: Urknall, blinder Zufall, Kampf ums Dasein), und dem Schöpfungsmythos löst. «Der Materialismus (Neo-Darwinismus) weiß nicht, warum, der Kreationismus weiß nicht, wie die Organismen entstanden sind», so Hueck. Salopp gesagt, zwischen der Vorstellung, dass der Mensch vom Affen abstammt, und dem Glauben, ein göttlicher Schöpfer hat einfach alles fertig erschaffen, tut sich hier die Perspektive einer schöpferischen Evolution auf, deren Teil der Mensch nicht nur ist, sondern die er auch erkennen und fortführen kann, denn dem wachsenden Bewusstsein sind keine Grenzen gesetzt.

Die heutige Zeitlage braucht mehr denn je eine spirituelle Anthropologie, die Herkunft, Wesen und Zukunft des Menschen mit Leben und Sinn erfüllt. Dazu liefert Christoph Huecks Buch einen wesentlichen Beitrag. Man möchte es nicht nur wissenschaftlich Interessierten und Pädagoginnen und Pädagogen ans Herz legen, sondern allen, die sich danach sehnen, ihr Menschsein zu begreifen und weiterzuentwickeln.


Buch Christoph Hueck, Die Evolution im Doppelstrom der Zeit – Morphologie des organischen Erkennens. Akanthos Akademie Edition, Stuttgart 2023

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Footnotes

  1. Alle Zitate aus: Christoph Hueck, Die Evolution im Doppelstrom der Zeit – Morphologie des organischen Erkennens. Akanthos Akademie Edition, Stuttgart 2023
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